EWR 15 (2016), Nr. 3 (Mai/Juni)

Gustav Wyneken
Kritik der Kindheit
Eine Apologie des ‚pädagogischen Eros‘
Herausgegeben und kommentiert von Petra Moser und Martin Jürgens – mit einem Vorwort von Jürgen Oelkers
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2015
(96 S.; ISBN 978-3-7815-2037-0; 17,90 EUR)
Kritik der Kindheit Gustav Wyneken (1875-1964), Gründer der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, geriet in den letzten Jahren ins Zentrum der Kritik, hatte er doch schon in den 1920er-Jahren in eben jener Einrichtung eine damals gerichtsnotorisch gewordene pädophile Missbrauchspraxis etabliert, die durchaus, so deutet Jürgen Oelkers im Vorwort (9) des Bandes an, seinem Nachfahren Gerold Becker (1936-2010) in der Odenwaldschule als Vorbild gedient haben könnte. Insofern kommt dem hier erstmals edierten, von Oelkers‘ Schülerin Petra Moser (sowie Martin Jürgens) kommentierten Wyneken-Text Kritik der Kindheit (1944) eine gewisse Bedeutung zu.

Was Wyneken 1944 zu Papier brachte ist weniger eine Kritik der Kindheit denn eine Kritik seiner eigenen Kindheit, in deren Verlauf fast alles verkehrt gemacht worden sei. Um derlei Fehlern vorzubeugen, skizziert Wyneken am Ende insgesamt drei erzieherische Gebote, die hier zu referieren nicht lohnt, weil sich ähnliche bei vielen anderen großen Erziehern finden, von Rousseau bis hin zu Nietzsche. Letzterer kommt einem auch in den Sinn anlässlich von Wynekens Klage über seinen Vater. Er habe ihn „in das Studium der Theologie hineinzudrängen“ versucht und dabei seinen Wunsch ignoriert, weswegen Wyneken folgert, unter dem Stichwort „Selbstverjüngung“: „Wer sich nicht vom Kind, von der Jugend erziehen lassen kann und will, der lasse seine Finger vom Werk der Erziehung“ (64).

Schon diese wenigen Hinweise zeigen, dass nicht recht klar wird, was das Besondere an diesem Text sein soll oder gar das Einschlägige im Sinne der von Jürgen Oelkers in seinem Vorwort ins Zentrum gerückten Missbrauchsthematik – es sei denn, man würde Wynekens Verwahrung gegenüber „aller sexuellen Geheimniskrämerei und Einschüchterung“ (68) als Klage in eigener Sache lesen. Man kann allenfalls ahnen, dass Wyneken hier in verklausulierter Weise von seiner Sexualorientierung redet, ebenso übrigens wie bei seinem Rückblick auf seine Mutter, in dem er andeutet, dass ihm aufgrund „vielleicht erfahrener“, aber „nicht gekannter“ Mutterliebe „jene Möglichkeiten des Liebens“ verschlossen geblieben seien, „die für die meisten Menschen ihre erste ist und ihre bleibendste zu sein scheint“ (36). Dies klingt fast so, als würde Wyneken seiner Mutter die Verantwortung zuweisen dafür, dass sein mutmaßlich allererstes Liebeserlebnis von 1895 ein gleichgeschlechtliches war. Der Rest wird zusammengehalten durch ein immer wieder neu angestimmtes Klagelied darüber, dass sein Vater mehr Zeit hätte haben müssen und auch mehr „Verständnis […] für das junge aufkeimende und sehnsüchtig nach Licht und Liebe verlangende Leben, das er selbst gesät hatte“ (23). Der Gipfel dieses Leierliedes ist erreicht mit der ganz am Ende präsentierten, ihm von Dritten überlassenen Sammlung „kindlicher Aussprüche“ eines anderen, vier- bis zehnjährigen Kindes, mittels derer unser Autobiograph unterstreichen will, welche Schuld jene, „die mich erzeugt und erzogen haben“ (77), auf sich luden (wie sich am Fehlen vergleichbar ambitionierter kindlicher Aussprüche aus dem Munde des vier- bis zehnjährigen Gustav Wyneken ablesen lasse). Mein Fazit würde bis hierher lauten: Selten hat sich der gänzlich haltlose Narzissmus einer durchaus wichtigen Figur der reformpädagogischen Ära ungehemmter entäußert als in diesem peinlich berührenden Dokument.

