EWR 12 (2013), Nr. 5 (September/Oktober)

Annette FrĂĽhwacht
Bildungsstandards in der Grundschule
Bildungsstandards und Vergleichsarbeiten aus der Sicht von deutschen und finnischen Lehrkräften
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012
(270 S.; ISBN 978-3-7815-1876-6; 32,00 EUR)
Bildungsstandards in der Grundschule Innerhalb der Schulpädagogik bildet die Lehrplanforschung einen wichtigen Bestandteil der Disziplin und wenngleich diese Forschungsrichtung in der jüngeren Vergangenheit weniger prominent im Vordergrund stand, sind aktuell mit den politisch motivierten Umsteuerungen des Bildungswesens der letzten Dekade wieder vermehrt Arbeiten auszumachen, die auf Bildungsstandards als Funktionsäquivalente von Lehrplänen ausgerichtet sind und darin die Forschungsperspektive zu kontinuieren vermögen. Die Lehrplanrezeptionsforschung und Lehrplanwirksamkeitsforschung waren dabei traditionell quantitativ ausgerichtet, es fehlten bislang vor allem qualitative Studien und Arbeiten, welche in vergleichender Weise international Anschluss suchen. Mit ihrer Dissertation legt Annette Frühwacht nun eine Studie vor, welche sich zum Ziel setzt, diese Desiderate aufzugreifen; in ihr steht die Rezeption von Bildungsstandards an der Grundschule im vergleichenden Blick zwischen Bayern und Finnland im Mittelpunkt.

Annette Frühwachts Arbeit ist in acht Kapiteln untergliedert. Das einleitende Kapitel begründet den Forschungsgegenstand. In ihm führt sie als Defizite bisheriger Arbeiten aus, dass diese bislang einseitig die Rezeption und Nutzung von Standards oder von Vergleichsarbeiten in den Blick genommen hätten. Zunächst ordnet sie inhaltlich standardbasierte Reformen in den gesellschaftlichen Kontext ein und reißt verschiedene Problembereiche der Bildungsstandards an, beispielsweise die aus bildungstheoretischer Sicht vielfach kritisierte „ökonomische Ausrichtung“ und die befürchteten „Teaching-to-the-test“-Effekte. Die Ausführungen dieses ersten Abschnitts sind bedeutsame Hinführungen und Konturierungen des Gegenstandes; hinsichtlich der Zielstellung des Abschnitts, den Forschungsgegenstand zu begründen, erscheinen sie aber zuweilen oberflächlich und nicht in allen Teilen wissenschaftlich fundiert, beispielsweise in Ausführungen der Autorin, dass die Reformunwilligkeit von Lehrkräften auf eine damit verbundene Mehrarbeit zurückzuführen sei (27).

Das zweite Kapitel führt die theoretische Bezugnahme der Arbeit aus. Hier rekurriert die Autorin begründet auf drei Bezugstheorien: Die Theorie des Lehrplans, das Unterrichtsentwicklungsmodell von Helmke – spezifiziert in der Modifikation zu VERA – sowie den Stages-of-Concern-Ansatz. Letzteren begründet Frühwacht mit seiner Funktion als vorwiegend akteurszentrierte Theorie, während sie Helmkes Unterrichtsentwicklungsmodell als eine übergeordnete Analysefolie und Rahmung für die Ergebnisse begreift. Die Theorie des Lehrplans hingegen sieht sie forschungsleitend für ihre empirische Befragung, weil sie über den Funktionsbegriff die Komplexität des Gegenstandes zu strukturieren und damit zu reduzieren vermag. Insgesamt beeindruckt die Arbeit durch diese multiperspektivische Theorierahmung, welche in Forschungen bislang nicht eben häufig aufzufinden ist. In Berichten zu Bayern und Finnland werden sodann die länderspezifischen Steuerungskonfigurationen mit den Bildungsstandards als ihrem Kernsteuerungselement konturiert und jeweils Funktionen, Steuerungsmodelle und Wirkungsebenen vergleichend aufgezeigt. Hier gelingt es der Autorin für Deutschland nur unzureichend, die Differenz zwischen der Idee und den Vorgaben der nationalen Standards und der konkret realisierten Steuerungskonfiguration in Bayern herauszuarbeiten.

