EWR 22 (2023), Nr. 1 (Januar)

Tamara Deluigi
Die Schule und ihre Problemkinder
(A)NormalitÀt im 19. und 20. Jahrhundert, eine historisch-systematische Analyse
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021
(258 S.; ISBN 978-3-7815-2462-0; 45,00 EUR)
Die Schule und ihre Problemkinder Die vorliegende Arbeit ist aus einer Doktorarbeit, die 2016 an der humanwissenschaftlichen FakultĂ€t der UniversitĂ€t Bern eingereicht worden ist, hervorgegangen, fußt jedoch auch ausdrĂŒcklich auf Ergebnissen der 2011 an der gleichen FakultĂ€t eingereichten Masterarbeit der Autorin Tamara Deluigi. Das Kernthema der Arbeit, so die Autorin, sind „Kategorisierungs- und Diagnoseprozesse im System Schule und einer damit verbundenen Festlegung von NormalitĂ€t und Abweichung“ (5). Hierbei liegt der Fokus explizit auf der deutschsprachigen Schweiz. Als Quellen werden zwei verschiedene Materialgattungen herangezogen. Einerseits PĂ€dagogiklehrmittel, genauer gesagt sechzehn LehrbĂŒcher, die zwischen 1827 und 1914 fĂŒr die Ausbildung an Lehrer:innenseminaren der deutschsprachigen Schweiz dienen sollten. Andererseits untersucht die Autorin sieben deutschsprachige pĂ€dagogische Fachzeitschriften aus der Schweiz im selben Zeitraum, wobei es sich bei sechs der Zeitschriften um aufeinanderfolgende VorgĂ€ngerpublikationen der ab 1862 erschienenen Schweizerischen Lehrerzeitung handelt. Diese Quellenarbeit unterzieht Deluigi im Verlauf ihrer Arbeit einer Diskursanalyse in Bezug auf „(un)erwĂŒnschte Eigenschaften und Verhalten in der Schule“ (227).

Die Arbeit gliedert sich in drei Abschnitte mit fĂŒnf (Abschnitt I und II) bzw. drei (Abschnitt III) Unterkapiteln. Im ersten Teil stellt die Autorin knapp den thematischen, regionalen und zeitlichen Fokus der Arbeit dar. Den Beitrag ihrer Arbeit sieht Deluigi unter anderem darin, dass es wenige Arbeiten gebe, die ĂŒber regionale Untersuchungen hinausgingen und wie ihre Arbeit einen interregionalen bzw. interkantonalen Blick auf die schweizerische Bildungslandschaft des 19. Jahrhunderts werfen. Den Beginn ihres Untersuchungszeitraumes erklĂ€rt sie ĂŒber die „beginnenden Institutionalisierung der staatlich-seminaristischen Lehrer- und Lehrerinnenausbildung“ (20) in der Schweiz, einen Prozess, den sie durchweg in ihrer Arbeit als bestimmend in Bezug auf NormalitĂ€ts- und Divergenzdiskurse beschreibt. Ihren methodischen Zugang stellt die Autorin als „historisch-systematischen“ im Anschluss an Bellmann und Ehrenspeck dar [1].

ZunĂ€chst zeichnet die Autorin hauptsĂ€chlich anhand der untersuchten pĂ€dagogischen Zeitschriften Diskurse innerhalb der deutschsprachigen Lehrer:innenschaft nach. Hierbei wird chronologisch vorgegangen. Deluigi stellt eine Entwicklung dar, in der es zunĂ€chst um das Schaffen von Rahmenbedingungen ging, die einen ungestörten Unterricht ermöglichen sollten. Daraufhin, gegen Mitte des 19. Jahrhunderts, sieht die Autorin eine Neuordnung des VerstĂ€ndnisses der Divergenz von Schulkindern nach vermehrt medizinischen Kriterien. Gegen Ende des Jahrhunderts setzte sich nun, so die Autorin, eine Kategorisierung in sogenanntes 'normales' und 'anormales' Verhalten durch, die jedoch auch eine Vielzahl von Abstufungen zwischen diesen beiden Polen mit einbezog. In den Folgejahren sieht Deluigi eine „fortschreitende Verfeinerung der schulischen Einstufungen und Beurteilungen“ (204) sowie vermehrt auch ErklĂ€rungsversuche fĂŒr schulische Leistungen, die das soziale Umfeld der Kinder stĂ€rker in den Blick nahmen. Im Weiteren wendet sich die Autorin den von ihr in den Blick genommenen LehrbĂŒchern zu, um „Beschreibungen von erwünschten und unerwünschten Eigenschaften und Verhaltensweisen von Schulkindern“ (207) sowie „zentrale Mittel zur Erreichung der erwünschten sowie zur Elimination der unerwünschten AusprĂ€gungen“ (207) herausarbeiten zu können. Deluigi kommt zu dem Schluß, dass sich hierzu kein Konsens in den behandelten Quellen erkennen lĂ€sst, dass „nicht eine Ablösung bestehender Zuschreibungen, sondern vielmehr eine ErgĂ€nzung durch neue Kategorien und somit eine Akkumulation ebendieser“ (5) zu beobachten sei.

AuffĂ€llig bei der vorliegenden Arbeit ist ihr enggefasster historiographischer Rahmen, welcher fast ausschließlich deutschsprachige SekundĂ€rliteratur aus der Deutschschweiz einbezieht. Zur Verortung der Arbeit werden einige wenige Arbeiten aus der Gesamtschweiz herangezogen, wobei diese ebenfalls auch fast durchweg auf Deutsch verfasst wurden. Mit Ausnahme der Nennung eines englischsprachigen Werkes beschrĂ€nkt sich die Eingliederung in den außerschweizerischen Forschungskontext auf die knappe Bezugnahme auf fĂŒnf deutschsprachige Arbeiten. Gewinnbringend wird diese Arbeit denjenigen Leser:innen sein, die sich konkret fĂŒr die Schriftkultur der deutschsprachigen Lehrer:innenschaft der Schweiz im 19. Jahrhundert interessieren. Deren regen Austausch kontrastiert die Autorin detailliert mit der sich im Wandel befindlichen schweizerischen Schulgesetzgebung. Somit gelingt es Deluigi, die herausgearbeiteten Diskurse zu Normdivergenz und den Umgang damit in einen allgemeineren Professionalisierungsdiskurs von Lehrberufen in der deutschsprachigen Schweiz einzufĂŒgen.

[1] Bellmann, J. & Ehrenspeck, Y. (2006). Historisch/systematisch. Anmerkungen zur Methodendiskussion in der pĂ€dagogischen Historiographie. Zeitschrift fĂŒr PĂ€dagogik, 52, S. 245-264.
Alan Sioltaich Ross (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Alan Sioltaich Ross: Rezension von: Deluigi, Tamara: Die Schule und ihre Problemkinder, (A)NormalitĂ€t im 19. und 20. Jahrhundert, eine historisch-systematische Analyse. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021. In: EWR 22 (2023), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.01.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378152462.html