EWR 12 (2013), Nr. 4 (Juli/August)

Sammelrezension Alphabetisierung und Grundbildung – Teil II

Anke GrotlĂŒschen / Rudolf Kretschmann / Eva Quante-Brandt / Karsten D. Wolf (Hrsg.)
Alphabetisierung und Grundbildung. Band 6
LiteralitÀtsentwicklung von ArbeitskrÀften
MĂŒnster, New York, MĂŒnchen, Berlin: Waxmann 2011
(240 S.; ISBN 978-3-8309-2471-5; 29,90 EUR)
Birte Egloff / Anke GrotlĂŒschen (Hrsg.)
Alphabetisierung und Grundbildung. Band 7
Forschen im Feld der Alphabetisierung und Grundbildung. Ein Werkstattbuch
MĂŒnster, New York, MĂŒnchen, Berlin: Waxmann 2011
(244 S.; ISBN 978-3-8309-2463-0; 29,90 EUR)
Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. Joachim Bothe (Hrsg.)
Alphabetisierung und Grundbildung. Band 8
Funktionaler Analphabetismus im Kontext von Familie und Partnerschaft
MĂŒnster, New York, MĂŒnchen, Berlin: Waxmann 2011
(264 S.; ISBN 978-3-8309-2536-1; 19,90 EUR)
Anke GrotlĂŒschen / Wiebke Riekmann (Hrsg.)
Alphabetisierung und Grundbildung. Band 10
Funktionaler Analphabetismus in Deutschland
MĂŒnster, New York, MĂŒnchen, Berlin: Waxmann 2012
(300 S.; ISBN 978-3-8309-2775-4; 36,90 EUR)
Alphabetisierung und Grundbildung. Band 6 Alphabetisierung und Grundbildung. Band 7 Alphabetisierung und Grundbildung. Band 8 Alphabetisierung und Grundbildung. Band 10 Im Folgenden wird die in der letzten Ausgabe der EWR begonnene Besprechung der vom Bundesverband Alphabetiserung und Grundbildung e.V. herausgegebenen Reihe „Alphabetisierung und Grundbildung“ [1] fĂŒr die BĂ€nde 6 bis 8 und 10 fortgesetzt. (Band 9 ist bislang noch nicht erschienen.)

Noch deutlicher als die ersten fĂŒnf BĂ€nde legen die BĂ€nde 6 bis 10 ihren Fokus auf das Thema Analphabetismus und Erwerbsarbeit. Mit Ausnahme von Band 8 referieren sie ForschungsansĂ€tze und Ergebnisse des Projektverbundes lea.-LiteralitĂ€tsentwicklung von ArbeitskrĂ€ften, welcher in der ersten Förderphase des BMBF-Förderschwerpunktes „Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ (2008 bis 2010) gefördert wurde.

Band 6 gibt Einblicke in die forschungstheoretischen Grundlagen des Projektverbundes lea.-LiteralitĂ€tsentwicklung von ArbeitskrĂ€ften, insbesondere in die sonder- und berufspĂ€dagogischen Grundlagen der Förderdiagnostik und Kompetenzmessung, auf deren Basis die lea.-Diagnostik, das Kompetenzverfahren „LeseverstĂ€ndnis“ (KLV) entwickelt wurde. Kritisiert wird, dass bisherige Alphabetisierungsangebote oft an den Voraussetzungen und Interessen Erwachsener vorbei gehen. Es sei unklar, wie Erwachsene schriftsprachliche FĂ€higkeiten erwerben. Anke GrotlĂŒschen formuliert, dass dafĂŒr oft mit Schulmaterial gearbeitet werde, welches nicht nur die Lebenswelten Erwachsener außer Acht lasse, sondern Erwachsene darĂŒber hinaus zu kindlichen und unselbststĂ€ndigen Teilnehmenden mache. Ausgehend davon wirft sie einen Blick in die Geschichte der LiteralitĂ€ts- und Alphabetisierungsforschung. Sie sucht dabei – auch im internationalen Raum – nach Begriffsbestimmungen, die fĂŒr eine moderne Alphabetisierungsarbeit in Deutschland verwendbar sein könnten. Die Autorin macht deutlich, dass LiteralitĂ€t nicht als ein dichotomes Modell im Sinne von „kann lesen – kann nicht lesen“ verstanden werden kann. LiteralitĂ€t bewege sich vielmehr in einem Kontinuum. Diese Befunde ĂŒbersetzt GrotlĂŒschen in ein hierarchisches LiteralitĂ€tsmodell, welches sich – abweichend vom Mainstream – an einem mĂŒndigkeitsorientierten Kompetenzbegriff (Heinrich Roth) orientiert. LiteralitĂ€t meint in diesem Sinne die FĂ€higkeit zur Bildung eigenstĂ€ndiger Urteilskraft.

