EWR 20 (2021), Nr. 4 (Juli/August)

Jörn-Michael Goll
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und das NS-Erbe
Mit einem Vorwort von Marlis Tepe
(BeitrÀge zur Geschichte der GEW)
Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2021
(420 S.; ISBN 978-3-7799-6485-8; 39,95 EUR)
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und das NS-Erbe Nachdem sich der Staub der 2010er Jahre gelegt hat, schlĂ€gt nun die Stunde der Historiker:innen. 2016 sorgten bereits lĂ€nger im Raum stehende VorwĂŒrfe von Saskia MĂŒller und Benjamin Ortmeyer sowie von Studierendengruppen innerhalb der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) dafĂŒr, dass die Rolle des GEW-GrĂŒndungvorsitzenden Max Traeger und dessen TĂ€tigkeit in den Jahren von 1933 bis 1945 öffentlich kontrovers diskutiert wurden.[1] Nun liegt mit der Monografie von Jörn-Michael Goll ein Ergebnis der Projekte vor, die der GEW-Hauptvorstand in Reaktion auf die Debatte initialisierte. Diese gewerkschaftsinterne Diskussion reiht sich ein in die in der Geschichtswissenschaft mittlerweile seit rund zehn Jahren florierende Behördenforschung, die damit auch die Geschichte der Gewerkschaften erreicht hat. Die Arbeit Golls steht in diesen beiden Kontexten, die unterschiedliche Erwartungen an die Studie herantragen: eine möglichst schonungslose Aufarbeitung einerseits, eine methodisch-theoretische Reflexion andererseits.

Dem Aufarbeitungsauftrag kommt Goll durch ein breites Studiendesign nach. Sein Ansatz, eine „ausfĂŒhrliche und genaue Bestimmung der Rahmenbedingungen, unter denen die verschiedenen Akteure ihre Entscheidungen trafen und handelten“ (12) zu leisten, mĂŒndet in eine umfassende Geschichte der Lehrer und Lehrerinnen, ihrer Arbeitswelt und Organisationen seit dem Ende des Ersten Weltkriegs bis etwa 1980. Der Schwerpunkt der Studie liegt auf der Zeit des Nationalsozialismus und auf der unmittelbaren Nachkriegszeit, die ausfĂŒhrlich kontextualisiert und mit Blick auf das Handlungsrepertoire von Lehrerinnen und Lehrern dargestellt werden. FĂŒr die Weimarer Republik konstatiert Goll, dass die Deprivation der Volkschullehrerschaft, insbesondere der Junglehrer, eine strukturelle und opportunistische AnnĂ€herung an den Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) befördert habe. Mit Blick auf den Nationalsozialismus argumentiert Goll dann, dass die hohen Mitgliedszahlen in nationalsozialistischen Organisationen innerhalb des Lehrpersonals nicht als „restlose[] Verinnerlichung nationalsozialistischer Überzeugungen“ (89) gewertet werden mĂŒssen, sondern eine große Bandbreite von Haltungen verbergen wĂŒrden. Goll sieht vor allem „opportunistische Motive“ (104) am Werk, die allerdings rasch durch eine dysfunktionale und schulfeindliche Bildungspolitik der nationalsozialistischen Regierung enttĂ€uscht worden seien. Einem einfachen Urteil, ob die Lehrerinnen- und Lehrerschaft „nationalsozialistischer“ war als andere Gruppen, enthĂ€lt sich Goll wohlweislich und konzentriert sich stattdessen auf die sozialen, rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen des Schulalltags von 1933 bis 1945.

In der Nachkriegszeit wiederum sei die Entnazifizierung der Schulen wie der Gesellschaft insgesamt nur schleppend und zögerlich erfolgt – mit tatkrĂ€ftiger UnterstĂŒtzung der GEW, wie Goll an einer eindrĂŒcklichen Mikrostudie zum Verband Badischer Lehrer und Lehrerinnen zeigen kann. Dieser Mitgliedsverband ließ auch ehemaligen hauptamtlichen NSDAP-Kreisleitern seine UnterstĂŒtzung angedeihen (272–275). Mit Blick auf die NeugrĂŒndung der Lehrerinnen- und LehrerverbĂ€nde fĂŒhrt Goll einen auf das AlltagsgeschĂ€ft fokussierten Pragmatismus, ein Interesse an der Restitution der Vermögenswerte der nach 1933 im NSLB aufgegangenen VerbĂ€nde sowie ein Selbstbild als Opfer des Nationalsozialismus an. Diese Faktoren begĂŒnstigten eine GrĂŒndungsphase, in der keinerlei Raum fĂŒr eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus blieb und nicht gesucht wurde. Auch in der Geschichte der Vergangenheitspolitik der Bundesrepublik spielte die GEW keine herausragende Rolle, selbst fĂŒr die ikonische ZĂ€sur 1968 spricht Goll von „evolutionĂ€ren Anpassungsprozessen“ (378, 386) statt von einer Revolution der Erinnerungskultur der Gewerkschaft. Selbst die BemĂŒhungen der GEW um eine Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, die der Autor etwa anhand der Schulbuchdiskussionen um Georg Eckert oder an den Beziehungen der GEW zur israelischen Lehrergewerkschaft illustriert, schlossen laut Goll keine Reflexion der Rolle der Lehrerinnen und Lehrer oder ihrer VerbĂ€nde ein.

