EWR 14 (2015), Nr. 1 (Januar/Februar)

Andreas Dörpinghaus / Andreas Nießeler (Hrsg.)
Dinge in der Welt der Bildung - Bildung in der Welt der Dinge
WĂŒrzburg: Könighausen & Neumann 2012
(172 S.; ISBN 978-3-8260-4635-3; 19,80 EUR)
Dinge in der Welt der Bildung - Bildung in der Welt der Dinge Wie die Inversion im Titel vermuten lĂ€sst, versammelt der Band zum einen BeitrĂ€ge, die – von den Dingen ausgehend – deren Erkenntnis ermöglichenden oder deren pĂ€dagogisch-praktischen Gehalt herausstellen und damit nach der Bedeutung der Dinge fĂŒr Bildungsprozesse fragen. Zum anderen werden die Dinge zunĂ€chst in nicht bereits pĂ€dagogisch funktionalisierter Weise auf ihre Eigenheit hin betrachtet, welche zu Erfahrungs-, Lern-, und Bildungsprozessen anregt. Die Rezension folgt der im Band angelegten Reihung der BeitrĂ€ge, wobei eine relative AusfĂŒhrlichkeit der Darstellung auf einige Positionen beschrĂ€nkt bleiben muss.

Der Band geht, wie einleitend bemerkt wird, aus einem 2010 abgehaltenen Symposium der Klasse „Bildung und Kultur“ der WĂŒrzburger Graduiertenschule fĂŒr Geisteswissenschaft hervor. BeitrĂ€ge von Andreas Dörpinghaus und Ina K. Uphoff, von Ludwig Duncker und von Egbert Witte wurden darĂŒber hinaus in den Band aufgenommen (9).

KĂ€te Meyer-Drawe greift mit „EmpfĂ€nglichsein fĂŒr die Welt. Ein Beitrag zur Bildungstheorie“ eingangs die Trennung zwischen „Ich“ und „Welt“ auf, die mit dem Bildungskonzept Wilhelm von Humboldts dominant werde. Diese Trennung fĂŒhre zu einer Frontstellung zwischen Subjekt und Objekt. Der daraus hĂ€ufig resultierenden VerfĂŒgungsgewalt des Subjekts ĂŒber die Dinge stellt Meyer-Drawe eine alternative Deutung des Bildungsbegriffs des Subjekts gegenĂŒber, die sich als „Antwort auf fremde AnsprĂŒche, ohne je das letzte Wort zu finden“ (15) zeige. In diesem VerstĂ€ndnis des Subjekts und seiner Auseinandersetzung mit den Dingen wĂŒrden EmpfĂ€nglichkeit und Erfahrung zu den zentralen Kategorien des Bildungsprozesses. Dabei hebt Meyer-Drawe die Überraschungsmöglichkeit und die UnverfĂŒgbarkeit von Erfahrung und EmpfĂ€nglichkeit hervor. Zugleich rĂ€umt sie den Verdacht einer metaphysisch-ontologischen EigenstĂ€ndigkeit der Dinge aus. Vielmehr zeige sich deren Ausdruckskraft in der menschlichen Antwort auf den Sinneseindruck (z. B. sehend, riechend), der durch die Dinge veranlasst werde. In Kontrast zu einem rationalistischen Bildungsbegriff, der von der SelbstermĂ€chtigung des Subjekts getragen sei, das die Dinge der Vernunft unterwerfe, beugten sich die Dinge nicht „dem Diktat des Denkens“ (21). Die Dinge stifteten zur Sinngebung an, allerdings ohne mit dem Subjekt einen Dialog auszutragen (vgl. 21). Hieran anschließend wirft Meyer-Drawe die Frage auf, was mit dem Postulat der „Hingabe an die Sache“ gemeint sein könne. Eine mögliche Antwort sieht die Autorin im Prozess der Artikulation, des Zur-Sprache-Bringens. Dabei wird allerdings nicht an die humboldtsche Sprachtheorie angeknĂŒpft, in der die GegenĂŒberstellung zwischen Subjekt und Objekt im Prozess der Begriffsbildung aufgelöst wird. Stattdessen macht die Autorin ein phĂ€nomenologisches VerstĂ€ndnis von Sprache stark, welches sich zwischen Enttarnung und VerhĂŒllung der Dinge bewege. Mit dieser Bewegung werde zugleich ein obliquer Blick auf das VerhĂ€ltnis von Subjekt und Ding möglich, der sich als Bezeichnung von Etwas als Etwas darstellen lasse (vgl. 23). Mit dieser Bezeichnung schreibe das Subjekt nicht fest und verfĂŒge nicht ĂŒber die Dinge. Sie stelle sich vielmehr als Offenhalten dar fĂŒr eine Art der Erfahrung, die einen Spielraum zwischen „Appell“ und „Antwort“ (23) gewĂ€hre.

