EWR 22 (2023), Nr. 1 (Januar)

Eva Matthes / Stefan T. Siegel / Thomas Heiland (Hrsg.)
Lehrvideos – das Bildungsmedium der Zukunft?
Erziehungswissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021
(271 S.; ISBN 978-3-7815-2465-1; 36,00 EUR)
Lehrvideos – das Bildungsmedium der Zukunft? Online abrufbare Videoclips, die den Anspruch erheben, Unterrichtsinhalte verstĂ€ndlich zu vermitteln, etablieren sich zunehmend vom Nischenangebot zur primĂ€ren Infoquelle fĂŒr Jugendliche, bei dem einige Anbieter in Konkurrenz zum Lernhilfe-Markt auch kommerziell erfolgreich sind. Genutzt werden solche Videos zur Wiederholung von im Unterricht unverstandenen Inhalten, zur Hausaufgabenhilfe und fĂŒr PrĂŒfungsvorbereitungen. Vermutlich nutzen auch etliche (v.a. fachfremd unterrichtende) LehrkrĂ€fte solche Videos zur Unterrichtsvorbereitung. Ihr Vorzug ist eine extrem verbesserte ZugĂ€nglichkeit gegenĂŒber traditionellen Unterrichtsmedien aufgrund des besonders hohen Maßes an stilistischen und sprachlichen Anpassungen an die Zielgruppe sowie einer steten VerfĂŒgbarkeit im Netz. Rezipient*innen können sie so in ihrem Lerntempo nutzen und fallen bei VerstĂ€ndnisproblemen nicht auf. Beworben wird auch die Video-Erstellung im Unterricht als moderne Version des ‚Lernens mittels Lehren’.

Im vorliegenden Band, hervorgegangen aus dem von der „QualitĂ€tsoffensive Lehrerbildung” geförderten Projekt LeHet (‚Förderung der LehrkrĂ€fteprofessionalitĂ€t im Umgang mit HeterogenitĂ€t’), analysieren Erziehungswissenschaftler*innen und Fachdidaktiker*innen diesen neuen Medientyp in drei ZugĂ€ngen.

Im ersten Teil gehen vier „Grundlegende BeitrĂ€ge“ auf ĂŒbergreifende Aspekte ein: Den (ĂŒberschaubaren) Forschungsstand, Abrufstatistiken sowie allgemeine technische und inhaltliche QualitĂ€tskriterien zur Konstruktion solcher Videos; eine Analyse von elf schulbezogenen ErklĂ€rvideo-KanĂ€len auf YouTube mit einem eigens entwickelten Kriterienraster; geschlechterstereotype, sexistische Tendenzen in Videos eines stark nachgefragten Kanals; eine Bestandsaufnahme der als ausbaubedĂŒrftig eingeschĂ€tzten curricularen Verankerung audiovisueller Medien in bayerischen LehrplĂ€nen.

Im zweiten Teil “Analysen von Lehrvideos aus domĂ€nenspezifischer Perspektive” werden in acht BeitrĂ€gen exemplarisch Videos zu Inhalten aus sechs UnterrichtsfĂ€chern in Hinblick auf sprachanalytische, fachwissenschaftliche, medien- und fachdidaktische QualitĂ€tsmerkmale untersucht.

Im dritten Teil behandeln sieben BeitrĂ€ge, wie „Lehrvideos in der Lehramtsausbildung und in der universitĂ€ren Weiterbildung“ thematisiert werden können: Mit fachunterrichtsbezogenen Analysen und Evaluationen; als Reflexionsanlass zur Förderung von ErklĂ€rkompetenz; ihre Erstellung in fachÂŹdidaktischen Seminaren (Politische Bildung, Geschichte und Biologie) sowie – unterstĂŒtzt von Studierenden – in einem Sachunterrichts-Projekt; in Weiterbildungsseminaren fĂŒr Lehrer*innen mit auslĂ€ndischen AbschlĂŒssen. Der achte Beitrag verdichtet die BeurteilungsmaßstĂ€be aus allen vorstehenden BeitrĂ€gen zu einem Kriterienkatalog mit fĂŒnf Kategorien und 19 Teilaspekten.

