EWR 6 (2007), Nr. 1 (Januar/Februar 2007)

Dagmar Hänsel
Die NS-Zeit als Gewinn fĂĽr Hilfsschullehrer
Bad Heilbrunn: Verlag Klinkhardt 2006
(253 S.; ISBN 978-3-7815-1491-9; 19,50 EUR)
Die NS-Zeit als Gewinn für Hilfsschullehrer Mit dem Titel „Die NS-Zeit als Gewinn für Hilfsschullehrer“ ist die zentrale These von Dagmar Hänsels jüngster Veröffentlichung zur Geschichte der Sonderpädagogik einprägsam benannt. An drei Eckpunkten macht die Verfasserin diesen „Gewinn“ fest: Erstens habe die nationalsozialistische Zeit entscheidend zur Modernisierung der Hilfsschule, zu ihrer Vereinheitlichung und Verselbständigung als Sonderschule beigetragen. Zweitens fielen in die Zeit zwischen 1933 bis 1945 wichtige Entwicklungsschritte, die schließlich nach 1945 in die Festschreibung einer eigenständigen Sonderschullehrerausbildung mündeten. Als dritten Punkt schließlich führt Hänsel einen „moralischen Gewinn durch Geschichtsschreibung“ (145) an. Gemeint ist, dass die nationalsozialistische Zeit der Hilfsschullehrerschaft im Nachhinein eine Möglichkeit eröffnete, sich qua Geschichtsschreibung (nach Hänsel unrechtmäßig) als Retter und Helfer der Behinderten zu stilisieren und damit die Notwendigkeit ihrer Existenz eindrucksvoll zu untermauern. Diese drei Aspekte strukturieren die etwa 150 Seiten umfassende Studie, der ein Anhang mit einigen historischen Dokumenten folgt.

Zunächst weist die Autorin in der Einleitung ihr historisches Erkenntnisinteresse als gegenwartsbezogenes sowie enge Disziplingrenzen überschreitendes aus: die Auseinandersetzung helfe, „das bestehende sonderpädagogische System in Deutschland, das durch institutionelle, professionelle und disziplinäre Schließung gekennzeichnet ist und das im Kern ein Hilfsschulsystem darstellt, in seinem Gewordensein und in seiner Beziehung zum allgemeinen Bildungssystem zu verstehen sowie den Blick der Schultheorie und der bildungshistorischen Forschung zu erweitern“ (12).

Der Beginn des ersten Kapitels trägt diesem Anliegen Rechnung. Hänsel zieht ein kritisches Resümee zur Entwicklung und Existenz der Hilfsschule als einer Schulform, die sie als Endpunkt eines Systems sozialer Benachteiligung begreift, das keinesfalls eine sinnvolle Nothilfe für ansonsten nicht optimal förderbare Kinder darstellt. Da jedoch die Akzeptanz der Institution mit genau diesem Argument einer notwendigen Nothilfe stehe und falle, sei es „an der Zeit, dass die Auseinandersetzung mit der Hilfsschule nicht ausschließlich jenen überlassen bleibt, die nicht zuletzt durch Geschichtsschreibung die Notwendigkeit der Hilfsschule zu erweisen und […] sie zu legitimieren suchen“ (22). Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht dann der Nachweis, dass es keinerlei konkrete Belege für die behauptete „Existenzbedrohung“ der Hilfsschule durch den Nationalsozialismus gebe. Allerdings habe der „Mythos“ von der Existenzbedrohung die Funktion gehabt, den Blick von der Verstrickung der Hilfsschullehrerschaft in die NS-Verbrechen abzulenken sowie dieselben selbst in die Opferrolle zu versetzen.

Wie verfehlt eine solche Auffassung ist, sucht Hänsel in den anschließenden Kapiteln zu belegen, in denen sie die strukturelle Weiterentwicklung der Hilfsschule während des Nationalsozialismus skizziert. Dabei wird deutlich, dass die Hilfsschule insbesondere durch die Übernahme der so genannten „Sammelbecken-Funktion“ für die Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) mit den nationalsozialistischen Zielen konform ging. An vielen Beispielen sucht Hänsel zu zeigen, dass der Schulform deshalb im Dritten Reich eine weitere Profilierung sowie Vereinheitlichung und Verselbständigung als Sonderschule gelang.

