EWR 18 (2019), Nr. 2 (März/April)

Anja Krüger / Falk Radisch / Ariane S. Willems / Thomas Häcker / Maik Walm (Hrsg.)
Empirische Bildungsforschung im Kontext von Schule und Lehrer*innenbildung
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2018
(340 S.; ISBN 978-3-7815-2235-0; 24,00 EUR)
Empirische Bildungsforschung im Kontext von Schule und Lehrer*innenbildung Impulsgebend für die Erstellung des Bandes „Empirische Bildungsforschung im Kontext von Schule und Lehrer*innenbildung“ waren die Jahrestagungen 2015 und 2016 der Arbeitsgruppe für Empirische Pädagogische Forschung (AEPF) (9). Die Herausgeber/innen verfolgen das Anliegen, „aktuelle Diskussionen sowie Ergebnisse der empirisch-pädagogischen Forschung zu dokumentieren“ (ebd.). Mit dem Ziel „dem empirical turn der Bildungsforschung nachzugehen“ (ebd.), stellen sie in diesem Band 17 Beiträge zusammen, die sie je einem von vier Thementeilen zuordnen. Ein „Allgemeiner Teil“ wird drei themenspezifischen Teilen vorgeordnet. Die vier Thementeile sowie exemplarisch ausgewählte Beiträge werden folgend im Einzelnen besprochen.

Nachdem Kuper mit Blick auf das „50-jährige[] Jubiläum der Arbeitsgruppe für Empirische Pädagogische Forschung“ im ersten Beitrag sehr grundlegende Gedankenanstöße und konkrete Anregungen für die weitere Ausgestaltung des Arbeitsprogramms der Arbeitsgruppe formuliert, beinhaltet der zweite Beitrag des „Allgemeine[n] Teil[s]“ das besondere Format eines verschriftlichten Diskurses. Moderiert durch Radisch diskutieren Helsper, Klieme und Terhart sehr brisante und hochgradig aktuelle Entwicklungen und Spannungsfelder der empirischen Bildungsforschung wie bspw. das Verhältnis zwischen Empirischer Bildungsforschung, Erziehungswissenschaft, Psychologie und Schulpädagogik in Bezug auf die Zuständigkeit für schulbezogene und Lehrerbildungsforschung (28-33), die Gefahr der themenspezifischen „Verinselung“ (34) von Forscher/innengruppen oder die Frage nach der (zukünftigen) Bedeutung von Impactfaktoren in Berufungsverfahren (47ff.). Sehr überzeugend stellen alle drei Diskutanten als Vertreter je unterschiedlicher Paradigmen die Notwendigkeit einer stärkeren und produktiven Verknüpfung von quantitativer und qualitativer Forschung heraus und argumentieren übereinstimmend für eine gegenseitige Öffnung der Paradigmen (23, 37f.).

Dem „Allgemeine[n] Teil“ folgt in einem ersten von „drei Unterkapitel[n]“ (9) der institutionenbezogene Themenschwerpunkt „Schulsystem und Schulentwicklung“. Die hier verorteten empirischen Beiträge weisen insgesamt eine sehr große inhaltliche Spannweite und Vielfalt auf. Sie präsentieren schulbezogene Forschungen und neue Forschungsergebnisse mit Blick auf Themen wie Schulinspektion (Wischer & Katenbrink); Neue Technologien (Gerick); Schullaufbahnempfehlungen (van Ophuysen); Leistungsangst (Schröder, Schwanenberg & Jonberg); Förderung von „Sprach(en)- und Fachlernen“ (Hagena, Rossack & Feld) sowie „Förderung naturwissenschaftlicher Grundbildung“ (Neubauer & Lewalter). Schröder, Schwanenberg und Jonberg bspw. werten quantitative Fragebogendaten von Gymnasiast/innen und deren Eltern aus, die dem Projekt „Ganz In. Mit Ganztag mehr Zukunft“ entnommen sind (98). Sie kommen zu den auch für die schulische Praxis interessanten Ergebnissen, dass „die Leistungsangst [...] im Verlauf der Sekundarstufe I [...] signifikant zu[nimmt]“ (100) und Kinder aus Familien mit geringem ökonomischen Kapital stärker von Leistungsangst betroffen sind, als Kinder aus Familien mit hohem ökonomischen Kapital (101). Interessant wäre eine anknüpfende Beantwortung der Frage, welche schulischen Mechanismen und Praktiken das Entstehen und die Entwicklung solcher Leistungsängste (am Gymnasium) begünstigen. Auch vor dem Hintergrund der Frage nach latenten Mechanismen sozialer Selektion im Bildungswesen wäre eine Erforschung dieser Mechanismen von Relevanz. Die Autor/innen beabsichtigen ausblickend, weitere Indikatoren in ihrem Einfluss auf Leistungsangst quantitativ in den Blick zu nehmen (103). Empfehlenswert wäre die Ergänzung eines qualitativen Studiendesigns, das solche Indikatoren nicht vorab deduktiv festlegt, sondern o.g. Mechanismen in einer offenen Herangehensweise zunächst ermittelt.

