EWR 13 (2014), Nr. 3 (Mai/Juni)

Jörg Doll / Keno Frank / Detlef Fickermann / Knut Schwippert (Hrsg.)
Schulbücher im Fokus
Nutzungen, Wirkungen und Evaluation
Münster: Waxmann 2012
(217 S.; ISBN 978-3-8309-2670-2; 29,90 EUR)
Schulbücher im Fokus Wenn es um Bildungsreformen oder um die Festlegung von Zielen des Unterrichts geht, stehen Lehrpläne, Bildungsstandards und Schulbücher oft im Mittelpunkt des Interesses. Ein Fokus auf den Inhalten dieser Dokumente und Texte sagt jedoch noch nichts darüber aus, was bei den Schülerinnen und Schülern ankommt. Ein großes, seit Jahren eingefordertes Desiderat der Schulbuchforschung ist eine diesbezügliche empirische Rezeptions-, Wirkungs- und Aneignungsforschung. Wie nutzen Schülerinnen und Schüler oder Lehrpersonen Schulbücher im Unterricht? Anhand welcher Kriterien wählen Lehrpersonen ihre Lehrmittel aus? Wie schätzen die Nutzenden ihre Schulbücher ein? Was kommt überhaupt bei den Schülerinnen und Schülern an, wenn sie mit Schulbüchern arbeiten? Welchen Beitrag leisten Schulbücher bei der Implementierung von Innovationen oder Bildungsstandards und bei der Förderung von individualisiertem Lernen? Welche Deutungsangebote werden von Schülerinnen und Schüler angeeignet und wie?

Der vorliegende Sammelband von Jörg Doll, Keno Frank, Detlef Fickermann und Knut Schwippert widmet sich der Nutzung, Wirkung und Evaluation von Schulbüchern. Der Band ist Ergebnis einer Tagung am Hamburger Zentrum zur Unterstützung der wissenschaftlichen Begleitung und Erforschung schulischer Entwicklungsprozesse (ZUSE) und beinhaltet Beiträge zu einer breiten Palette an Domänen wie Mathematik, Geschichte, ästhetische Bildung, Englisch, Deutsch und Religion. Er bietet somit eine Reihe von unterschiedlichen fachdidaktischen Perspektiven an. Ziel des Bandes ist es, einen Impuls für die „dringend erforderliche empirisch fundierte und interdisziplinär organisierte Schulbuchwirkungsforschung geben zu können“ (16). Dieser Fokus auf „Wirkung“ hält die Beiträge des Bandes zusammen. Nach einer kurzen orientierenden Einleitung folgen elf Einzelbeiträge zu verschiedenen Aspekten des Schulbuchs, eingeteilt in sechs Blöcke: (1) Forschungsüberblick, (2) Texte und Bilder, (3) neue Medien, (4) Schulbuchnutzung, (5) Kompetenzmodelle sowie (6) Schulbuchentwicklung und -evaluation.

Eine sehr hilfreiche Tabelle in der Einleitung gibt einen Überblick über die Schwerpunkte der elf Beiträge. In dieser Tabelle wird deutlich, dass nur vier der Beiträge eigene Empirie zur Schulbuchnutzung, -wirkung und -evaluation beinhalten. Das könnte als Schwäche eines Bandes angesehen werden, der den Untertitel „Nutzungen, Wirkungen, Evaluation“ trägt. Allerdings wird gerade dadurch die These des Bandes gestärkt, dass es immer noch sehr wenig systematische Forschung in diesem Bereich gibt, und dass eine empirisch fundierte Schulbuchwirkungsforschung tatsächlich dringend erforderlich ist.

Die vier Beiträge mit eigener Empirie beleuchten unterschiedliche Facetten der Schulbuchwirkung. Bodo von Borries gibt einen Überblick über seine jahrelange Forschung mit verschiedenen, meist quantitativen Projekten, die Erwartungen an, Zufriedenheit mit und Textverständnis von Geschichtsschulbüchern betreffen. Er zieht den Schluss, dass Geschichtsschulbücher viel zu kompliziert formuliert seien und dass sogar an Gymnasien mindestens ein Drittel der Schülerinnen und Schüler von den Lehrwerken überfordert sei. Derzeitige Geschichtsschulbücher seien somit nicht geeignet, mit leistungsheterogenen Lerngruppen umzugehen. Ein besonders ironisches Ergebnis ist, dass Sechst- und Siebtklässler einen kritischeren Zugang zu Quellen haben als Schülerinnen und Schüler der höheren Klassen: Sie scheinen die Quellenkritik während ihrer Zeit im Geschichtsunterricht zu verlernen (58f).

Gabriele Lieber fokussiert die Schülerperspektive in ihrem Beitrag zu Schulbuchillustrationen und kindlichem Bildinteresse. Ihre Studie lässt Kindergarten- und Grundschulkinder laut über ihr Interesse an ausgewählten Bildern nachdenken. Lieber plädiert dafür, Bildliteralität als Schlüsselkompetenz in der heutigen Gesellschaft zu betrachten. Dies ist, könnte aus medientheoretischer oder soziosemiotischer Perspektive hinzugefügt werden, besonders wichtig, betrachtet man die durchaus multimodale und mediatisierte Welt von heute. Die Auswahl an Schulbuchillustrationen muss sich, so Lieber, radikal verändern – und nicht wie derzeit anhand Kriterien wie Einfachheit, Eindeutigkeit und Heiterkeit erfolgen.