Das zweite Kapitel setzt ein mit einer Kritik an der bislang von sonderpädagogischen Historiographen präferierten These, wonach die NS-Zeit bezogen auf die Sonderschullehrerausbildung eine „Insel im Entwicklungsprozess“ darstellt, „die zu den vorhergehenden und nachfolgenden Entwicklungen keine Verbindung aufweist“ (87). Dagegen setzt Hänsel die Auffassung, dass „in der NS-Zeit wichtige, neue Grundlagen für die gemeinsame Sonderschullehrerausbildung geschaffen und Entwicklungen weiter vorangetrieben werden, die der Hilfsschullehrerschaft nachträglich die erfolgreiche Durchsetzung der gemeinsamen Sonderschullehrerausbildung ermöglichen“ (87). Dazu zählt sie zunächst, dass führende Verbandsvertreter die Notwendigkeit einer Vereinheitlichung des Ausbildungswesens mit dem GzVeN erhärteten. Darüber hinaus sei mit der Gründung der Fachschaft Sonderschulen erstmals die von den Hilfsschullehrern stets geforderte organisatorische Zusammenführung mit den Blinden- und Taubstummenlehrern gelungen. Schließlich habe das „Dritte Reich“ weitere Schritte zu gemeinsamen Ausbildungspraxen von Hilfsschul- und Taubstummenlehrern auf den Weg gebracht. Aus dieser Perspektive stellen sich die erfolgreichen Bemühungen um eine gemeinsame Sonderschullehrerausbildung nach 1945 lediglich als Schlusspunkt einer im Dritten Reich maßgeblich vorangetriebenen Entwicklung dar.

Das dritte Kapitel ist dem „Gewinn durch Geschichtsschreibung“ gewidmet und bildet trotz seiner relativen Kürze sicher einen Schwerpunkt des Buches, da viele bereits vorher thematisierten Aspekte erneut aufgegriffen und zusammengeführt werden. Hänsel verweist zunächst auf die herausragende Rolle, die dem Hilfsschulverband für die Entwicklung des deutschen Sonderschulwesens zukomme. Wie führende Verbandsvertreter die Geschichte der NS-Zeit schrieben, ist Gegenstand einer Analyse, in deren Hintergrund das Interesse steht, „die enge Bindung der sonderpädagogischen Historiographie an Professionsinteressen, die der Verband verkörpert, zu verdeutlichen und Kontinuitäten in der Geschichtsschreibung der NS-Zeit herauszuarbeiten, die bis in die Gegenwart reichen.“ (122).

Verglichen wird konkret die Geschichtsschreibung der Ära Gusttav Lesemann (1949-1967) und diejenige moderner Interpreten, womit speziell Ulrich Bleidick, Sieglind Ellger-Rüttgardt, Andreas Möckel und Norbert Myschker gemeint sind [1]. Dabei fragt Hänsel erstens nach der Perspektive, aus der NS-Geschichte geschrieben wird, zweitens nach der Sichtweise auf die NS-Zeit, auf die Einordnung der nationalsozialistischen Verbrechen an Behinderten und psychisch Kranken sowie drittens nach der Einordnung der NS-Zeit in eine konstruierte Entwicklungslinie. Hänsel kommt zu dem Schluss, dass die modernen Interpreten im Unterschied zu den Geschichtsschreibern der Lesemann-Ära den im Nationalsozialismus tätigen Hilfsschullehrern keine Generalabsolution erteilen. Allerdings konstruierten sie einen Gegensatz zwischen führenden Vertretern und helfenden Hilfsschullehrer/innen, wodurch die Tradition der Hilfsschulpädagogik an sich rehabilitiert sei: die Verstrickung in NS-Verbrechen erscheine in dieser Weise als Ausfluss eines von außen kommenden „Bösen“. Das Buch schließt mit der These, dass die Profession qua Geschichtsschreibung nach wie vor von der nationalsozialistischen Zeit profitiere: „Die Steigerung dieser moralischen Fundierung bis ins letzte Extrem stellt den vielleicht wichtigsten Gewinn dar, den die Profession aus der NS-Zeit zog und bis heute zieht, allerdings erst, seitdem die NS-Zeit vorbei ist und seitdem führende Vertreter des Hilfsschulverbandes die Geschichte der NS-Zeit schrieben“ (148).