Die am Anfang der Auseinandersetzung stehende Frage, ob Max Traeger nun ein „Nazi“ war oder nicht, wird angesichts von Golls ausfĂŒhrlicher Darstellung in ihrer UnterkomplexitĂ€t offenbar. Den Weg zu einer politischen Auseinandersetzung um die Vergangenheit ebnet Goll beispielhaft, indem er die zeitgenössischen Rahmenbedingungen und HandlungsspielrĂ€ume akribisch auslotet. Angesichts dieser imposanten Vogelperspektive bleibt es nebensĂ€chlich, dass stellenweise mehr Tiefenbohrungen und Mikrostudien die Studie sinnvoll hĂ€tten ergĂ€nzen können, etwa um die Wirkung der NS-Schulpolitik im Alltag nicht nur durch Mutmaßungen („sehr wahrscheinlich“, „ist zu erwarten“, „vorstellbar“, 107) zu erfassen.

ErfĂŒllt die Studie Golls den Aufarbeitungsauftrag also in jeder Hinsicht, lassen sich mit Blick auf die methodisch-theoretische Reflexion zwei EinwĂ€nde erheben: Zum einen droht Golls Argumentation stellenweise in eine erinnerungspolitische Teleologie abzugleiten. Wenn er abschließend danach fragt, wann ein „nachhaltiger Bewusstseinswandel“ (386) innerhalb der GEW einsetzte, wird deutlich, dass die Arbeit aus zwei Teilen besteht, die nur bedingt zueinanderpassen: Wird Goll in der ersten HĂ€lfte fĂŒr die Zeit bis 1945 seinem Anspruch eines rigorosen Kontextualismus gerecht, lĂ€sst die Studie diese Einordnung fĂŒr die Erinnerungsgeschichte – von einem knappen Kontextkapitel abgesehen – vermissen. Ebenso drĂ€ngt sich die Frage auf, woran die GEW erinnerte, wenn sie den Nationalsozialismus vermied: Wie sah die Morphologie der gewerkschaftlichen Erinnerungslandschaft nach 1945 aus? Welche TraditionsbestĂ€nde, welche Rituale bildeten sich heraus oder bestanden fort? Welche Rolle spielte die NS-Vergangenheit als Ressource und Argument, etwa in der Auseinandersetzung um die „Radikalenerlasse“? Analog zu Golls Vorgehen fĂŒr die Zeit bis 1945 wĂ€ren Antworten auf diese Fragen fĂŒr die Bundesrepublik begrĂŒĂŸenswert gewesen. Zum anderen wĂŒnschte man sich eine stĂ€rkere Reflexion ĂŒber das VerhĂ€ltnis von Gewerkschaftsgeschichte und Aufarbeitungsforschung. Goll bezeichnet seine Arbeit zu Recht als „‚Pionierstudie‘“ (16) fĂŒr die Gewerkschaftsgeschichte, verzichtet aber im Laufe der Studie auf Seitenblicke auf andere Gewerkschaften beziehungsweise den Deutschen Gewerkschaftsbund und deren Umgang mit der NS-Vergangenheit. Ebenso regt die Untersuchung zu einer stĂ€rkeren methodischen Reflexion ĂŒber die Bedeutung von Vergangenheitspolitik im Allgemeinen und der nationalsozialistischen Vergangenheit im Besonderen fĂŒr eine Organisation an, deren Mitgliedschaft freiwillig ist und die auf Selbstmobilisierung beruht: Gewerkschaften funktionieren anders als Behörden. Sie tragen bei jeder Entscheidung und in jedem Konflikt das LegitimitĂ€tsproblem der Gewerkschaftsspitzen mit sich. Die Vergangenheit ist dabei auch in ihrer Abwesenheit immer prĂ€sent.

Golls hat eine Studie vorgelegt, die mehr ist als eine Organisationsgeschichte der Lehrerinnen- und Lehrerschaft. Insbesondere fĂŒr die luzide Darstellung der Rahmenbedingungen von Schule von der Weimarer Republik bis in die Nachkriegszeit sei die Arbeit auch einer breiten Leser:innenschaft empfohlen. Außerdem liefert Goll wertvolle Impulse fĂŒr weitere Untersuchungen zur Geschichtskultur der GEW beziehungsweise der Gewerkschaften insgesamt.

[1] Vgl. Saskia MĂŒller/Benjamin Ortmeyer: Die ideologische Ausrichtung der LehrkrĂ€fte 1933–1945. Herrenmenschentum, Rassismus und Judenfeindschaft im Nationalsozialistischen Lehrerbund. Eine dokumentarische Analyse des Zentralorgans des NSLB, Weinheim u. a.: Beltz Juventa 2016. Vgl. als Überblick Knud Andresen/Axel Schildt: Geschichte und Bewertung, in: Erziehung & Wissenschaft (2018), 4, S. 41–43 sowie als weiteres Ergebnis der Debatte z. B. Alexandra Jaeger: Abgrenzungen und AusschlĂŒsse. Die UnvereinbarkeitsbeschlĂŒsse der GEW Hamburg in den 1970er Jahren, Weinheim u. a.: Beltz Juventa 2020.
Jan Kellershohn (Halle/Saale)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jan Kellershohn: Rezension von: Goll, Jörn-Michael: Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und das NS-Erbe, Mit einem Vorwort von Marlis Tepe (BeitrĂ€ge zur Geschichte der GEW). Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2021. In: EWR 20 (2021), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2021), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377996485.html