GrotlĂŒschens Überlegungen sind die Grundlage des Kompetenzverfahrens „LeseverstĂ€ndnis“ (KLV), welches von Rudolf Kretschmann genauer vorgestellt wird. Es wird angenommen, dass es SchĂŒler gibt, die die allgemeinbildende Schule verlassen und nicht ĂŒber ausreichende literale Kompetenzen verfĂŒgen. Das entwickelte Verfahren soll diesen Menschen, sofern sie sich auf dem Weg in das oder bereits im Arbeitsleben befinden, Möglichkeiten zum nachtrĂ€glichen LiteralitĂ€tserwerb eröffnen. Den Bezugsrahmen dafĂŒr stellen verschiedene Diagnosemodelle dar. Einige von ihnen werden in den folgenden BeitrĂ€gen vorgestellt.

Im Beitrag von Alisha M.B. Heinemann wird ein Einblick in die Entwicklung der Alpha-Levels und in die darauf beruhende „erwachsenengerechte Diagnostik“ des KLV gegeben. Speziell in Deutschland sei Alphabetisierung auf die Grundschule beschrĂ€nkt, folglich gĂ€be es kein Material, welches Bezug nimmt auf die Arbeits- und Berufswelt. Mit dem lea.-Universum werde dies nun gewĂ€hrleisten (93). Das lea.-Universum beschreibt erwachsene Personen in der Arbeitswelt. Zusammen mit GrotlĂŒschen erörtert Heinemann im folgenden Beitrag die Bestimmung der Schwierigkeitsgrade und Levels. Das KLV orientiert sich an insgesamt 6 Levels. Level 6 entspricht etwa Level 1 des International Adult Literacy Survey (IALS), wie es auch von PISA verwendet wurde.

Im zweiten Teil des Bandes geht es um konkrete Anwendungsfelder der lea.-Diagnostik. Karsten D. Wolf, Ilka Koppel und Kai Schwedes ĂŒbersetzen die lea.-Diagnostik in eine Onlineversion. Eva Anslinger und Eva Quante-Brandt berichten ĂŒber die Anwendung von Kompetenzfeststellungsverfahren im beruflichen Übergangssystem. Ihr Ziel ist es, AnknĂŒpfungspunkte fĂŒr die Förderung der LiteralitĂ€t junger Erwachsener zu finden, um im zweiten Schritt Lernmaterialien zu entwickeln, die dazu motivieren sollen, Lesen und Schreiben zu lernen. DafĂŒr erörtern die Autorinnen die motivationale Ausgangslage betroffener Jugendlicher. Diese, so ihr Ergebnis, seien im Übergang von der Schule in den Beruf noch sehr motiviert, ihre Lese- und SchreibfĂ€higkeiten zu verbessern, insbesondere dann, wenn konkrete Ziele wie das Erreichen eines Ausbildungsabschlusses in Aussicht stehen. Aus den Herkunftsfamilien der Jugendlichen heraus komme diese Motivation nur bedingt. Sie könne deshalb nur in den Bildungsinstitutionen erzeugt werden. Zusammen mit Anjuscha JĂ€ger und Moritz MĂŒller erörtern die Autorinnen im folgenden Beitrag den Förderkontext, das berufliche Übergangssystem, genauer. Sie gehen dabei zum einen auf die Rahmenbedingungen des Fördersystems ein, zum anderen beschreiben sie die HeterogenitĂ€t und die unterschiedlichen Zugangsvoraussetzungen der Jugendlichen im Übergangssystem sowie die daraus resultierenden Herausforderungen und auch Hemmnisse fĂŒr den Schriftspracherwerb.