Aus der Aufarbeitung des Forschungsstandes und ausgewiesenen Forschungsdesiderata gewinnt Frühwacht im dritten Kapitel ihre präzisierte Fragestellung, indem sie Befunde bisheriger Studien in einer Synopse zusammenstellt (65) und daraus vier Fragestellungen deduziert, welche auf die Rezeption und Nutzung von Bildungsstandards und Vergleichsarbeiten fokussieren.

Zur Beantwortung der Fragen wählt Frühwacht einen qualitativ-explorativen Forschungsansatz mit leitfadengestützten Interviews, den sie im vierten Kapitel aufzeigt und begründet. Insgesamt befragte sie entlang einer kriteriengestützten Fallauswahl in Bayern 20 und in Finnland 10 Grundschullehrkräfte. Zur Auswertung der Interviewtranskripte von insgesamt 646 Seiten zog Frühwacht eine abduktive Auswertungsmethode heran, die zunächst „einen spielerischen Umgang mit den empirischen Daten und Theorien“ (94) implizierte und im weiteren Verlauf zu einer präziseren Kategorienbeschreibungen führte.

Von Interesse für die Lehrplanforschung sind die sich über 65 Seiten erstreckenden Ergebnisse der Studie, die im fünften Kapitel ausführlich dargestellt sind und sich zunächst auf die Interviews aus Bayern beziehen. Zur Rezeption und Nutzung von Bildungsstandards führt sie den Befund an, dass die Implementation von Bildungsstandards vorwiegend auf sekundärem Weg erfolgte, also nicht primär durch gezielte Implementationsmaßnahmen, sondern durch nebensteuernde Elemente. Als einflussreich kommen hier vor allem die Vergleichsarbeiten in den Blick, welche „anscheinend Lehrkräften die Idee von Bildungsstandards vermitteln können“ (119). Hinsichtlich der Rezeption und Nutzung von Vergleichsarbeiten ist aus der Arbeit hervorzuheben, dass die Lehrkräfte das Testdesign und die Aufgaben von VERA als verschieden zu ihren eigenen Aufgaben ansehen. Frühwacht kann in den Interviews insgesamt nur zwei Aussagen auffinden, bei denen Lehrkräfte eine Beziehung zwischen den VERA-Aufgaben und ihrem Unterricht andeuteten. Die befragten bayrischen Lehrkräfte bemängeln auch eine mangelnde curriculare Validität, beispielsweise dadurch, dass ihrer Meinung nach mehr das Leseverständnis als die mathematische Kompetenz getestet wird. Zu starker Ablehnung führen bei ihnen auch die im pädagogischen Kontext ungebräuchlichen Korrekturanweisungen, in denen Aufgaben entweder komplett richtig oder schon bei einem Fehler als falsch zu bewerten sind. Die bisherige Diskussion erweiternd ist der Befund, dass die Rückmeldungen wohl bei einem Teil der Lehrkräfte emotional die Gefühlsebene ansprechen und sich vor allem in negativen Gefühlen wie Frust und Druck äußern. Für den Ländervergleich verwendet Frühwacht kontrastierend die in Finnland geführten Interviews. Nach den Aussagen der finnischen Lehrer besteht dort kein Nebeneinander von nationalen und lokalen Zielen und die Standards besitzen für die befragten finnischen Lehrkräfte eine hohe Verbindlichkeit, besonders bezogen auf langfristige Aspekte des schulischen Unterrichtens wie bspw. in der Verwendung der Vorgaben zur Leistungsmessung für die Erstellung von Zeugnissen.

Im sechsten Kapitel werden die Befunde mit Blick auf die drei grundgelegten Theoriefolien noch einmal reanalysiert. Hinsichtlich der Theorie des Lehrplans und der darin ausgewiesenen Funktionen kommt Frühwacht zum Ergebnis: „Die Bildungsstandards haben anscheinend keine Orientierungsfunktion für Lehrkräfte in dem Sinn, dass ihnen die Bildungsstandards für die Unterrichtsplanung als Orientierung dienen“ (177).