In seinem Beitrag zur Nutzung von Mathematikschulbüchern geht Sebastian Rezat ebenfalls dezidiert von der Perspektive der Lernenden aus. Ihn interessiert, wie Schülerinnen und Schüler bei der selbstständigen Arbeit ihre Mathematikbücher als Instrumente zum Lernen verwenden. Anhand von Unterrichtsbeobachtungen, kommentierten Übungsheften und „stimulated recall“-Interviews zieht Rezat den Schluss, dass Lernende aufgrund von erwarteten bzw. zugeschriebenen Eigenschaften bestimmte Schulbuchabschnitte auswählen: Sie arbeiten mit den Elementen, deren Funktionen schon von der Lehrperson thematisiert worden sind bzw. deren Nutzungsweisen die Lehrperson mit den Schülerinnen und Schülern eingeübt hat. Soll das Schulbuch zu einem effektiven Instrument des selbstständigen Lernens werden, spielt also die Lehrperson eine zentrale Rolle.

Bei Mathematik bleibend, deutet die Evaluationsstudie von Brigitte Bollman-Zuberbühler, Alexandra Totter und Franz Keller auf wichtige Unterschiede in der Qualitätssicherung zwischen dem deutschen, ausschließlich von kommerziellen Schulbuchverlagen dominierten Markt, und dem schweizerischen Markt hin, wo Verlage mitunter der Bildungsdirektion eines Kantons unterstellt sind. Der Beitrag beschreibt eine Begleitforschung, in der über vier Jahre mit Testpersonen und Evaluationsklassen vertiefte Einsichten sowohl zu den Vorkenntnissen der Schülerinnen und Schüler als auch zu deren Nutzung von und Einstellungen zu den Materialien gewonnen wurden. Diese Erkenntnisse sind in die Überarbeitungsphasen bei der Entwicklung von Lehrmitteln eingeflossen.

Diese vier Beiträge decken vier zentrale Aspekte einer Schulbuchwirkungsforschung ab, die maßgeblich zur Qualitätssicherung von zukünftigen Schulbüchern und weiteren Bildungsmedien führen: Textverständlichkeit (von Borries), Multimodalität (Lieber), Auswahl bei selbständiger Arbeit (Rezat) und Passung am Vorwissen (Bollman u. a.). In allen vier Fällen wird der Schülerperspektive eine zentrale Priorität eingeräumt.

Der Band fokussiert insbesondere auf didaktische und lernpsychologische Ansätze. Er klammert Fragen nach der Wirkung auf die Öffentlichkeit, der Wirkung auf die internationalen Beziehungen und weitere Aspekte der Wirkung auf Schülerinnen und Schüler sowie auf Lehrende (z. B. kritische Auseinandersetzung mit Sachthemen des Unterrichts, Denkgewohnheiten von Lehrenden) aus, wenngleich diese im Übersichtkapitel von Doll und Rehfinger durchaus referiert werden. Diese Aspekte sowie Fragen zu Deutungskonflikten, zur Aneignung von Deutungsangeboten, zur Hervorbringung von Sinn und zu alltäglichen schulischen Medienpraktiken stehen eher im Fokus der empirischen kulturwissenschaftlichen Forschung zur Schulbuchrezeption und -aneignung. Eine solche Rezeptions- und Aneignungsforschung steckt allerdings auch – wie die in diesem Band präsentierte didaktische und lehr-lern-theoretische Wirkungsforschung – noch in den Kinderschuhen.

Eine von den Herausgebern anvisierte interdisziplinäre Zusammenarbeit könnte in der Tat viel dazu beitragen, das Ziel einer „empirisch fundierte[n] und interdisziplinär organisierte[n]“ (16) Rezeptions- und Wirkungsforschung zu konsolidieren. Dies ist vor allem gegenwärtig wichtig, da wir aus laufenden Forschungsprojekten entnehmen können, dass Schulbücher (wieder) eine wichtige Rolle im Unterricht einzunehmen scheinen, mitunter, weil Schulen entschieden haben, dass, wenn Eltern Bücher anschaffen, diese Bücher zu verwenden seien. Insgesamt wirft der Band also interessante Perspektiven für zukünftige Forschung auf und lädt zur weiteren Zusammenarbeit ein, über die Schulfächer und die wissenschaftsdisziplinären Grenzen hinaus. Einzelne Beiträge (etwa die von Lieber, Redder und von Borries) sind zudem besonders relevant für die Redaktionen der Schulbuchverlage.
Felicitas Macgilchrist (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Felicitas Macgilchrist: Rezension von: Doll, Jörg / Frank, Keno / Fickermann, Detlef / Schwippert, Knut (Hg.): Schulbücher im Fokus, Nutzungen, Wirkungen und Evaluation. Münster: Waxmann 2012. In: EWR 13 (2014), Nr. 3 (Veröffentlicht am 04.06.2014), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383092670.html