Band 7 stellt die Ergebnisse einer Studie zum Verbleib von Teilnehmenden an Alphabetisierungskursen vor. Die Verbleibsstudie setzt sich zusammen aus einer Akzeptanzstudie, einer Panelstudie, einer Biografiestudie und einer Interdependenzstudie. Die Autoren stellen fest, dass es bisher keine Informationen zum Verbleib der Teilnehmenden nach ihrem Kursbesuch gibt. Es ist unbekannt, welche Auswirkungen der Besuch auf die FĂ€higkeit der Teilnehmenden zur eigenstĂ€ndigen LebensbewĂ€ltigung hat. Den Sammelband eröffnet die „Akzeptanzstudie“. Sie fragt nach der Notwendigkeit einer erwachsenengerechten Diagnostik. In verschiedenen BeitrĂ€gen wird betont, dass unklar sei, ob und welche diagnostische Verfahren in Alphabetisierungskursen eingesetzt wĂŒrden. Es sei fraglich, was mit den gewonnen Ergebnissen dieser Verfahren geschehe. Diagnostik werde dabei zunĂ€chst mit dem Messen von LernstĂ€nden assoziiert. Deshalb stoße es bei Lehrenden und auch innerhalb der Zielgruppe immer wieder auf Kritik.

Im Folgenden werden die Begriffe LiteralitĂ€t, Diagnostik, Kompetenz, Analphabetismus und Akzeptanz reflektiert. Bonna und Nienkemper betrachten bspw. Akzeptanz aus ökonomischer und soziologischer Sicht. Die im Werkstattbuch vorgestellten Ergebnisse resultieren aus einer Befragung von Kursleitenden. Bonna und Nienkemper sowie GrotlĂŒschen diskutieren die erhobenen Daten zur Akzeptanz, zum Einsatz und zur Bekanntheit von Diagnoseverfahren in Alphabetisierungskursen. Es zeigt sich, dass ihr Einsatz unter förderdiagnostischen Aspekten auf eine hohe Zustimmung trifft, wĂ€hrend die selektive Diagnostik eher abgelehnt wird (46). ErgĂ€nzt werden die AusfĂŒhrungen von GrotlĂŒschen u.a. durch einen Beitrag von Schmidt-Lauf, Popp und Sanders, welche als Unterstudie der Akzeptanzstudie die regionalen Besonderheiten in Bezug zur Akzeptanz von Diagnostik in Alphabetisierungskursen setzten.

Die Autoren der AlphaPanel-Studie erörtern in ihrem Beitrag die Gruppe der Teilnehmenden, deren Motivation und Integration in das gesellschaftliche Leben genauer. Sie gehen dabei zum einen auf die Zusammensetzung der Lernenden sowie deren berufliche und soziale Teilhabe ein, zum anderen beschreiben sie BrĂŒche im Schriftspracherwerb unter Einbezug der Lese-Rechtschreib-Störung als einer möglichen Ursache fĂŒr funktionalen Analphabetismus. Funktionale Analphabeten, so ein Ergebnis, seien relativ gut eingegliedert, was das PhĂ€nomen der kaum wahrgenommenen Analphabetismusproblematik in der Gesellschaft erklĂ€ren wĂŒrde (109). Gemeinsam mit TNS Infratest und der Humboldt-UniversitĂ€t zu Berlin wurde dafĂŒr ein LĂ€ngsschnitt mit insgesamt drei Erhebungswellen durchgefĂŒhrt. Die AusfĂŒhrungen des Beitrags beruhen auf den Ergebnissen der ersten Erhebungswelle.

Natalie Pape u.a. berichten ĂŒber die Forschungsarbeit der Studie „Interdependenzen von Schriftsprachkompetenz und Aspekten der LebensbewĂ€ltigung“. Ziel dieses Teilprojekts sei es, neben durchfĂŒhrbaren Herangehensweisen in der Alphabetisierungsforschung auch Möglichkeiten der Kooperation von Forschung und Praxis (129) aufzuzeigen sowie die Beziehung zwischen IlliteralitĂ€t und LebensbewĂ€ltigung zu untersuchen. Erfasst wurden die Daten mit zwei qualitativen Befragungen im Abstand von einem Jahr. Als Instrumente zur Erfassung der Lese- und Schreibleistung kamen die Hamburger Schreibprobe (HSP) und die WĂŒrzburger Leise Leseprobe (WLLP) zum Einsatz. Die Autorinnen Deneke und Horch erörtern die gewonnenen Strategieprofile der HSP als einen möglichen Lösungsansatz fĂŒr eine individuelle Förderung in der Alphabetisierungsarbeit. FĂŒr eine optimale Förderung des Lernprozesses sei es wichtig, die Ergebnisse gemeinsam mit den Lernenden zu reflektieren. Einen Einblick in die persönlich wahrgenommene VerĂ€nderung der Schriftsprachkompetenz von Kursteilnehmenden gibt Ingeborg Reese. Kursteilnehmende, so ihr Ergebnis, nehmen einen Zuwachs ihrer Schriftsprachkompetenz, ihres Selbstbewusstseins sowie eine positive Selbstkritik wahr (171).