Ihre Befunde versucht Frühwacht in das Modell der Unterrichtsentwicklung von Andreas Helmke einzuordnen und trennt hierzu analytisch den Bereich der Standards und Vergleichsarbeiten. Vor dem Hintergrund, dass die Bildungsstandards noch kaum zur Unterrichtsentwicklung herangezogen werden, zeigt sie Grenzen des Modells für ihre Untersuchung dahingehend auf, dass die von Helmke ausgewiesenen vier Phasen nicht ausreichen, um die Rezeption und Nutzung durch Lehrkräfte adäquat zu beschreiben. Eine Stärke des Theorieansatzes der Stages-of-Concerns sieht sie dagegen in der Möglichkeit, mit diesem theoretischen Zugang das individuelle Lehrhandeln stärker zu berücksichtigen, aber gleichsam als seine Schwäche, die Ursachen und beeinflussenden Kontextfaktoren für das spezifische Lehrerverhalten mit ihm nicht zureichend erfassen zu können. Sie plädiert im nachfolgenden Fazit dafür, die Theorie der Stages-of-Concern für Modellierungen weiterhin heranzuziehen, um damit die Komplexität der Akteure in Innovationspassagen besser abzubilden.

Die Arbeit von Frühwacht vermag in ihrer qualitativen Anlage und mit den breiten Befunden die bisherige Forschung zur Rezeption der Standards zu vertiefen und die Lehrplanrezeptions- und Lehrplanwirksamkeitsforschung vor allem im Ländervergleich zu fundieren. Nur unzureichend wird jedoch herausgearbeitet, dass die Standards in Finnland und Bayern recht unterschiedliche Funktionen in der Makrokonfiguration der Steuerung besitzen, was letztlich die erhellende Tiefe in diesen Ausführungen limitiert. Anders mit Bezug auf Bayern: Die Befunde der Studie demonstrieren eindrücklich, dass mit der realisierten Steuerungskonfiguration in diesem Bundesland Bildungsstandards nur unzureichend und additiv zum bestehenden Bildungsplan implementiert wurden und aufzufindende Wirkungen auf sekundäre Implementationsmaßnahmen vor allem auf die VERA-Tests, zurückzuführen sind. Mit der getrennten Analyse der beiden Instrumente Bildungsstandards und Vergleichsarbeiten geht forschungsperspektivisch eine hohe Komplexität einher, die anfänglich ausgeführt ist, die zu bewältigen aber letztendlich weiteren Studien vorbehalten bleiben muss.

Mit ihrer Grundlegung von drei Bezugstheorien und deren kritischer Diskussion am Ende der Arbeit, die im Kern den Befund erbringt, dass jede Theorieperspektive ungeachtet von Schwächen und mangelnden Differenzierungen spezifische Merkmale des Implementationsprozesses beleuchten kann, vermag die Arbeit die Lehrplanrezeptionsforschung von einer bislang einseitigen Ausrichtung auf die Modellierung von Funktionen oder auch auf die vielfache Bezugnahme auf eine abstrakte, aber letztlich empirisch kaum zu überprüfende Luhmannsche Systemtheorie zu befreien. Nicht zuletzt darin wird in der Arbeit ein deutliches Fortschreiten der Autorin von einer sich zuweilen noch einschleichenden praktischen Lehrerinnenperspektive hin zu einer wissenschaftlich fundierten Forschungsperspektive mit vertiefenden und differenzierten Positionen ersichtlich.

Das Buch mit seinen hier nur angedeuteten differenzierenden Befunden sei allen, die sich mit der Wirksamkeit von Standards und „Neuer Steuerung“ beschäftigen, zur Lektüre empfohlen.
Albrecht Wacker (Heidelberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Albrecht Wacker: Rezension von: FrĂĽhwacht, Annette: Bildungsstandards in der Grundschule, Bildungsstandards und Vergleichsarbeiten aus der Sicht von deutschen und finnischen Lehrkräften. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2013), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151876.html