Dass die Kommentatoren (Petra Moser und Martin Jürgens) eine hiervon abweichende Lesart verfechten, zeigt exemplarisch ihre Thematisierung der bereits erwähnten Kategorie „Selbstverjüngung“: Sie meinen hier offenbar gar einen Schlüssel gefunden zu haben zwecks Enthüllung des Subtextes von Wyneken, und zwar dahingehend, dass es hier in verklausulierter Form um so etwas wie (die Ideologie der) „Selbstverjüngung“ des Erziehers als Ergebnis der Inbesitznahme des Körpers des Jüngeren durch den Älteren gehe. Deswegen auch der Titel ihres Kommentars: Der „pädagogische Eros“ als Mittel der Selbstverjüngung. Ich gebe es gerne zu: Als genauer Leser des Textes stand ich einigermaßen konsterniert vor dieser Volte des Kommentars, der sich in Abschnitt 4 ereignet und eigentlich den ganzen Rest bestimmt. Schon die auf S. 79 platzierte Abbildung des Titelblatts von Wynekens Eros (1921) darf hier als Zeichen gelesen werden – als leicht unkorrektes übrigens, weil sie unter dem Kolumnentitel Kritik der Kindheit präsentiert wird, wodurch die Suggestion entsteht, sie gehöre zum Dokument, Wyneken habe also 1944 selbst auf diese seine über zwanzig Jahre frühere, inakzeptable Verteidigungsschrift hingewiesen. Dem ist nicht so. Ein erneutes Umblättern stellt denn auch klar, dass Moser / Jürgens mit dieser Abbildung offenbar weniger Wynekens Text denn ihren Kommentar präludieren wollten. Und wer an dieser Stelle etwas in Verwirrung geraten sollte, in der Annahme, Wyneken habe die ihm von Moser / Jürgens unterlegte Deutungslinie seines autobiographischem Textes ja bereits selbst durch seinen Untertitel vorweggenommen, dem sei versichert: Nein, dieser Untertitel (Eine Apologie des „pädagogischen Eros“) stammt nicht von Wyneken, er stammt von Moser / Jürgens.

Wenig vertrauenerweckend ist auch Moser / Jürgens‘ Anknüpfung an Wynekens Protest gegen die ihm im Verlauf seiner Erziehung auferlegte „Resignation“, der er tapfer entgegenhält: „Dem einen wachsen die tragenden und widerstehenden Kräfte, dem andern wuchert geheim, wild und anfangs unsichtbar, unter dem Zwangskleid des Verzichtes, das Wunschgewächs weiter“ (13). Die Kommentatoren schlagen bei dieser zumindest ungeschickten Formulierung Wynekens erbarmungslos zu: „Was da wuchert, lässt sich einem Photo aus dem Nachlass Wynekens ablesen (sic!) […]“ – ein Foto eines (leichtbekleideten) Knaben selbstredend, eines „Schülers aus dem engeren Umfeld Gustav Wynekens“ (86) um 1915. Damit hat Abschnitt 4 des Kommentars seinen Höhepunkt erreicht und plätschert aus in einer sich über Seiten hinweg erstreckenden Besprechung weiterer Knabenfotos aus Wynekens Nachlass, die insgesamt eine „deutlichere Sprache [sprächen], als sie Wyneken 1944 noch zur Verfügung stand“ (90). Kaum weniger brisant ist die Anspielung auf Wynekens „Nachfolger“ (93), insofern schon Oelkers in seinem Vorwort einen von ihnen im Fokus hatte, garniert mit der Bemerkung, Beckers Besuch bei Wyneken kurz vor dessen Tod sei „sicher kein Zufall“ (9) gewesen. Diese Vokabel im Ohr, erklären Moser / Jürgens gleich zu Beginn ihres Kommentars es für nicht zufällig, dass Wyneken diesen Text 1944 zu Papier gebracht habe, sei doch kurz zuvor seine Mutter, gravierender aber noch: Heinrich Könitzer gestorben, ein ehemaliger Schüler Wynekens, den dieser „über die Maßen geliebt“ habe und „gern zu seinem „geistigen Erben“ herangebildet [hätte]“ (80ff). Wunderbar greift hier ein Rädchen ins andere: Via Oelkers‘ Vorwort scheint am Ende von Wynekens irdischem Werdegang so etwas wie die Staffelübergabe an seinen Nachfolger (Becker) in Sachen sexuellen Missbrauchs zu stehen. Und via Moser / Jürgens steht am Beginn von Wynekens biographischer Selbstvergewisserung der Tod des meistgeliebten Schülers (Könitzer) – mit der Folge, dass der von Wyneken mit dem Titel Kritik der Kindheit versehene Text fast notwendig zu dem geraten muss, was mit dem von Moser / Jürgens stammenden Untertitel über ihn verraten wird: Eine Apologie des „pädagogischen Eros“.

Damit steht das Fazit außer Frage: Getragen von einer großen, erzieherischen Ambition, mit welcher Moser / Jürgens ihren Kommentar belasten, suchen sie ihre Interpretation als eine Art Tatsache im Bewusstsein am liebsten eines jeden Lehramt-Erstsemesters in Geltung zu setzen und werden auf diese Weise Teil einer Kampagne, an deren Ende auch allen nur denkbaren Nachfolgern Wynekens das Handwerk gelegt ist. Dass dies wünschenswert wäre, sei nicht in Abrede gestellt – wohl aber, dass Wynekens Text derlei Absicht ohne Gewalt zugeordnet werden kann. So betrachtet kann man dieses Buch am Ende zwar seines Inhalts wegen nicht empfehlen, wohl aber der Form halber – und sei es für die Zwecke einer Seminarstunde, in dem es um Textexegese geht und um die Frage, was ihr erlaubt bzw. was unbedingt verboten ist, soll die Wissenschaft(lichkeit) nicht schaden nehmen.
Christian Niemeyer (Dresden)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christian Niemeyer: Rezension von: Wyneken, Gustav: Kritik der Kindheit, Eine Apologie des ‚pädagogischen Eros‘ Herausgegeben und kommentiert von Petra Moser und Martin Jürgens – mit einem Vorwort von Jürgen Oelkers. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 3 (Veröffentlicht am 25.05.2016), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378152037.html