Die Autoren der „Qualitativen Biographiestudie zur Lebenssituation ehemaliger Teilnehmer“ untersuchen die Biografie der Kursteilnehmenden und setzen diese in Bezug zum Kursbesuch. Ziel sei es, die Auswirkungen des Kursbesuches auf die aktuelle Lebenssituation zu untersuchen (175). Egloff diskutiert die Dauerteilnahme, die Kursunterbrechung oder den KursĂŒbergang sowie das „Drop-Out“ als eine mögliche Beschreibung der „Kursbindung“ (180f). Kursteilnehmende, so ihr Ergebnis, werden selbstbewusster und seien eine heterogene Gruppe. Der Kursbesuch habe im Hinblick auf die individuelle Entwicklung oft eine unterstĂŒtzende Funktion. Dies sei eine mögliche BegrĂŒndung fĂŒr die Dauerteilnahme an Alphabetisierungskursen. Schimpf erörtert in ihrem Beitrag den Kursleitenden-Teilnehmenden Konnex unter Einbeziehung des Interviewmaterials und der Feldbeobachtungen und reflektiert diesen in Bezug auf die aktuelle wissenschaftliche Diskussion in der Erwachsenenbildung.

Band 8 der Reihe dokumentiert die achte Fachtagung „Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland: Familie – Partnerschaft – Generationen“ vom 28. bis 30. Oktober 2010 in Weinheim. Ihre Fragestellung war, wie soziale Beziehungen, z. B. Familie, Partner, Freunde etc., Lernprozesse prĂ€gen, insbesondere den Erwerb der Schriftsprache. Der Tagungsband beschĂ€ftigt sich aus verschiedenen Perspektiven mit dem funktionalen Analphabetismus, zum einen mit den Faktoren seiner Entstehung, aber auch, wie er sich im alltĂ€glichen Leben oder in der Partnerschaft zeigt. Um die Entstehung von funktionalem Analphabetismus zu verstehen, mĂŒssen verschiedene Faktoren wie die Herkunftsmilieus oder Familie nĂ€her betrachtet werden.

Der Band ist in drei große Kapitel unterteilt. Das erste Kapitel „Grundlagen – Forschungsergebnisse – Erfahrungen“ besteht aus zehn verschiedenen BeitrĂ€gen. Peter Hubertus betrachtet die Rolle der Familie und die dort entstehenden Probleme im Lesen und Schreiben. Er zeigt in seinem Beitrag, wie wichtig Vertrauenspersonen fĂŒr funktionale Analphabeten sind. Vertrauenspersonen helfen, die Herausforderungen unserer schriftsprachlich geprĂ€gten Gesellschaft zu bewĂ€ltigen. Die Betroffenen sind sich ĂŒber ihre fehlenden Kompetenzen durchaus bewusst, sehen allerdings immer nur dann Handlungsbedarf, daran etwas zu verĂ€ndern, wenn die Vertrauenspersonen nicht mehr zur VerfĂŒgung stehen.

Sven Nickel beschreibt in seinem Artikel „Familie und IlliteralitĂ€t“ den Einfluss der Familie auf das Bildungsverhalten von Kindern (16).Er diskutiert die LiteralitĂ€t bzw. IlliteralitĂ€t aus soziologischer Perspektive und greift dabei den pĂ€dagogisch-anthropologischen Generationsbegriff auf. Dieser unterscheidet zwischen vermittelnder und aneignender Generation. Eltern gehören zwar zur vermittelnden Generation, verfĂŒgen Kinder jedoch ĂŒber eine höhere LiteralitĂ€t, kann sich das VerhĂ€ltnis von vermittelnder und aneignender Generation verschieben.

