EWR 20 (2021), Nr. 3 (Mai/Juni)

Peter Rahn/Karl August Chassé (Hrsg.)
Handbuch Kinderarmut
Opladen und Toronto / Stuttgart: Verlag Barbara Budrich / UTB 2020
(388 S.; ISBN 978-3-8252-5356-1; 39,90 EUR)
Handbuch Kinderarmut Mit dem gut 380 Seiten starken Handbuch Kinderarmut liegt ein gleichermaßen übersichtliches wie ein- und weiterführendes Werk vor, das lange überfällig war. Umso mehr erfreut die einschlägige Expertise der Autor*innen aus den Erziehungs- und Sozialwissenschaften, die in 38 Beiträgen und fünf Themengebieten zu Wort kommen. Schon der Aufbau macht deutlich, dass die Herausgeber das Thema Kinderarmut multidimensional und aus verschiedenen disziplinären Perspektiven beleuchten (Themengebiet 1: Perspektiven auf Kinderarmut), es vielfältig modulieren (Themengebiet 2: Facetten von Kinderarmut), die Rolle der Institutionen in den Blick nehmen (Themengebiet 3: institutionalisierte Praxen), unterschiedlichste Gegenstrategien präsentieren (Themengebiet 4: Zwischen Kinderarmutsprävention und -bekämpfung) sowie – besonders symphatisch – Utopien anzustoßen versuchen (Themengebiet 5: Utopien).

Im ersten Themengebiet wird Kinderarmut multiperspektivisch betrachtet. Susanne Gerull gibt einen differenzierten Überblick über die Gemengelage des vielfältigen Armutsbegriffs. Karl August Chassé greift das Lebenslagenkonzept als eine etablierte Theoriefolie heraus, das ermögliche, Armut im Kontext gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse zu betrachten und sich gleichsam im politischen Feld als anschlussfähig erweist. Franz Neuberger und Maksim Hübenthal argumentieren für eine differenzierende Betrachtung von Kinder- und Familienarmut und plädieren für eine „kindheitseigenständige Dimension“ (S. 53) des Phänomens, ohne Kindheit zu verzweckmäßigen oder Elternschaft und Familie zu moralisieren. Nach dieser Perspektivenschärfung beleuchten Sabine Walper und Julia Reim über den Einbezug eines Potpourris internationaler Studien zu gesundheitlichen Folgen von Kinderarmut die „Sozialisationsfaktoren“ kindlicher Entwicklung (S. 61). Eine sozialpolitische Betrachtung des „nicht-herrschaftsfreie[n] Armutsdiskurs[es]“ (S. 65) legt Jörg Reitzig vor, der v.a. auch auf einen Anstieg des Vermögens hinweist. Rita Braches-Chyrek zeichnet historische Kontinuitäten und Diskontinuitäten des Kinderarmutsdiskurses zu den gegenwärtigen Diskussionen auf. Den Abschluss des Kapitels bildet Nadine Seddigs Plädoyer für eine kindfokussierte Kinderarmutsforschung. Im Kern finden sich hier unterschiedliche fachliche und disziplinäre Blickrichtungen auf Kinderarmut, deren multiperspektivische Synthese für weitere Forschungsarbeiten jedoch noch aussteht.