Egbert Witte beleuchtet unter dem Titel „Labyrinth und Fluidum. Metaphorologische Vorbemerkungen zum Bildungsgehalt der Dinge bei Comenius und Bacon“ zwei „Varianten eines neuzeitlichen Realismus in der PĂ€dagogik“ (31). Dazu stellt er zunĂ€chst die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Denker vor. Dem besonderen VerhĂ€ltnis des Menschen zu den Dingen nĂ€hert er sich anschließend mithilfe der vergleichenden Analyse der Metaphern des Labyrinths und des Fließens, die von beiden Denkern herangezogen wurden. In Comenius‘ pansophischer Vorstellung der Welterfahrung stelle die Metapher des Labyrinths zwar eine Existenzform menschlichen Lebens dar, sie weise diesem Irrgarten jedoch zugleich den Status zu, „lediglich einen Durchgangspunkt hin zum Weg zu Gott“ (44) zu markieren. In der bĂŒrgerlich-utilitaristischen Sichtweise Bacons stehe demgegenĂŒber das Bild des Labyrinths fĂŒr eine Ablösung von göttlicher Vorbestimmung zugunsten naturwissenschaftlicher Erkenntnis. In Ă€hnlicher Weise analysiert Witte auch die Deutungen der Metaphern des Fließens. Die unterschiedliche Sicht auf die Dinge, die in der jeweiligen Verwendung der Bilder deutlich wird, dokumentiere einen „Epochenumbruch in Wahrnehmung und Denken, der auch auf den Bildungsgehalt der Dinge durchschlagen dĂŒrfte“ (51). Diesem Aspekt geht der Autor nicht mehr nĂ€her nach. Das ist insofern etwas bedauerlich, als die Lesenden, welche mit frĂŒhneuzeitlicher Philosophie weniger vertraut sind, darĂŒber gerne Genaueres erfahren hĂ€tten.

Claus Stieve erörtert das VerhĂ€ltnis zwischen Kind und Ding aus frĂŒhpĂ€dagogischer Sicht in „Arrangierte Bildung. Dinge und Kind des Kindergartens“. Im Anschluss an die These, dass der Bildungsprozess im Kindergarten didaktisch indirekt ĂŒber die Schaffung von Spiel- und Lernsituationen angeregt werde (vgl. 58), komme der Auswahl und dem Arrangement der GegenstĂ€nde eine besondere Bedeutung zu (vgl. 59). Das Spannungsfeld zwischen SelbsttĂ€tigkeit respektive eigenstĂ€ndiger Sinngebung und pĂ€dagogischer Intention wird, unter Hinzunahme historischer AnsĂ€tze (Fröbel, Montessori), kritisch reflektiert. Mit der Anspielung auf den Freiheitsbegriff Humboldts wird die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, dass das Kind eine an sein leiblich-pathisches Vorwissen (vgl. 79) gebundene EigenstĂ€ndigkeit besitze, die sich den Intentionen arrangierter BildungsgegenstĂ€nde ebenso entziehe wie sie nicht in bloßem Konstruktivismus aufgehe. Das biete eine interessante Reflexionsfolie fĂŒr situationsbedingte oder ko-konstruktive AnsĂ€tze der FrĂŒhpĂ€dagogik. Diese laufe Gefahr, vorschnell von der Wirkungsmacht der Situation auszugehen oder das Kind als selbstĂ€ndigen Akteur zu ĂŒberschĂ€tzen. Damit rĂŒckt der Autor ins Bewusstsein, dass die Autonomie des Kindes zwar immer beschrĂ€nkt bleibe durch die „Offenheit und in den BrĂŒchen des Feldes“ (80), in dem es sich bewege, dass es aber zugleich die Freiheit besitze, den „SinnĂŒberschuss“ und die Mehrdeutigkeit der Dinge nach seinem jeweiligen Können und Wollen auch im Widerspruch zu pĂ€dagogischen Absichten zu gestalten.