In ihrem Beitrag „Analphabetismus im Alter“ diskutieren JĂŒrgen und Annerose Genuneit den bisher kaum wahrgenommenen Analphabetismus der 50- bis 65-JĂ€hrigen in Deutschland. Der Beitrag „Was HĂ€nschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr – und Uwe?“ ist ein GesprĂ€ch von Bettina LĂŒbs mit dem Ehepaar Sabine und Uwe Boldt. Uwe Boldt war funktionaler Analphabet. Er und seine Frau berichten im Interview ĂŒber ihre Schulzeit. Insbesondere Uwe beschreibt seine Schwierigkeiten, die er mit dem Lesen und Schreiben hatte. Deutlich wird dabei, wie wichtig die Familie fĂŒr den Erwerb von Lesen und Schreiben im Kindesalter und wie wichtig das Interesse von Eltern an den schulischen Leistungen von Kindern ist. Eindrucksvoll gibt das Paar in diesem GesprĂ€ch Einblick in seine Beziehung und wie es mit dem funktionalen Analphabetismus von Uwe umgegangen ist.

Im zweiten Kapitel werden sechs „Projekte zur Lese- und Schreibförderung im Kontext von Familien und Generationen“ vorgestellt. Das Berliner Pilotprojekt „AlphaFamilie – GenerationsĂŒbergreifendes Lernen in der Alphabetisierung“ entwickelt zum einen Programme fĂŒr Familien mit Kindern im Alter von 3 bis 6 Jahren, bei denen die Kompetenzen der Kulturtechniken Lesen und Schreiben eher weniger ausgeprĂ€gt sind. Zum anderen richten sich die Programme an Familien, in denen mindestens ein Elternteil ĂŒber geringe literale Kompetenzen verfĂŒgt. Die bestehenden oder aber auch noch zu entwickelnden Förderprogramme sollen dazu beitragen, dass LiteralitĂ€t als soziale Praxis in den Familien gestĂ€rkt wird. Bspw. sollten Eltern mit geringer LiteralitĂ€t bei der FrĂŒhförderung ihrer Kinder unterstĂŒtzt werden. Der Beitrag „Vorlesen in Familien“ – ein sozialprĂ€ventives Projekt mit literaturtherapeutischem Ansatz des „Zentrums fĂŒr Literatur“ an der Phantastischen Bibliothek Wetzlar von Bettina Twrsnick, stellt ein nicht herkömmliches „Vorlese-Projekt“ vor. Es nimmt die Eigeninitiative und Eigenmotivation von bildungsferneren Familien in den Blick. Dieses sozialprĂ€ventive Projekt zielt darauf ab, die Eltern zu stĂ€rken. Dies setzt es mit einem literaturtherapeutischen Ansatz um. Therese Salzmann stellt in ihrem Beitrag „Förderung der Lesesozialisation in Familien mit Migrationshintergrund“ das Projekt „Schenk mir eine Geschichte – Family Literacy“ vor. Dieses Projekt richtet sich an Eltern mit 2- bis 5-jĂ€hrigen Kindern, die zwei- oder mehrsprachig aufwachsen und an die Kinder wie Eltern gleichermaßen. Das Besondere dieses Projektes ist, dass es nicht auf Eltern zielt, die von Analphabetismus betroffen sind. Vielmehr liegt der Fokus auf der FrĂŒhförderung der Erstsprache fĂŒr die Entwicklung sprachlicher und literaler FĂ€higkeiten in der Familie.

Ein weiteres Projekt, das in diesem Band vorgestellt wird ist „SIMBA – gemeinsam Bildung schaffen“. SIMBA meint Sprachförderung Integrieren, Miteinander Bildung Anstreben. Eltern sollen mit Hilfe dieses Ansatzes stĂ€rker in die Bildungsprozesse ihrer Kinder eingebunden werden, indem sie einen Einblick in den Schulalltag ihrer Kinder erhalten. Sie sollen so fĂŒr die schulischen VorgĂ€nge und Gegebenheiten sensibilisiert werden. Brigitte Jacobi stellt anschließend das Projekt „Deutsch in den Ferien“ vor. Es richtet sich an Kinder von VĂ€tern und MĂŒttern in Integrationskursen. Die Idee dafĂŒr entstand aus der Notwendigkeit, den Integrationskursteilnehmenden wĂ€hrend der Unterrichtszeiten in den Sommerferien ein Betreuungsangebot fĂŒr ihre Kinder anbieten zu können. Das letzte Projekt „Text-Checker“ wird von Christiane Möller-Bach und Brigitte Mundt vorgestellt. Dieses richtet sich an SchĂŒler von Bielefelder Gesamt-, Haupt-, Förder- und Realschulen. Teilnehmende des Projektes sind SchĂŒler ab Klasse 7, bei denen ein Förderbedarf deutlich wird. In Fördergruppen erhalten sie die Möglichkeit, ihre schriftsprachlichen FĂ€higkeiten außerhalb des regulĂ€ren Unterrichts zu trainieren und zu verbessern. Negativattributionen und negative Selbstkonzepte sollen verĂ€ndert und dadurch die Motivation zum Gebrauch der Schriftsprache verbessert werden.

