EWR 11 (2012), Nr. 4 (Juli/August)

Ewald Kiel (Hrsg.)
Unterricht sehen, analysieren, gestalten
2., überarbeitete Auflage
Stuttgart/Bad Heilbrunn: UTB/Klinkhardt 2012
(176 S.; ISBN 978-3-8252-3702-8; 19,90 EUR)
Unterricht sehen, analysieren, gestalten Unterrichtsprinzipien sind seit langem Gegenstand der schulpädagogischen Literatur; bereits im 17. Jahrhundert formulierte Comenius erste didaktische Grundsätze zur Gestaltung von Unterricht. Inzwischen liegt eine Vielzahl an Unterrichtsprinzipien vor, die fächerübergreifende Geltung beanspruchen und zur Planung, Durchführung und Analyse von Unterricht herangezogen werden. Dass mit Unterrichtsprinzipien in der Regel konkrete Handlungsanweisungen verbunden sind, greift der vorliegende Sammelband auf und macht diese Tatsache gleichsam zu seinem eigenen Prinzip: Der Leser erhält neben einer theoretischen Einführung in ausgewählte Unterrichtsprinzipien Hinweise zu ihrer praktischen Umsetzung und er wird aufgefordert, sich mit Hilfe von Aufgaben zu Filmsequenzen auf einer beigefügten CD nochmals praxisbezogen mit den Themen auseinander zu setzen.

Insgesamt sechs verschiedene didaktische Prinzipien werden thematisiert – sowohl solche, die Unterricht als Ganzes in den Blick nehmen als auch solche, die stärker Einzelmaßnahmen des Unterrichts fokussieren. Die Auswahl erfolgte, wie der Herausgeber ausführt, vor allem aus pragmatischen, weniger aus empirischen Gründen.

Der erste Beitrag von Ewald Kiel widmet sich der Strukturierung von Unterricht unter dem Aspekt seiner Artikulation. Vorgestellt wird das in der Schweiz stärker rezipierte „AVIVA-Modell“, das im Kontext der Diskussion um kompetenzorientierten Unterricht entwickelt wurde und fünf Lernphasen (Ankommen und Einstimmen, Vorwissen aktivieren, Informieren, Verarbeiten, Auswerten) unterscheidet. Anhand der Filmbeispiele soll der Leser Phasen dieses Modells in Unterrichtssequenzen identifizieren.

Agnes Braune behandelt in ihrem Beitrag das Unterrichtsprinzip „Motivation“, grenzt zunächst die Begriffe „Motiv“, „Motivierung“ und „Motivation“ voneinander ab und fasst die bekannte Selbstbestimmungstheorie nach Deci und Ryan zusammen. Das im Kontext des Instruktionsdesigns entwickelte ARCS-Modell von Keller, das motivationale Bedingungen für Lernende konkretisiert und Anwendung insbesondere im Bereich multimedialer Lernumgebungen gefunden hat, dient anschließend als Grundlage für die Arbeit mit den Filmsequenzen: Der Leser soll Verhaltensweisen von Lehrkräften, die für Schüler motivierend sein können, beobachten und den verschiedenen Motivationsstrategien des ACRS-Modells zuordnen. Eine gelungene kleinere Aufgabe zur Vertiefung ist das Fallbeispiel einer Referendarin zu einer kritischen Unterrichtssituation, das lösungsorientiert analysiert und mit dem zuvor Gelernten in Beziehung gesetzt werden soll.

Mit dem Unterrichtsprinzip der „Differenzierung“ setzt sich Wolf-Thorsten Saalfrank auseinander. In einer präzisen und verständlichen Darstellung gibt er dem Leser einen Überblick über äußere und innere Differenzierungsmaßnahmen und geht kurz auf Möglichkeiten der individualisierten Leistungsbeurteilung ein, wobei er insbesondere die Arbeit mit Portfolios befürwortet. Eine abschließende Zusammenfassung zu den Dimensionen der äußeren und inneren Differenzierung lehnt sich an das Modell zur Differenzierung von Liane Paradies und Hans Jürgen Linser an, auch wenn dieses nicht immer trennscharf sei, wie der Autor selbst einräumt. Als Vertiefung wird auf das bekannte Modell von Wolfgang Klafki und Hermann Stöcker verwiesen. Die filmbezogenen Aufgaben fordern den Leser auf, Differenzierungsmaßnahmen in Filmsequenzen zu erkennen und zu bewerten, diese den vorgestellten Dimensionen der Differenzierung zuzuordnen und alternative Differenzierungsmaßnahmen zu erarbeiten.