Auch das zweite „Unterkapitel“ mit dem Schwerpunkt „Unterricht und Unterrichtsentwicklung“ zeichnet sich durch eine sehr große Themenvielfalt aus. Die Beiträge lassen jeweils eine besondere Expertise und Spezifik erkennen: Die Beforschung von Unterschieden in der Wahrnehmung von Unterrichtsstörungen zwischen Bachelor- und Masterstudierenden (Barth, Thiel & Ophardt), von Zusammenhängen zwischen wahrgenommener Unterrichtsqualität und dem situationalen Mathematikinteresse von Schüler/innen (Willems), von Zusammenhängen zwischen Einschätzungen der Lehrer/innenpersönlichkeit und der Wahrnehmung der Unterrichtsqualität durch Schüler/innen (Bertram, Gruehn & Rahn) oder von Zusammenhängen zwischen individueller Förderung und sozialen Herkunftseffekten (Schulz-Heidorf). Insgesamt zeigt sich in diesem Unterkapitel eine starke Hinwendung der Unterrichtsforschung zur Erfassung der Schüler/innenperspektive. So stellen bspw. Dreilig, Flierl und Willems sehr differenziert die Pilotierung eines validierten Forschungsinstruments vor, das zum Zweck der standardisierten Erfassung der Schüler/innenwahrnehmung von Feedback entwickelt wurde (194; 203). Mit der Beforschung von u.a. Schüler/inneneinschätzungen der Lehrerpersönlichkeit (171) begeben sich Bertram, Gruehn und Rahn auf ein wissenschaftlich bisher noch weitestgehend unangetastetes Terrain. Sie kommen zu dem vorsichtig formulierten aber brisanten Ergebnis, dass sich „je nach Fach unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale [als] hilfreich“ (178) für die Unterrichtsgestaltung erweisen könnten. Das besondere Verdienst dieser standardisierten Vorgehensweisen in der Erfassung der Schüler/innenwahrnehmung besteht in der Bestimmung des Grades der Relevanz deduktiv vorgegebener Merkmale aus Schüler/innensicht. Ob diese deduktiv vorgegebenen Merkmale aber diejenigen sind, die für die Schüler/innen von eigentlich subjektiver Relevanz sind, bleibt fraglich. Es wäre daher interessant, der Frage, welchen Merkmalen die Schüler/innen von sich aus Relevanz beimessen, in einer qualitativen, offenen Befragung ergänzend nachzugehen. Schulz-Heidorfs zeigt schließlich in Analysen von Daten der IGLU-E-Studie 2011, dass entgegen gängiger Annahmen ein negativer Zusammenhang zwischen der klassendurchschnittlichen Lesekompetenz von Schüler/innen und deren individueller Förderung besteht (189). Das Ergebnis motiviert, nach Qualitätskriterien individueller Förderung und ihrer Erfassung zu fragen.

Der Fokus des „dritten Unterkapitels“ liegt auf den „Professionelle[n] Kompetenzen von Lehrkräften“. Die Beiträge präsentieren Forschungen zur Handlungskompetenz angehender Lehrkräfte im Bereich Begabungsförderung (Rott), zur Entwicklung von Überzeugungen im Praxissemester (Zaruba, Gronostaj, Kretschmann & Vock) und zum Professionswissen von Lehrkräften hinsichtlich kognitiver Aktivierung (Richey, Merk, Kleinknecht & Bohl). Das besondere und in der Lehrer/innenbildung zunehmend an Relevanz gewinnende didaktische Format des Videoeinsatzes thematisieren u.a. Hess, Werker & Lipowsky. Sie stellen ein hochkomplexes Pre-Post-Design zur Unterstützung und Beforschung der Entwicklung professioneller Feedbackkompetenz vor.

Der Band zeigt eindrucksvoll sowohl die vielfältige Breite als auch die häufig sehr spezifische Tiefe aktueller Fragestellungen und Ergebnisse der empirischen Schul- und Unterrichtsforschung auf. Das macht einerseits die große Expertise in den jeweiligen Projekten sichtbar, andererseits wird die von Helsper, Klieme und Terhart debattierte Gefahr der „Verinselung“ von Themen (34) in der Dokumentation dieser jeweils tiefgehenden Spezialisierungen der Projekte greifbar. Auch fällt auf, dass unter den 15 dokumentierten empirischen Beiträgen 13 Beiträge eine quantitative und zwei Beiträge eine qualitative Ausrichtung aufweisen und nur einzelne Beiträge (Gerick; Zaruba, Gronostaj, Kretschmann & Vock) ausblickend Bezug auf Anknüpfungsmöglichkeiten im jeweils anderen Paradigma nehmen. Die Paradigmen scheinen einer auffälligen Trennung zu unterliegen. Die Dokumentation zeigt damit sehr anschaulich die aktuell debattierte Notwendigkeit einer stärkeren Verknüpfung von quantitativer und qualitativer Forschung (23, 37f.). Insgesamt hält der Band also sein Versprechen „aktuelle Diskussionen sowie Ergebnisse der empirisch-pädagogischen Forschung zu dokumentieren“ voll und ganz. Die Struktur der Verknüpfung des vorangestellten Diskurses, der sehr wesentliche Themen aktueller Debatten repräsentiert, mit den darauffolgend dokumentierten empirischen Beiträgen, erweist sich als besonders aussagekräftig.
Kathrin te Poel (Bielefeld)
Zur Zitierweise der Rezension:
Kathrin te Poel: Rezension von: KrĂĽger, Anja / Radisch, Falk / Willems, Ariane S. / Häcker, Thomas / Walm, Maik (Hg.): Empirische Bildungsforschung im Kontext von Schule und Lehrer*innenbildung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.05.2019), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378152235.html