Im dritten Kapitel „Lernangebote – Methoden – Beratung“ stellt JĂŒrgen Genuneit zunĂ€chst ein Unterrichtskonzept zum Thema „Liebe und Trennung“ vor. Diese emotionalen Themen beeinflussen in ihren unterschiedlichen Facetten den Unterrichtsalltag sowie die Verhaltensweisen der Lernenden (161). Genuneit vertritt die Auffassung, dass sie, wenn diese Themen offen angesprochen werden und Inhalt von Unterricht sind, ihre Brisanz verlieren und sich positiv auf den Lernerfolg auswirken können. Im Projekt „a3 – Alphabetisierung, Arbeitswelt, Ausbildung“ werden Themenhefte konzipiert, die sich mit Alltagsthemen beschĂ€ftigen, um den Unterricht abwechslungsreich gestalten zu können. Die Autorinnen Heidrun Schumacher und Katrin Stoffeln stellen die Themenhefte „Eltern werden - Eltern sein“ vor. Ute Jaehn-Niesert untersucht in ihrem Beitrag den Sinn systemischer Beratung und Therapie fĂŒr Alphabetisierung und Family Literacy.

Britta BĂŒchner stellt in ihrem Beitrag „Lese-Schreib-Schwierigkeiten in der Familie begegnen“ das Internetprojekt LegaKids.net vor. Dieses Projekt richtet sich an Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten. Im Rahmen dieses Projekts wurde das Lese-Rechtschreib-Monster Lurs als zentrale Figur geschaffen. Lurs steht exemplarisch fĂŒr die Probleme des Lesens und Schreibens. Die Kinder lernen spielerisch das Monster, also Lese- und Schreibschwierigkeiten zu bekĂ€mpfen. Sie lernen, dass sie nicht unbesiegbar sind. FĂŒr Eltern, LehrkrĂ€fte und erwachsene Betroffene, wird ein Informationsportal mit verschiedenen Materialien und Tipps entwickelt.

Abschließend werden in diesem Band die Bernburger Thesen fortgeschrieben. Karen Schramm formuliert außerdem eine kritische Stellungnahme zu fĂŒnf Jahren Integrationskurse und Alphabetisierung. Zudem wird ein PodiumsgesprĂ€ch zum Thema „Erfolge, Schwierigkeiten, Ausblick“ zu fĂŒnf Jahren Integrationskurse und Alphabetisierung mit Alexis Feldmeier, Peter Hubertus und Karen Schramm vorgestellt. Der achte Tagungsband schließt mit den Berichten und Auswertungen der Fachtagung in Weinheim.

Band 10, als bislang letzter Band der Reihe, referiert die Ergebnisse der leo.-Level-One Studie. Die leo.-Level-One Studie – durchgefĂŒhrt an der UniversitĂ€t Hamburg unter Leitung von Anke GrotlĂŒschen, Wibke Riekmann und Klaus Buddeberg – geht der Frage nach der „GrĂ¶ĂŸenordnung des funktionalen Analphabetismus in Deutschland“ sowie der Bedeutung schwacher Lese- und Schreibkompetenzen fĂŒr die Möglichkeit zu gesellschaftlicher Teilhabe nach.
Im Rahmen der Studie wurde eine reprĂ€sentative Erhebung innerhalb der erwerbsfĂ€higen Bevölkerung durchgefĂŒhrt. Durch Zusammensetzung und GrĂ¶ĂŸe der Stichprobe sowie Vergleiche mit Zusatzerhebungen wie dem Alphapanel erlaubt die leo.-Level-One Studie erstmals Aussagen zum Analphabetismus fĂŒr die gesamte Bevölkerung und ermöglicht außerdem eine differenzierte Betrachtung der Schriftsprachkompetenzen auf den unteren Alpha-Levels. Die Reichweite der Aussagen ist ein Novum, denn bisherige Erkenntnisse stĂŒtzen sich vorwiegend auf Daten aus Befragungen mit Teilnehmenden aus Alphabetisierungskursen, die, wie sich in der leo.-Studie herausstellt, eine sehr spezifische Gruppe innerhalb der Analphabeten darstellen und so zu einem verzerrten Bild ĂŒber die GrĂ¶ĂŸenordnung des funktionalen Analphabetismus in Deutschland fĂŒhren.