Bereits zu Beginn wird eingerĂ€umt, dass die einzelnen BeitrĂ€ge ganz unterschiedliche BezeichnunÂŹgen fĂŒr diesen Medientyp verwenden (u. a. online-, Lehr-, Lernvideos oder Video-Tutorials; in englischen Abstracts explanatory oder instructional videos), die mal voneinander abgrenzt, mal synonym verwendet werden. Diese begriffliche UnschĂ€rfe ist Ausdruck der Vielfalt an Videotypen: In einer als noch unvollstĂ€ndig bezeichneten Liste (S. 25) werden elf aufgefĂŒhrt, die sich in Hinblick auf Produktionsstile, Darstellungsformen und Vermittlungsintentionen unterscheiden, darunter Video-Blogs, Screencasts, Vortragsauf-zeichnungen, Trickfilme und gefilmte Handlungsdemonstrationen. Auch der im Titel gewĂ€hlte Begriff „ErklĂ€rvideo” wird problematisiert, weil er die Bedeutung des mĂŒndlichen und schriftlichen „ErklĂ€rens“ akzentuiere, wohingegen das Interesse an diesen Videos vor allem in ihrer MulticodalitĂ€t vermutet wird.

Die im ersten Beitrag angegebenen Abrufstatistiken fĂŒr 15 Videos zu Themen aus drei FĂ€chern sind eindrucksvoll: Zehn Videos mit mehr als 100.000 Aufrufen, davon fĂŒnf mit mehr als 500.000 und zwei (Lineare Funktionen / Schriftliches Dividieren) mit mehr als einer Millionen Aufrufen. Empirische Ergebnisse zur Lernwirksamkeit solcher Videoclips werden nicht referiert und sind angesichts des dafĂŒr erforderlichen Forschungsaufwands auch zukĂŒnftig allenfalls fĂŒr kleine Fallstudien zu erwarten. Zweifel am Lernertrag werden mit der Bemerkung angedeutet, Betrachter*innen könnten aufgrund der i. d. R. faszinierenden Darstellungen “Verstehensillusionen” erliegen.

Mehrere BeitrĂ€ge diskutieren die Nachteile, mit der die gegenĂŒber offiziellen Bildungsmedien stark verbesserte ZugĂ€nglichkeit erkauft wird:
– Im BemĂŒhen, mit salopper Alltagssprache an Denk- und Sprachmuster mutmaßlicher Rezipient*innen anzudocken, bleiben fachsprachlich korrekte Begriffe und die fachwissenschaftliche Genauigkeit auf der Strecke.
– Zugunsten vereinfachender Darstellungen komplizierter Sachverhalte wird „Mehrdeutiges“, „Strittiges“ oder „UngeklĂ€rtes“ nicht thematisiert.
– Bei der Videokonstruktion fĂŒr fiktive Rezipient*innen können keine individuellen LernÂŹvor-aussetzungen berĂŒcksichtigt werden.
– WĂ€hrend LehrkrĂ€fte im Unterricht aus mehr oder weniger klaren verbalen oder nonverbalen Signalen auf VerstĂ€ndnisschwierigkeiten schließen und dann modifizierte ErklĂ€rungen anbieten können, mĂŒssen Rezipient*innen ihre Probleme verstĂ€ndlich formulieren (nicht selten eine unĂŒberwindliche HĂŒrde). Ob andere Nutzer*innen dann hilfreiche ErlĂ€uterungen anbieten, bleibt dem Zufall ĂŒberlassen.
– Rezipient*innen haben nur beschrĂ€nkte Möglichkeiten fĂŒr eigene RĂŒckmeldungen mittels „likes” und Kommentaren.
– Der Nutzen von z.T. angebotenen Übungs- und Vertiefungsaufgaben ist angesichts eines fehlenden Feedbacks fraglich.