In Themengebiet 2 werden strukturelle und individuelle Facetten von Kinderarmut in den Blick genommen – bisweilen grundiert über empirische Arbeiten der Autor*innen. Zwei quantitative Beiträge richten den Blick auf zeitliche Dimensionen: zunächst stellt Sonja Fehr heraus, dass sich Kinderarmut insgesamt verzeitigt, also zu einer nicht unwahrscheinlichen Lebenslage im Aufwachsen von Kindern geworden ist und gleichzeitig verstetigt über sozialstrukturell nicht gelöste Problematiken einer fehlenden finanziellen Unterstützung bestimmter Familien. Sodann stellt Silke Tophoven die unterschiedlichen Armutsmuster sowie die Gefahr einer Verfestigung von Armutslagen in der Kindheit heraus. Daran schließt sich die Betrachtung von Raum an: Katharina Knüttel und Volker Kersting eröffnen eine sozialräumliche Perspektive über den Einbezug der Segregationsthematik, die über den Stadt-Land-Kontrast von Margit Stein und Daniela Steenkamp weitergeführt, sowie mit einem bourdieu’schen Raumkonzept abgeschlossen wird, mit dem Karl August Chassé und Peter Rahn für eine milieubezogene Reflexion von Bildungsangeboten werben. Die Bildungsthematik, die hier bereits eingeläutet wird, greift der Beitrag von Jacqueline Eidemann und Kolleg*innen auf, in dem sie den Begriff Bildungsarmut definieren. Auch wenn die Autor*innen hier größtenteils davon absehen, Stereotype und Stigmatisierungen zu reproduzieren, so ist dies dem Begriff mittlerweile inhärent (dazu Simon 2021). Nadia Kutschers differenzierter Beitrag zu Kinderarmut und digitalen Medien indes räumt mit Vorurteilen z.B. in Bezug auf Mediennutzung auf und hebt die Funktion des digitalen Bildungsraumes hervor. Carolin Butterwegge zeichnet die nachvollziehbare These der Ethnisierung von Kinderarmut nach. Quantitativ wird dabei eine fehlende strukturelle Unterstützung der neuangekommenen Familien deutlich, wobei hier leider nur randständig auf rassistische institutionalisierte Diskriminierungsprozesse und Strukturen hingewiesen wird.

Alexandra Klein und Jann Schweitzer stellen in ihrem sehr lesenswerten Beitrag die im Familien- und Kinderarmutsdiskurs verwobenen, abwertenden, teils rechtspopulistischen Deutungsmuster über vernachlässigende Mütter heraus und können so die geschlechtsbezogene Dimension von Armut v.a. in der Diskussion um gute und verantwortete Mutterschaft herausarbeiten. Als weitere Facetten werden die bereits in Teil 1 aufgerufenen Themen gesundheitliche Teilhabe (Antje Richter-Kornweitz), sowie die seit 20 Jahren vehement eingeforderte Kindperspektive auf Armut nochmals skizziert (Peter Rahn).

Themengebiet 3 startet mit einem Beitrag von Davina Höblich zur Rolle von Peer-Beziehungen bei der Bewältigung von Armut, wird anschließend fortgeführt mit Ronald Lutz „erschöpften Familien“ im Kontext von Armutslagen und kommt dann konsequent zur Rolle von Kindertageseinrichtungen (Kirsten Fuchs-Rechlin) und Grundschule (Susanne Miller), wobei hier insbesondere auf die Reproduktionskraft der Institutionen verwiesen wird. Sebastian Wachs und Kolleg*innen machen die Rolle von Schule bei der Bekämpfung von Kinderarmut stark, ohne das meritokratische Versprechen oder eine Pädagogisierung sozialer Ungleichheiten kritisch zu reflektieren. Zu fordern, dass „mehr Forschung notwendig ist, um zu verstehen, wodurch Leistungsdifferenzen in der Schulkarriere armer Schüler_innen […] entstehen“ (S. 240) ist nur dann plausibel, wenn alle vorliegenden Befunde, die an Bourdieu und Passerons Studien zur Illusion der Chancengleichheit anknüpfen, ignoriert werden. Viktoria Häußermann fokussiert anschließend Schulsozialarbeit und stellt heraus, dass konkretes Wissen zum Thema Armut den Professionellen dort noch fehlt aber notwendig ist, um Exklusion entgegenzuwirken.

Abschließend werden die Hilfen zur Erziehung (Ulrich Bürger) sowie die kommunale Jugendhilfeplanung (Heike Förster) skizziert. Insgesamt findet sich in diesem Themengebiet eine Inblicknahme unterschiedlicher Institutionen, die in diesen eingelagerten Strukturen und Praktiken. Dabei wird deutlich, wie diese die zwischen einer Reproduktion und Transformation sozialer Ungleichheiten changieren.