Eröffnet wird Band 10 mit dem Hauptbeitrag von GrotlĂŒschen, Riekmann und Buddeberg. Darin wird eine EinfĂŒhrung in die Thematik des Analphabetismus sowie eine international vergleichende Zusammenfassung der Hauptergebnisse der leo.-Level-One Studie gegeben. Im folgenden Beitrag widmen sich die Autoren den methodischen Herausforderungen bei der Erstellung der Studie. Frauke Bilger, Robert JĂ€ckle, Bernhard von Rosenbladt und Alexandra Strauß gehen anschließend vertiefend auf die Gestaltung des Studiendesigns, der DurchfĂŒhrung und der Bestimmung der Level-Grenzen der leo.-Level-One Studie ein. Mit dem Ziel, die leo.-Ergebnisse mit den Daten des Alphapanels zu vergleichen, setzen sich Rainer Lehmann, Ulrike Fickler-Strang und Elisabeth MauĂ© in ihrem Artikel mit der Bestimmung schriftsprachlicher FĂ€higkeiten von Teilnehmenden in Alphabetisierungskursen auseinander. Anke GrotlĂŒschen vergleicht im folgenden Beitrag die BeschĂ€ftigungssituation von Teilnehmenden in Alphabetisierungs-Kursen (Alphapanel) mit den Teilnehmern der leo.-Studie. Die Ergebnisse zeigen deutliche Unterschiede zwischen den beiden Stichproben: In Kursen finden sich vermehrt Personen mit sehr geringen Alpha-Levels und sehr ungĂŒnstiger sozioökonomischer Situation. Der Unterschied der Betroffenen außerhalb der Kurse zur Gesamtbevölkerung sei eher gering. Kursteilnehmende stellten also einen sehr spezifischen Teil der Gruppe funktionaler Analphabeten dar, der die Gesamtheit funktionaler Analphabeten nur unzureichend abbilde(152f). Daher mĂŒsse angenommen werden, so die Autoren, dass die literale Kompetenz und die Lebenssituation bzw. die FĂ€higkeit zur AlltagsbewĂ€ltigung funktionaler Analphabeten zumindest partiell schlechter eingeschĂ€tzt wird, als sie tatsĂ€chlich ist.

So bringt die leo.-Level-One Studie – im positiven Sinne – teils ĂŒberraschende Erkenntnisse. Insgesamt zeichnet sie jedoch ein alarmierendes Bild zur LiteralitĂ€t in Deutschland. 7,5 Mio. Menschen bzw. 14,5 % der erwerbsfĂ€higen Bevölkerung können nicht ausreichend lesen und schreiben. Betroffen sind keineswegs nur bildungsferne und sozial schlechter gestellte Menschen. Funktionaler Analphabetismus findet sich in allen Teilen der Gesellschaft: bei MĂ€nnern und Frauen aller Bildungsniveaus, bei jungen und alten Menschen, bei deutschen Muttersprachlern und bei Zweitsprachlern. Die leo.-Level-One Studie zeigt auch auf, dass die Wahrscheinlichkeit, von funktionalem Analphabetismus betroffen zu sein, fĂŒr verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedlich hoch ist.

Im zweiten Teil des Bandes werden die Ergebnisse einer differenzierten Betrachtung hinsichtlich bedeutsamer Einflussfaktoren auf das Risiko, von funktionalem Analphabetismus betroffen zu sein, vorgestellt. So zeigt GrotlĂŒschen ZusammenhĂ€nge zwischen LiteralitĂ€t und ErwerbstĂ€tigkeit auf. Analphabetismus sei kein Ausschlusskriterium fĂŒr ErwerbstĂ€tigkeit, so die Autorin. Analphabeten seien hĂ€ufiger erwerbstĂ€tig als bisher angenommen, wenngleich die Arbeitslosenquote deutlich höher liege als im Bevölkerungsdurchschnitt. Erkennbare Unterschiede gebe es vor allem in der Art der BeschĂ€ftigung und der Bezahlung, welche fĂŒr funktionale Analphabeten meist ungĂŒnstiger ausfiele. So seien bei ungelernten und körperlich schweren TĂ€tigkeiten sowie in prekĂ€ren BeschĂ€ftigungsverhĂ€ltnissen deutlich mehr Betroffene zu finden als in sicheren BeschĂ€ftigungsverhĂ€ltnissen mit anspruchsvollen TĂ€tigkeiten. Riekmann nimmt eine vertiefende Betrachtung der Lebenssituation funktionaler Analphabeten vor. Interessanterweise kommt sie zu dem Ergebnis, dass funktionale Analphabeten weniger von sozialer Exklusion betroffen sind, als bisher angenommen wurde, und sich ihre Lebenssituation nicht wesentlich von der der Gesamtbevölkerung unterscheidet.

