EWR 16 (2017), Nr. 6 (November/Dezember)

Jens Schneider / Maurice Crul / Frans Lelie
Generation mix
Die superdiverse Zukunft unserer Städte und was wir daraus machen.
(Übers. aus dem Niederländischen von Reinhilde König.)
MĂĽnster: Waxmann 2015
(132 Seiten; ISBN 978-3-8309-3182-9; 19,90 EUR)
Generation mix Die heute diskutierten Integrationskonzepte im Kontext von Migration sind nicht nur von gestern, sondern sie haben frĂĽher auch nicht funktioniert und eher kontraproduktiv gewirkt. Integrationspolitik war keine Inklusionspolitik, sondern eher eine Desintegrationspolitik.
Heute geht es um die Angehörigen der zweiten und dritten Generation, um die Nachkommen der so genannten GastarbeiterInnen, die in den jeweiligen Gesellschaften geboren und aufgewachsen sind. Sie haben dort ihre Ausbildung absolviert.- dennoch werden sie behandelt, als ob sie gerade angekommen wären und dringend irgendwelche Integrationsmaßnahmen benötigen. Gerade an diesem Punkt setzt das vorliegende Buch an und zeigt eine andere Perspektive auf.
An der vorliegenden TIES-Studie waren renommierte Forschungsinstitutionen in acht Ländern beteiligt und es wurden etwa zehntausend junge Erwachsene im Alter zwischen 18 und 35 Jahren in sieben Ländern und fünfzehn europäischen Städten befragt (Belgien, Deutschland, Frankreich, Niederlande, Österreich, Schweden, Schweiz). Die Studie konzentriert sich auf die Nachkommen von Eingewanderten aus der Türkei, Marokko und dem ehemaligen Jugoslawien. Ebenso wurde eine Vergleichsgruppe ohne elterlichen Migrationshintergrund herangezogen. Die Autoren richten in dem vorliegenden Buch den Blick bewusst auf die Angehörigen der zweiten Generation der Arbeitsmigranten aus der Türkei. Diese Gruppe ist für den internationalen Vergleich am besten geeignet sei und stellt ebenfalls zahlenmäßig die größte Gruppe dar (16).
Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel: 1. Integration ist vorbei, 2. Die Emanzipation der zweiten Generation, 3. Bildung ist der Schlüssel zur Emanzipation, 4. Erfolgreich auf dem Arbeitsmarkt, 5. Generation Mix. Zum Schluss werden vier Essays mit dem Titel „Meine Identität“ vorgestellt.
Die Grundfrage, der die Autoren nachgehen, ist, unter welchen Umständen sich die zweite Generation am wirkungsvollsten entfalten kann (14).

Die Ergebnisse der Studie belegen, dass die Länder Schweden oder Frankreich im Umgang mit Migration in unterschiedlichen Bereichen weit erfolgreicher sind als beispielsweise Deutschland oder Österreich. Wie im ersten Kapitel geschildert wird, gehen in Stockholm z.B. sechs Mal mehr Kinder aus türkischen Familien ins Gymnasium als in Berlin. Das resultiert eher in der Möglichkeit, ein Studium zu absolvieren und akademische Berufe zu ergreifen (27). In Frankreich führt die flächendeckende kostenlose Kinderbetreuung ab dem zweiten Lebensjahr dazu, dass sprachliche Defizite im Vorfeld der Schule kompensiert werden können. Die kostenlose Kinderbetreuung und die Erledigung der Hausaufgaben in der Schule in Schweden entkoppeln schulische Leistungen vom Bildungshintergrund der Eltern. Darüber hinaus findet in Schweden und Frankreich der Übergang in die weiterführenden Schulen erst im Alter von 15 Jahren statt. Diese strukturellen Gegebenheiten sorgen in den beiden Ländern dafür, dass die Bildungssituation der zweiten Generation aus türkischen Familien in den beiden Ländern im europäischen Vergleich weitaus besser ist. Auch die Niederlande erzielen hier bessere Ergebnisse (27).
Anschließend wird im Kapitel 2 die These formuliert, dass das „Szenario von Empowerment und Hoffnung“ erst durch die Emanzipation der zweiten Generation gelingen könnte. Zur Illustration dieser Botschaft werden in diesem Kapitel fünf kurze Filme über Biographien von Jugendlichen in Hamburg, Paris, Rotterdam, Amsterdam und Brüssel herangezogen. Diese demonstrieren, wie die Betroffenen ihre Situation einschätzen, welche Erfahrungen sie in der Gesellschaft gemacht haben, kurz wie sie sich positionieren.

