EWR 10 (2011), Nr. 6 (November/Dezember)

Peter Graf / Antonio Fernández-Castillo (Hrsg.)
SchĂĽler auf dem Weg nach Europa
Interkulturelle Bildung und Mehrsprachigkeit in der Schule
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011
(368 S.; ISBN 978-3-7815-1781-3; 24,90 EUR)
Schüler auf dem Weg nach Europa Europa wächst politisch und ökonomisch zusammen. In der Regel beruflich motivierte Migrationsprozesse erhöhen die Durchlässigkeit der „alten“ nationalstaatlichen Grenzen. Angesichts der kulturellen und sprachlichen Heterogenität innerhalb der Europäischen Union stellt sich die bildungspolitische Herausforderung, Europa auch als gemeinsamen Bildungsraum zu gestalten. Der „Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen“ von 2001 ebenso wie das von der Europäischen Kommission 2005 formulierte Bildungsziel der Mehrsprachigkeit – die individuelle Aneignung von Kenntnissen in (mindestens) zwei weiteren Sprachen neben der Erstsprache – stehen exemplarisch für die Bemühungen auf europäischer Ebene um eine Homogenisierung der nationalen Bildungsprozesse unter Bewahrung der dem europäischen Staatenbund inhärenten sprachlich-kulturellen Vielfalt.

In diesem Zusammenhang ist der vorliegende Sammelband interessant. Er gibt Einblicke in den wissenschaftlichen Forschungsstand zu bilingual-interkultureller Erziehung und deren konzeptionell-curricularer und methodisch-didaktischer Umsetzung im Rahmen von Modellversuchen in unterschiedlichen europäischen Ländern. Darüber hinaus diskutieren Beiträge aus Spanien, Italien und Griechenland aktuelle Wege, auf denen europäische „Drittsprachen“ im Rahmen etablierter Fremdsprachenkonzepte eingebunden werden, und eröffnen neue Perspektiven auf schulisches Sprachenlernen. Zu den Autoren des Bandes zählen neben Angehörigen des Wissenschaftsbetriebs auch Lehrkräfte, die ihre persönlichen Erfahrungen und Einsichten im Zusammenhang mit „eigenen“ Schulprojekten mitteilen. Sie teilen ein besonderes Interesse an Fragen der Gestaltung des öffentlichen Schulwesens mit dem Ziel, Schülern von heute Kompetenzen zu vermitteln, die für eine sprachlich-kulturelle Verständigung in Europa in wachsendem Maße erforderlich sind. Aus diesem Engagement erklärt sich auch der mitunter deutlich appellative Grundton einiger Beiträge. Erwähnt sei überdies, dass es sich bei einer Vielzahl der Beiträge um Übersetzungen handelt.

Die Publikation gliedert sich in drei Hauptkapitel mit folgenden thematischen Schwerpunkten: Im ersten Kapitel „Perspektiven mehrsprachig-interkultureller Erziehung“ werden in Beiträgen von Peter Graf, Peter Doyé, Uwe Sandfuchs, Alexander J. Cvetko & Jens Knigge sowie Antonio Fernández-Castillo die theoretischen und empirischen Grundlagen der zentralen Thematik des Bandes, d.h. die Bedingungen des (Fremd-)Spracherwerbs und seiner Bedeutung im Kontext interkultureller Bildung, vorgestellt.

Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels „Deutsch-Italienische Schulen als europäische Bildungsinitiativen“, zu dem Dorothea Frenzel, Clemens Zumhasch, Claudia Schanz, Birgit Schumacher, Monika Ebertowski, Andrea Passanate und Manuela Sieren-Jovanovic beigetragen haben, stehen deutsch-italienische Schulprojekte, die in Deutschland seit beinahe zwei Jahrzehnten durchgeführt werden. Namentlich handelt sich um die „Leonardo-da-Vinci-Gesamtschule“ in Wolfsburg, die „Staatliche-Europa-Schule Berlin“ sowie „Deutsch-Italienische Europaklassen“ in Osnabrück. Gemeinsam ist diesen Projekten der Versuch der Einrichtung von Bildungswegen zu mehrsprachigen Schulabschlüssen, die über eine bilinguale Erziehung bereits vom Primarbereich an verlaufen. Die Erfahrungen aus den erprobten Schulprojekten ebenso wie die vorangestellten spracherwerbstheoretischen und sprachdidaktischen Erwägungen münden am Ende des Kapitels in ein „Memorandum“, verfasst von Peter Graf, zur Einrichtung von mehrsprachig-interkulturellen „Europaschulen“ in Deutschland.