Dieser Schluss verdeutlicht, was bereits der Titel suggeriert: das Buch ist eine Provokation, die sich insbesondere an die Historiographen der Sonderpädagogik richtet, die Hänsel letztlich als von Professionsinteressen verblendet ansieht. Damit bezieht sie sich auf bekannte Kontroversen (vgl. besonders: Hänsel 2003; Möckel 2004; Ellger-Rüttgardt 2004; Hänsel 2005). Auch wenn die kritische Herausforderung mitunter ins Polemische abrutscht („Die heilpädagogische Idee besagt, dass im Bildungssystem ‚nicht jedem dasselbe, sondern jedem das Seine’ gegeben werden muss […]. ‚Jedem das Seine’ wird auch über dem Eingang zum KZ Buchenwald stehen“ [135]) und obwohl die pauschalisierenden Ineinssetzung von Disziplin und Profession aus sonderpädagogischer Sicht sicher einige Gegenargumente herausfordert, wäre es aus meiner Sicht allerdings falsch, Hänsels Veröffentlichung nur auf dieser Ebene zu rezipieren. Die Bedeutung und die Grenzen ihres Zugriffes offenbaren sich viel deutlicher, wenn man dezidiert danach fragt, wie sich Hänsels Befunde in die Diskussion um die sonderpädagogische Historiographie einordnen. Dabei fällt zunächst ins Auge, dass Hänsel bezogen auf das seit Mitte der 80er Jahre nur schwach spürbare Interesse der Allgemeinen Pädagogik an den so genannten Grenzfällen der Erziehung einen neuen Bezugspunkt setzt. Was Hänsel nicht nur fordert, sondern leistet, ist die Erhebung der Sonderpädagogik und ihrer Geschichte zum Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Reflexion. Diese Befreiung des Themas aus dem wissenschaftlichen Abseits kann und muss sicher genauso im Interesse der Sonderpädagogik selbst sein wie der Impuls, den die Arbeit auf die noch junge und leider fragmantarische Methodendiskussion in der sonderpädagogischen Historiographie ausüben kann. Hänsel expliziert ihr – aus meiner Sicht letztlich wissenschaftspolitisches - Erkenntnisinteresse sehr deutlich und führt vor, wie altbekannte Fakten vor einer dezidiert kritischen Perspektive völlig neues Gewicht erhalten. Für ein Forschungsfeld, in dem die additive Reihung von „Tatsachen“ noch gang und gäbe ist, kann Hänsels Buch als Lehrstück für die Methodenabhängigkeit historischer Erkenntnis gelten. Tatsächlich macht ihr Zugriff Probleme sichtbar, die bislang sehr im Hintergrund standen. Dazu gehört die prekäre Möglichkeit von Geschichtsschreibung, zu legitimieren, was ist, ohne zu denken, was hätte sein können. Aber auch die Probleme, dass Geschichte und Geschichtsschreibung Konstrukten das Gesicht von Tatsachen und Standesinteressen den Anschein humanitärer Hilfe geben können, sind hier zu nennen. Vor diesem Hintergrund hat Dagmar Hänsel ein sehr wichtiges Buch geschrieben.