Heidemarie Kemnitz und Barbara Zschiesche weiten mit „Bemerkenswerte Dinge. Zur Be-Deutung von SchĂŒlerfotos zum Thema beliebte und unbeliebte Orte in der Schule“ die Thematik auf Orte und RĂ€umlichkeiten aus. Sie stellen das Foto (des Ortes) als Objekt der Interpretation heraus und befragen den Prozess des Fotografierens selbst auf seinen bildungstheoretischen Gehalt, wobei hier eher eine bestimmte Form des Lernens und der Erfahrung im Vordergrund stehen. Weil die Fotografie „die Dinge durch ihre Ausschnitthaftigkeit ihrem ursprĂŒnglichen Umfeld und Alltagskontext“ (96) entreiße, seien RĂŒckschlĂŒsse auf bewusste Entscheidungen der SchĂŒler_innen möglich, die bspw. in der Motivwahl, der Wahl des Standpunktes des Fotografierenden und der anschließenden Dokumentation ersichtlich wĂŒrden. Die Autorinnen erlĂ€utern dies am Beispiel eines bestimmten Objekts, dass im Rahmen ihres Projekts hĂ€ufig von den SchĂŒler_innen als Motiv ausgewĂ€hlt wurde.

Andreas Nießeler stellt die Frage: „Copeis Milchdose. Ein Ding mit Bildungsgehalt?“ Mit seiner Antwort fasst er die zentralen Aspekte des bildenden Gehalts eines Gegenstandes, der als solcher zunĂ€chst nicht als pĂ€dagogischer oder gar bildender Gegenstand verstanden wird, zusammen. Im Ausgang von der Bedeutung der „AuthentizitĂ€t der Dinglichkeit“ (123, vgl. 124) legt er dar, unter welchen Voraussetzungen Dinge aus dem alltĂ€glichen Gebrauch Bildungsprozesse einleiten könnten. Problematisiert wird die Rolle des PĂ€dagogen, ein anfĂ€ngliches Affiziert-Werden in bestimmte, nĂ€mlich naturwissenschaftliches Wissen vermittelnde Bahnen zu lenken. Dennoch scheint die Lenkung des PĂ€dagogen unentbehrlich. Nicht ganz ĂŒberzeugend ist die These, die Auseinandersetzung mit den GegenstĂ€nden diene aber nicht nur dem Verstehen von SachzusammenhĂ€ngen. „Bildungswirksam“ sei „vielmehr die Erfahrung des Ich, die Selbstgewissheit, dass dieses Verstehen das Werk des Subjekts selbst ist [...]“ (126). Damit relativiert Nießeler die Erfahrung der „unverfĂŒgbaren Dimension der Dinge“ und gibt dem Bildungsprozess die subjektivistische Bedeutung, welche doch gerade im durch die Dinge „initiierten Wechselspiel von Unbestimmtheit und Bestimmtheit“ (127) ĂŒberwunden werden könnte.

Ludwig Duncker trĂ€gt einen Artikel aus Sicht der pĂ€dagogischen Anthropologie bei: „Vom Bildungswert der Dinge – Skizzen einer Anthropologie des Sammelns“. Im Vordergrund steht dabei die TĂ€tigkeit des Sammelns selbst, in dessen Rahmen die Dinge vor allem aufgrund des ihnen entgegenbrachten Interesses, der ihnen gewidmeten Zeit und der Systematik, mit der sie geordnet und arrangiert wĂŒrden, einen „Bildungswert“ besĂ€ĂŸen (133). Im Verlauf des Beitrags werden „wesentliche Parameter einer bildenden TĂ€tigkeit“ (150) expliziert. Dazu zĂ€hlen das nicht auf NĂŒtzlichkeit zielende Sammeln, das Sammeln als kulturelle TĂ€tigkeit, die sich etwa in öffentlichen Sammlungen ausdrĂŒcke, aber auch im privaten Bereich zu finden sei. Sammeln sei ferner die „Kultivierung von Interesse“ und markiere einen „anthropologischen Kern von Bildung“ (138). An dieser Stelle zieht Duncker historische RĂŒckbezĂŒge, u. a. zu Wilhelm von Humboldts Bildungsideal, das „auf das unvoreingenommene und vielfĂ€ltige Erschließen und Verstehen“ der Welt ziele und Freiheit zur Bedingung habe. Dass der Autor daraus unmittelbar eine Analogie zum Sammeln ableitet, da in der „freien BeschĂ€ftigung des Sammlers mit seinen Sammlungen [
] geradezu idealtypisch die Ausbildung von Interesse“ (139) an einem Thema beobachtet werden könne, leuchtet mit Blick auf die Freiheit respektive Freiwilligkeit des Sammelns zwar ein. Zu fragen wĂ€re allerdings, inwiefern mit Humboldts PlĂ€doyer fĂŒr die Mannigfaltigkeit als der zweiten unerlĂ€sslichen Bedingung von Bildung und seiner Forderung nach Proportionierlichkeit nicht geradezu das Sammeln als intensive BeschĂ€ftigung mit nur einem speziellen Gegenstand kritisiert werden mĂŒsste. Duncker erlĂ€utert ferner konkrete Gesichtspunkte des Sammelns, die bildungstheoretisch aufschlussreich seien. Dazu zĂ€hlen die „Erweiterung von Wissen und Kenntnissen“ (141–145), die mit dem Anlegen von Sammlungen verbundene „Pflege eines kulturellen GedĂ€chtnisses“ (145–148) und die „Sammlungen als Spiegel der IdentitĂ€t“ (148–150). Im ResĂŒmee werden die unterschiedlichen Parameter unter dem Aspekt der „Hingabe“ an die „Dinge“ zusammengefĂŒhrt.