Buddeberg untersucht den Zusammenhang zwischen LiteralitĂ€t, Alter und Geschlecht. Er gelangt zu der Feststellung, dass MĂ€nner zwar hĂ€ufiger von funktionalem Analphabetismus betroffen sind als Frauen, das Merkmal Geschlecht jedoch insgesamt nur wenig Einfluss auf die zu erwartende literale Kompetenz hat. Ein Ă€hnlich geringer Einfluss zeigt sich auch hinsichtlich des Alters. So könne die Vermutung, dass vor allem jĂŒngere Menschen unzureichend literalisiert sind, nicht bestĂ€tigt werden. Im Gegenteil mĂŒsse angenommen werden, dass sich durch mangelnde schriftsprachliche Praxis in Beruf und Alltag ein Kompetenzverlust vollzieht, der in höherem Lebensalter stĂ€rker zutage tritt. Der Beitrag von Buddeberg und Riekmann thematisiert die Bedeutung der Erstsprache fĂŒr die LiteralitĂ€t, der Beitrag von GrotlĂŒschen und Sondag die der Schulbildung. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass dies die wichtigsten PrĂ€diktoren seien. So stellen ein fehlender Schulabschluss und eine andere Erstsprache als Deutsch die höchsten Risiken dar, von funktionalem Analphabetismus betroffen zu sein. Bilger untersucht das Weiterbildungsverhalten funktionaler Analphabeten und kommt dabei zu dem Schluss, dass wenig literalisierte Menschen zwar bildungsfern, jedoch nicht bildungsabstinent seien. Den Abschluss des Bandes bildet die Auseinandersetzung Robert JĂ€ckles und Oliver Himmlers mit dem VerhĂ€ltnis zwischen Ökonomie und Analphabetismus.

Die Ergebnisse der leo.-Level-One Studie zeigen insgesamt, dass funktionaler Analphabetismus in Deutschland ein gesellschaftliches Problemfeld darstellt, in dem kĂŒnftig noch viel Forschungsarbeit zu leisten ist. Sowohl die korrigierte Gesamtzahl der Betroffenen als auch die Erkenntnisse zu deren gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten deuten darauf hin, dass Ausmaß und Konsequenzen mangelnder Schriftsprachkenntnisse bisher falsch eingeschĂ€tzt wurden.

Die hier rezensierten BĂ€nde sind wie die Reihe insgesamt fĂŒr Forschende im Bereich der Alphabetisierungsarbeit in der beruflichen Bildung und am Arbeitsmarkt zu empfehlen. Sie erhalten hier Einblicke in das methodische Vorgehen und die Ergebnisse des o.g. Projektverbundes. Sie finden darin auch die zentralen Ergebnisse der leo.-Studie, die erstmals verlĂ€ssliche Ergebnisse zum Problem des funktionalen Analphabetismus‘ in Deutschland vorlegt. Das Signal, dass das Thema Analphabetismus nicht nur, aber insbesondere in der beruflichen Bildung grĂ¶ĂŸere Beachtung verdient, ist eindeutig.

[1] http://www.klinkhardt.de/ewr/978383091864.html
Henriette Hanisch, Dietmar Heisler, Claudia MĂŒller, Anne Schrön (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Henriette Hanisch, Dietmar Heisler, Claudia MĂŒller, Anne Schrön: Rezension von: GrotlĂŒschen, Anke / Kretschmann, Rudolf / Quante-Brandt, Eva / Wolf, Karsten D. (Hg.): Alphabetisierung und Grundbildung. Band 6, LiteralitĂ€tsentwicklung von ArbeitskrĂ€ften. MĂŒnster, New York, MĂŒnchen, Berlin: Waxmann 2011. In: EWR 12 (2013), Nr. 4 (Veröffentlicht am 24.07.2013), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383092471.html