Überwiegend positiv eingeschĂ€tzt wird der Lernertrag aus fachdidaktischen Seminaren, in denen Videoclips analysiert oder erstellt wurden: Die Eigenproduktion solcher Videos fördere die FĂ€higkeit zur didaktischen Reduktion und die Kompetenz zum ErklĂ€ren von Unterrichtsinhalten; die Analyse online abrufbarer Videos (auch solche von minderer QualitĂ€t) fördere „domĂ€nenspezifische Kompetenzen“ zur fachwissenschaftlichen und -didaktischen Beurteilung. Dagegen fĂ€llt das ResĂŒmee zum einzigen unterrichtsbezogenen Grundschul-Projekt durchwachsen aus: Zwar gĂ€be es „Hinweise darauf, dass die SchĂŒler*innen Freude beim Erstellen der ErklĂ€rvideos hatten“; jedoch nennen die LehrkrĂ€fte fast nur Nachteile. Da Ergebnisse zum fachlichen Lernertrag fehlen, bleibt unklar, ob mit diesem Vorhaben der Anspruch des Konzepts „Lernen mittels Lehren“ eingelöst werden konnte.

Das PlĂ€doyer der Autor*innen, in Anbetracht der starken Verbreitung und großen Beliebtheit dieses Formats diese Thematik in der Lehrerbildung intensiver zu behandeln, leuchtet ein. Die Auseinandersetzung damit ist allein schon wegen der o.g. Grundprobleme sowie der QualitĂ€tsdefizite in vielen Videoclips gerechtfertigt. Ein weiteres Argument ist das in einem Beitrag referierte, u.U. verallgemeinerbare Befragungsergebnis, wonach ein grĂ¶ĂŸerer Teil von Studierenden kaum in der Lage ist, die ihr Unterrichtsfach betreffenden Videos auf inhaltliche Korrektheit und wissenschaftliche Angemessenheit zu ĂŒberprĂŒfen.

Es ist das Verdienst der Autor*innen, mit exemplarischen Analysen Anregungen dafĂŒr zu geben, wie eine kritische Auseinandersetzung mit diesem neuen Medientyp erfolgen kann. Besonders der im letzten Beitrag vorgestellte Katalog mit „(Medien-)PĂ€dagogisch-Didaktischen“, „Lernpsychologischen“, „Filmanalytischen“, „Technischen“ und „Rechtlichen QualitĂ€tskriterien“ ist dafĂŒr ein geeignetes Instrument, wenngleich– wie auch von Autor*innenseite eingerĂ€umt – noch ausbaufĂ€hig. Ein Desiderat des Buchs sind Analysen zur Nutzung dieses Medientyps im Unterricht. In drei BeitrĂ€gen wird kurz darauf hingewiesen, dass derartige Videoclips fĂŒr ‘blended learning-’ oder ‚flipped classroom-‘Konzepte geeignet sein könnten. Wie sie angesichts der angefĂŒhrten UnzulĂ€nglichkeiten den Umgang mit HeterogenitĂ€t fördern könnten, wird jedoch in keinem Beitrag ausgefĂŒhrt.

Letztlich unbeantwortet bleibt die im Titel aufgeworfene Frage, ob hier das „Bildungsmedium der Zukunft“ vorgestellt wird. Überraschend wirkt die optimistische Behauptung in etlichen BeitrĂ€gen, dieser Medientyp habe großes Potenzial, wobei mutmaßliche VorzĂŒge meist mit den Hilfsverben „kann“ oder „könnte“ eingeleitet werden. Der apodiktischen Feststellung im EinfĂŒhrungsbeitrag, „es sei nicht (mehr) die Frage, ‚ob’man mit ErklĂ€rvideos besser lernt, sondern wie man mit ErklĂ€rvideos besser lernt“, ist entgegenzuhalten, dass dafĂŒr deren Bildungswirksamkeit in non-formalen Lernprozessen und erst recht deren Eignung als Unterrichtsmedium ĂŒberhaupt erstmal belegt werden mĂŒsste.
Ulf MĂŒhlhausen (Hannover)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ulf MĂŒhlhausen: Rezension von: Matthes, Eva / Siegel, Stefan T. / Heiland, Thomas (Hg.): Lehrvideos – das Bildungsmedium der Zukunft?, Erziehungswissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021. In: EWR 22 (2023), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.01.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378152465.html