Bildung ist für die Autoren der Schlüssel zur Emanzipation (Kapitel 3). Die Erfolge bzw. Misserfolge im Schulsystem kann am besten an der Zahl der Early School Leavers , also an den vorzeitigen Schulabgängen, abgelesen werden. In diesem Zusammenhang bestätigt die Studie, dass die Angehörigen der zweiten Generation in untersuchten Ländern einen bedeutsamen schulischen Rückstand aufweisen (51). Der erste Blick auf die Zahlen der Early School Leavers zeigt beträchtliche Differenzen zwischen den untersuchten Ländern. Die Gruppe der vorzeitigen Schulabgänger unter den Befragten der türkisch-stämmigen zweiten Generation ist in Belgien, Deutschland und Österreich mit einem Drittel sehr hoch, während in Frankreich, der Schweiz und Schweden viel bessere Ergebnisse erreicht werden (52). Die Länder mit hohen Anteilen an Early School Leavers nehmen alle eine klare Trennung zwischen Grund- und weiterführender Schule vor und sie differenzieren nach der Grundschulzeit nach Leistungsniveaus (54).
Der Frage, wie erfolgreich die Angehörigen der zweiten Generation auf dem Arbeitsmarkt sind und worauf dies zurückzuführen ist, wird im vierten Kapitel nachgegangen.
In Stockholm und Paris ist zum Beispiel der stark wachsende Anteil von Arbeitskräften, die aus Einwandererfamilien stammen, auch in den mittleren und höheren Segmenten des Arbeitsmarktes bereits unübersehbar. Der Anteil an den Jugendlichen ist in Berlin ähnlich hoch, allerdings zeigt sich hier der enge Zusammenhang zwischen erreichtem Bildungsniveau und den Chancen auf dem Arbeitsmarkt. (67).
Der positive Effekt eines breiten Zugangs zu den Universitäten ist in Stockholm deutlich: Hier arbeitet jeder vierte junge Erwachsene türkischer Abstammung in einem gut bezahlten und qualifizierten Beruf. In den Niederlanden sind die Angehörigen der türkischen zweiten Generation vor allem in der höheren Berufsbildung, also an Fachhochschulen, stark vertreten (71).
In Paris und Stockholm ist der bei weitem größte Anteil der zweiten Generation türkischer Frauen – knapp 80 Prozent – fest in der Arbeitswelt verankert. Demgegenüber sind es in Berlin und Wien lediglich knapp über die Hälfte. Die Erkenntnisse der Studie belegen, dass in Stockholm Kinder kaum einen Effekt auf die Arbeitsmarktsituation haben, im Gegensatz zu Deutschland und Österreich, in denen Kinder der vorherrschende Grund für die Nicht-Teilnahme am Arbeitsmarkt sind (73).
Unter der Überschrift „Generation mix“ wird im fünften Kapitel das idealtypische Zukunftsszenario „Empowerment und Hoffnung“ als ein durchaus realistisches Ziel für diejenigen Städte angesehen, die den betreffenden Menschen gleiche Chancen bieten, in denen Rassismus nicht akzeptiert und aktiv bekämpft wird und in denen ein weltoffenes Klima herrscht (84).
Diese so genannte „Mehrheitsgesellschaft“, welche ihre, vor allem demographisch dominante Position bald verlieren wird, bietet große Chancen für eine gesellschaftliche Entwicklung in Richtung mehr gesellschaftliche Gerechtigkeit. Insbesondere Kinder oder Enkelkinder der Eingewanderten könnten davon profitieren (85).
Im letzten Kapitel werden vier Essays zusammengefasst, in der Personen sich selbst porträtieren.

Diskussion und Fazit
Eine spannende, hochinteressante und zukunftsweisende Vergleichsstudie, die einerseits die bisherigen Integrationskonzepte radikal in Frage stellt und andererseits alternative Perspektiven auf Migration und Stadt aufzeigt, interessante Zukunftsszenarien entwirft und somit neue Denkhorizonte eröffnet.
Die Studie vermittelt einen realistischen Eindruck, in welche Richtung sich die europäischen Großstädte entwickeln werden, welche Zukunftsszenarien denkbar sind und wie die einzelnen Länder bzw. Städte mit der „mehrheitlich Minderheiten-Stadt“ in Zukunft umgehen werden. Die Zukunft der Großstädte wird davon abhängen, wie diese Entwicklung wahrgenommen und darauf reagiert wird – eher als Chance, um das urbane Zusammenleben gerecht zu gestalten oder wird sie eher skandalisiert, um in der Konsequenz ein faires Zusammenleben zu verhindern? Die Studie zeigt auch, dass es Alternativen gibt und dass von anderen Ländern und Städten, die einen anderen Umgang mit Migration praktiziert haben, einiges gelernt werden kann.
Kritisch anzumerken ist, dass die Autoren zum Schluss, statt für eine Entethnisierung gesellschaftlicher oder urbaner Verhältnisse zu plädieren, die Relevanz interethnischer Beziehungen als eine relevante Kategorie in den Mittelpunkt rücken, ja sogar zum Teil die Emanzipation der zweiten Generation davon abhängig machen. Beziehungen entstehen nicht aufgrund irgendwelcher fiktiven ethnischen Eigenschaften, sondern aufgrund von Interessen, Orientierungen, Lebensformen oder Arbeitszusammenhängen.
Erol Yildiz (Innsbruck)
Zur Zitierweise der Rezension:
Erol Yildiz: Rezension von: Schneider, Jens / Crul, Maurice / Lelie, Frans: Generation mix, Die superdiverse Zukunft unserer Städte und was wir daraus machen. Ăśbers. aus dem Niederländischen von Reinhilde König. . MĂĽnster: Waxmann 2015. In: EWR 16 (2017), Nr. 6 (Veröffentlicht am 07.12.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383093182.html