Sabine Weiß widmet sich in ihrem Beitrag dem Unterrichtsprinzip „Veranschaulichung“. Die Autorin eröffnet einen breiten theoretischen Rahmen, indem sie ausgehend von Erkenntnissen Immanuel Kants auf Theorien dualer Codierung, die Kognitionstheorie Jean Piagets, Repräsentationsformen des Wissens nach Jerome Bruner sowie auf das generische Lernen nach Martin Wagenschein eingeht. Ein Exkurs zum Thema „Umgang mit Beispielen“ gibt praxisbezogene Unterrichtshinweise, wobei sich die Autorin auf amerikanische Veröffentlichungen aus der „Instructional Design Theory“ bezieht. Ein Kapitel zur „Umsetzung von Veranschaulichungen im Unterricht“ beinhaltet u.a. eine tabellarische Übersicht zur Eignung und den Vor- und Nachteilen von Unterrichtsmedien sowie konkrete Handlungsanweisungen in Form imperativer Formulierungen. Hierbei gelingt es der Autorin, ihre Ausführungen an die vorhandenen Arbeiten namhafter Fachvertreter anzuknüpfen. In den filmbezogenen Aufgaben sollen Mittel von Veranschaulichungen identifiziert und diese vor dem Hintergrund der Konzepte Bruners und Allan Paivios analysiert werden, wobei der Leser Schwierigkeiten haben könnte, zu verstehen, was in der Aufgabenformulierung unter „Forderungen und Richtlinien von Bruner und Paivio“ (118) gemeint ist. Eine zusammenfassende Übersicht zu den theoretischen Positionen beider Wissenschaftler wäre zur Bearbeitung der Aufgabe hilfreich.

Ebenfalls von Sabine Weiß stammt der Beitrag zur Förderung von Kreativität, der zunächst einen systematischen Überblick über den theoretischen Hintergrund zu diesem nicht einheitlich gefassten Konstrukt gibt. Das folgende Kapitel zur Kreativitätsförderung enthält weitgehend allgemein-abstrakt gehaltene Handlungsanweisungen zur kreativitätsfördernden Gestaltung des Unterrichts. So führt die Autorin aus, dass die Lehr- und Lernumgebung „anregungsreich“ und durch ein „vielfältiges Materialangebot“ geprägt sein sollte (133). Zur Förderung der Persönlichkeit des Schülers sei es zudem wichtig, „kreativen Persönlichkeitsmerkmalen und Fähigkeiten einen Platz in Unterricht und Lernen“ (137) zu geben, etwa durch einen wertschätzenden Umgang mit originellen Ideen von Schülern. Die Arbeit mit den Filmausschnitten dient u.a. dazu, die Gestaltung der Lehr- und Lernumgebung sowie der Problem- und Aufgabenstellung im Hinblick auf kreativitätsfördernde Merkmale zu analysieren.

Der abschließende Beitrag von Thomas Lerche behandelt das Unterrichtsprinzip „Übung“ vor dem Hintergrund der Lehr-Lernforschung. Der Autor skizziert die Bedeutung des Übens beim Wissens- bzw. Expertiseerwerb und zeigt Konsequenzen für die Unterrichtsgestaltung auf. Die bisher in dem Sammelband thematisierten Unterrichtsprinzipien werden erneut im Hinblick auf Möglichkeiten der Unterstützung von Übung in den Blick genommen. Die handlungsorientierten Empfehlungen für die Umsetzung des Prinzips im Unterricht beziehen sich insbesondere auf Kriterien zur Gestaltung von Übungsaufgaben, die anhand eines Positivbeispiels aus der bekannten „Jasper-Serie“ des Anchored Instruction-Ansatzes verdeutlicht werden. In den Filmausschnitten soll der Leser u.a. Übungsmaßnahmen von Lehrkräften identifizieren, mit Hilfe der zuvor dargestellten Umsetzungsvorschläge bewerten und mögliche Alternativen erarbeiten.

Der Band richtet sich vor allem an Lehramtsstudierende und als solcher ist er gelungen. Lehrbücher besitzen stets die Gefahr, dass vor dem Hintergrund des Ziels einer möglichst hohen Verständlichkeit die Theorie verkürzt wird oder zu sehr praxisbezogene Tipps im Sinne einer wenig differenzierten Ratgeberliteratur gegeben werden. Beides ist nicht der Fall. Den Autoren gelingt ein fundierter und übersichtlich strukturierter Überblick über den aktuellen Wissensstand ausgewählter Unterrichtsprinzipien in einer für die Adressatengruppe des Buches verständlichen Sprache. Die filmgeleiteten Aufgaben bieten Gelegenheit, sich im Sinne einer Verknüpfung von Theorie und Praxis mit den Beiträgen nochmals praxisbezogen auseinanderzusetzen und zeigen gleichzeitig die Grenzen der unmittelbaren Anwendbarkeit von didaktischen Handlungsempfehlungen in spezifischen situativen Kontexten auf. Der Sammelband eignet sich nicht nur als einführende Lektüre für Studierende, sondern erscheint ebenso zum Einsatz in Lehrveranstaltungen geeignet, wenngleich angemerkt werden muss, dass man den beigefügten Filmbeispielen, die aus dem Archiv der Unterrichtsmitschau der LMU München stammen, ihr mitunter weit zurückliegendes Entstehungsdatum durchaus anmerkt.
Andreas Bach (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andreas Bach: Rezension von: Kiel, Ewald (Hg.): Unterricht sehen, analysieren, gestalten, 2., überarbeitete Auflage. Stuttgart/Bad Heilbrunn: UTB/Klinkhardt 2012. In: EWR 11 (2012), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978382523702.html