Das bisher implizite Spannungsfeld von Prävention und Bekämpfung wird im Themengebiet 4 explizit gemacht. Christoph Butterwegge beleuchtet politische Strategien zur Bekämpfung von Kinderarmut und macht deutlich, dass eine multidimensionale Bearbeitung notwendig ist. Magdalena Joos zeichnet die Bilder von Kinderarmut und guter Kindheit in der Sozialberichterstattung nach. Wolfgang Hammer stellt heraus, dass die Rechtsetzung in Bezug auf sozialstaatliche Transferleistungen und Unterstützungsangebote einen großen Auslegungsspielraum aufweist. Dementsprechend richten diese drei Beiträge ihren Blick auf den Sozialstaat und seine Rolle bei der Tradierung von Verhältnissen, die Armut als eine mögliche Lebenslage für Menschen produzieren. Gerda Holz beleuchtet strukturelle Präventionsaspekte und -ansätze am Beispiel kommunaler Präventionsketten und Detlev Baum blickt auf sozialräumliche und pädagogische Strategien der Armutsbekämpfung. Alexandra Sann und Daniela Salzmann skizzieren Angebote und Möglichkeiten der Frühen Hilfen, Johann M. Gleich stellt Anforderungen an Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen dar und Margherita Zander schließt das Kapitel ab mit einem klassischen Beitrag zur Resilienz. Die skizzierten Inhalte richten sich demnach stärker an angehende Fachkräfte, enthalten mehr Handlungsempfehlungen und -orientierungen denn analytische Blicke oder aktuelle Bezüge zu empirischen Studien.

Im Themengebiet 5 präsentieren drei Autoren ihre Utopien zur Überwindung von Kinderarmut. Manfred Liebel fordert die Zentrierung der Diskussion auf die Perspektive und Forderungen der Kinder und ihre unterschiedlichen Lebenslagen bei gleichzeitiger Reflexion der adultistischen, paternalistischen sowie ethnozentristischen Sichtweisen, die auch in der UN-Kinderrechtskonvention eingelagert sind. Roland Roth präsentiert sozialpolitische Vorschläge zur sozialen Sicherung und den Ausbau der sozialen Infrastruktur als reale Utopien. Holger Ziegler rückt die mit Armut einhergehenden Entfremdungsprozesse bei gleichzeitiger kritischer Beleuchtung von Möglichkeitsräumen im Kontext gesellschaftlicher Widersprüche ins Zentrum seiner Überlegungen. Dementsprechend endet das Handbuch mit der grundsätzlichen und nochmals hervorzuhebenden Beobachtung, dass die Problematisierung von Armut bisweilen „von Fragen nach strukturellen Machtpositionen und Verfügungsgewalten im Produktionssystem entkoppelt“ (S. 372) wird. Daraus resultiert die sinngemäße Forderung, emanzipatorische Ansätze zu Armutsbewältigung, -bekämpfung und -folgenbearbeitung nie von Fragen, die sich mit der Persistenz einer Klassengesellschaft auseinandersetzen, abzukoppeln.

Die Vielfalt der in den Beiträgen präsentierten Blickrichtungen und Argumentationslinien macht deutlich, dass eine umfassend zufriedenstellende Perspektive auf Kinderarmut aufgrund der unterschiedlichen, sich auch in den Beiträgen abzeichnenden, Weltdeutungen und politischen Positionierungen gar nicht zu finden ist. Demnach ist an der Utopie festzuhalten, dass die Verhältnisse, die ein Leben in Armut in einem reichen Land wie Deutschland nicht mehr zu einem Möglichkeitsraum machen, der mit Einschränkungen, Benachteiligungen, Stigmatisierungen und Scham verbunden ist, erst noch zu erfinden sind.
Stephanie Simon (Kassel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Stephanie Simon: Rezension von: Rahn, Peter / ChassĂ©, Karl August (Hg.): Handbuch Kinderarmut. Opladen und Toronto: Verlag Barbara Budrich 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 3 (Veröffentlicht am 07.07.2021), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978382525356.html