Die Beiträge des dritten Kapitels „Mehrsprachig-interkulturelle Erziehung im europäischen Kontext“, die aus der Feder von Salvatore Alberto Fanzone, Antje Ehrhardt, Ioanna Karvela, Miguel Angel Belver Hernández sowie Dionisio Fernández-González & Antonio Fernández-Castillo stammen, thematisieren vor dem Hintergrund des italienischen, spanischen und griechischen Bildungssystems den Stellenwert von Deutsch als zweiter Fremdsprache neben dem Englischen als internationaler Verkehrssprache. Die Bandbreite der vorgestellten Projekte und Konzepte reicht von Schulpartnerschaften als Begegnungsräumen für Schüler unterschiedlicher kultureller Provenienz und ihrer Bedeutung für die Konstitution einer europäischen Identität, über internationale (hier: deutsch-italienische) Schulprojekte, die dem Ansatz einer in den Sachunterricht integrierten – mithin bilingualen – Sprachbildung (Content and Language Integrated Learning) als einer Möglichkeit der besonderen Motivationsbildung zum Sprachenlernen folgen, bis hin zu Konzepten, die gemäß dem Ansatz der Mehrsprachigkeitsdidaktik Sprachbildungsprozesse auf eine umfassende „Sprachkompetenz [ausrichten], zu der alle Sprachkenntnisse und -erfahrungen beitragen“ (313). Das Kapitel endet mit einem Vorschlag zur Entwicklung eines Modells Interkultureller Pädagogik, das sowohl die im Zuge der Diversifizierung des europäischen Sprach- und Erfahrungsraums geschaffenen Bedarfe nach einer „Kultur der Vielfalt“ (325) als auch die personellen und materiellen Voraussetzungen seiner curricularen Umsetzung sichtbar macht.

Das letzte Kapitel „Bilinguale Erziehung in Europa – Stand der Entwicklung in Frankreich, Italien, Österreich und Großbritannien“ von Jutta Lahmann bietet eine systematische Zusammenschau des aktuellen Entwicklungsstands auf dem Gebiet der bilingualen Erziehung in den benannten Ländern.

Dem Leser offeriert der vorliegende Band eine breit angelegte Zusammenstellung von Forschungs- und Erfahrungsbeiträgen zu den Themen Mehrsprachigkeit und Interkulturalität, deren Lesbarkeit jedoch in Teilen durch orthographische Mängel eingeschränkt wird. Die den einzelnen Kapiteln zugeordneten Beiträge reflektieren den gemeinsamen Gegenstand in ihrer Gesamtheit auf eine sehr facettenreiche Weise, die insbesondere im dritten Kapitel den inhaltlichen Bezugsrahmen stark ausweitet. Gleichwohl bietet der rezensierte Band insgesamt eine lesenswerte Lektüre, die auch für thematisch unkundige Leser als Einstieg geeignet ist und sowohl wichtige grundlagentheoretische Kenntnisse aus den Bereichen des (Zweit-) Spracherwerbs und der Interkulturellen Pädagogik vermittelt als auch daran anschließende Konzepte einer interkulturell-bilingualen schulischen Erziehung sowie deren Konkretisierung in laufenden Schulprojekten vorstellt.
Oliver Hormann (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Oliver Hormann: Rezension von: Graf, Peter / Fernández-Castillo, Antonio (Hg.): SchĂĽler auf dem Weg nach Europa, Interkulturelle Bildung und Mehrsprachigkeit in der Schule. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011. In: EWR 10 (2011), Nr. 6 (Veröffentlicht am 14.12.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151781.html