Den Beleg, dass die Sonderpädagogik bzw. ihre Historiographie den genannten Gefahren im Einzelfall jeweils erlegen ist, bleibt Hänsel meines Ermessens allerdings schuldig. Denn leider bleibt die Autorin bezogen auf das Abwägen historischer Tatbestände sehr an der Oberfläche. Aufgrund des methodischen Zugriffs noch verzeihbar ist, wenn Hänsel interessante, jedoch abseitig veröffentlichte neue Arbeiten ignoriert (vgl. etwa Mühlnikel 2004) und die in dem Buch präsentierten Fakten nicht über das hinausreichen, was aus der einschlägigen Literatur bekannt ist. Problematisch erscheint allerdings, wenn vor dem Bemühen um die Erhärtung der eigenen Thesen Literatur nur fragmentarisch rezipiert bzw. Forschungsfragen vorschnell als gelöst behandelt werden. So formuliert Hänsel beispielsweise zu Recht, dass es keine Hinweise auf eine tatsächliche Existenzbedrohung der Hilfsschule zu Beginn des Nationalsozialismus gibt und interpretiert, hier handele es sich um einen von der Geschichtsschreibung erzeugten Mythos, der der moralischen Überhöhung der Sonderpädagogik als Opponentin des Dritten Reiches diene. Wieso die Hilfsschullehrer in den seit Höck bekannten Quellen jedoch bereits in den 30er Jahren ständig von dieser Bedrohung sprachen, bleibt völlig offen: die Tatsache, dass die Sonderpädagogen den Nationalsozialismus zu Beginn des Dritten Reiches als für ihre Profession bedrohlich ansahen, passt hier nicht ins Bild und wird folglich als Forschungsfrage ignoriert. Ganz ähnlich ist der Umgang mit einer noch folgenschwereren These. Hänsel betont zu Recht, dass die Ausgrenzung geistig Behinderter aus den Hilfsschulen nicht selten eine Heimeinweisung zur Folge hatte, wodurch viele ehemalige Hilfsschüler zu Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde wurden. Anzunehmen, dass selbst diejenigen Lehrer/innen, die für die Sterilisation ihrer Schutzbefohlenen eintraten, fraglos auch die so genannte „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ gebilligt hätten, fällt allerdings hinter den Forschungsstand zurück. Solche Differenzierungen bleiben im Bemühen, das moralische Versagen der Hilfsschullehrerschaft zu illustrieren, völlig aus. Offenbart sich an diesen Stellen der „tote Winkel“, der eben nicht nur einer genuin sonderpädagogischen, sondern auch einer kritischen Sichtweise eigen ist, so wird deutlich, dass das Buch seinen Wert eher als Impuls für künftige Arbeiten denn als Antwort auf existierende Forschungsfragen besitzt. Zu hoffen ist, dass seine Diskussion nicht in einem Schlagabtausch zwischen „Allgemeiner“ und „Sonder“- Pädagogik versandet, sondern über die Fachgrenzen hinweg neue Forschungen anregt.

[1] Ellger-Rüttgardt, Sieglind: Sonderpädagogik – ein blinder Fleck der Allgemeinen Pädagogik? Eine Replik auf den Aufsatz von Dagmar Hänsel. In: Z.f.Päd., 50. Jg. (2004), H. 3, S. 416-429. Möckel, Andreas: „Die Sonderschule – ein blinder Fleck in der Schulsystemforschung.“ Zum Artikel von Dagmar Hänsel in der Zeitschrift für Pädagogik. In: Z.f.Päd., 50. Jg. (2004), H. 3, S. 406-415; Hänsel, Dagmar: Die Sonderschule – ein blinder Fleck in der Schulsystemforschung. In: Z.f.Päd., 49. Jg. (2003), H. 4, S. 591-609; Hänsel, Dagmar: Die Historiographie der Sonderschule. Eine kritische Analyse. In: Z.f.Päd., 51. Jg. (2005), H. 1, S. 102-116; Mühlnikel, Marcus: Hilfsschüler in Ober- und Mittelfranken zwischen 1933 und 1945. Theorie und Praxis der nationalsozialistischen Rassenhygiene. In: Archiv für Geschichte von Oberfranken, Band 84 (2004), S. 185-276.
Gabriele Kremer (GieĂźen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gabriele Kremer: Rezension von: Hänsel, Dagmar: Die NS-Zeit als Gewinn fĂĽr Hilfsschullehrer. Bad Heilbrunn: Verlag Klinkhardt 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 1 (Veröffentlicht am 30.01.2007), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151491.html