Ina Katharina Uphoff und Andreas Dörpinghaus richten die Aufmerksamkeit in ihrem Beitrag „Die andere Zeit der Dinge. Ein metaphysischer GrenzĂŒbertritt“ auf die besondere Zeitstruktur, die die Dinge vorgĂ€ben. Nach einer Umschreibung des Ding-Begriffs folgt die Problematisierung, die Dinge als bloße Tatsachen deuten zu wollen. Im anschließenden Kapitel zur „Wilde[n] MaterialitĂ€t“ (155–158) werden die eigenwillige Struktur der Dinge und ihre rĂ€tselhafte UnverfĂŒgbarkeit herausgestellt. Auch der Ă€sthetischen Gehalt der Dinge zeige, dass die „Dinge in ihrer MaterialitĂ€t nicht dem Diktat unserer Zeitmessung“ (162) gehorchten. In der Zuwendung zu ihnen werde uns gerade „Zeit“ geschenkt (163). Die Autoren erlĂ€utern die damit verbundenen bildungstheoretischen Konsequenzen, die hier nicht im Einzelnen aufgefĂŒhrt werden sollen.

Mit seiner ausgesprochen breiten Thematisierung der VerhĂ€ltnisbestimmung von Bildung und Dingen und mit dem unterschiedlichen Voraussetzungsniveau zur LektĂŒre der BeitrĂ€ge wendet sich der Sammelband sowohl an eine thematisch noch unvorbereitete als auch eine fortgeschrittene Leserschaft. Studierenden bieten einzelne BeitrĂ€ge mit ihren jeweils spezifischen AnsĂ€tzen und thematischen Einlassungen Anregung zur Vertiefung ihrer Forschungsinteressen. Der Band gibt Fachkolleg_innen einen Einblick in die Ausdifferenzierung des Diskurses. Wer mit der Thematik vertraut ist, wird nicht durchgĂ€ngig zu neuen Erkenntnissen gelangen. Was den Band auszeichnet und ihn abhebt von jĂŒngeren Publikationen, die um das Thema zentriert sind, ist die Breite in einem nicht nur kumulativen, sondern durchaus heterogenen Sinne: Erfreulich ist, dass das Thema nicht ausschließlich an den Dualismus zwischen Subjekt und Objekt gebunden bleibt. Der Zusammenhang zwischen Dingen und Bildung wird nicht auf didaktische Fragen respektive auf die pĂ€dagogische Praxis reduziert. Der nicht immer unproblematischen Ausweitung des Bildungsbegriffs, die sich in einigen BeitrĂ€gen in der fraglosen Synonymverwendung von Bildung, Wissen, Erfahrung und Lernen zeigt, steht eine weite Fassung des Ding-Begriffs ‚versöhnend‘ zur Seite. Sie erlaubt auch eine nicht-materielle Auslegung der Dinge, die den Diskurs insgesamt befruchtet. Damit eröffnet der Band einige bildungstheoretische Perspektiven, die zu weiteren Bestimmungsversuchen des Zusammenhangs von Bildung und Dingen herausfordern.
Jutta Breithausen (Wuppertal)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jutta Breithausen: Rezension von: Dörpinghaus, Andreas / Nießeler, Andreas (Hg.): Dinge in der Welt der Bildung, Bildung in der Welt der Dinge. WĂŒrzburg: Könighausen & Neumann 2012. In: EWR 14 (2015), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978382604635.html