EWR 15 (2016), Nr. 6 (November/Dezember)

Claudia Benholz / Magnus Frank / Constanze Niederhaus (Hrsg.)
Neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler – eine Gruppe mit besonderen Potentialen
Beiträge aus Forschung und Schulpraxis
Münster: Waxmann 2016
(372 S.; ISBN 978-3-8309-3277-2; 37,90 EUR)
Neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler – eine Gruppe mit besonderen Potentialen Der Band „Neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler – eine Gruppe mit besonderen Potentialen“ ist 2016 in der Reihe Sprach-Vermittlungen des Waxmann Verlags erschienen. Er ist aus der Tagung „SeiteneinsteigerInnen: eine Schülergruppe mit besonderen Potentialen. Zu rechtlichen Rahmenbedingungen, schulorganisatorischen Herausforderungen und Konzepten zur Sprachbildung“ hervorgegangen, die im Oktober 2014 stattgefunden hat. Die Tagung wurde vom Projekt ProDaZ ausgerichtet, das an der Universität Duisburg-Essen angesiedelt ist und der Tagungsband versammelt Beiträge aus Forschung und Schulpraxis, die sich dem Thema der Beschulung von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen widmen.

Er gliedert sich in drei Teile: Praxisberichte, Lehrerinnen- und Lehrerbildung sowie methodisch-didaktisches Vorgehen, wobei Ersterer den quantitativ größten Teil des Buches einnimmt. Hauptthematiken sind übergreifend die Lehr- und Lernvoraussetzungen neu zugewanderter Schülerinnen und Schüler. Dabei will der Band Fragen nach der Zukunft der mehrsprachigen Schule, Beteiligung aller Schulformen und Standorte an der Beschulung, bestehende Erfahrungswerte, außerschulische Kooperationen, Sprachförderung und Qualifikation von Lehrpersonal beantworten.

Einführend weisen die Herausgeber_innen darauf hin, dass Deutschlands Bildungssystem selbst nach mehr als 50 Jahren, in denen immer wieder große Gruppen neu zugewanderter Kindern und Jugendlichen beschult werden mussten, noch immer nur Provisorien für diese Gruppe vorzuweisen hat und die nun durch Krieg und Vertreibung entstandene Flüchtlingssituation gern als unvorhersehbar und schwer zu bewältigen deklariert wird. Denn noch immer gilt Migration für die Herausgeber_innen erschreckenderweise in der Schule als etwas Besonderes statt als Selbstverständlichkeit (12).

Im ersten Teil des Buches widmen sich insgesamt acht Beiträge unterschiedlichsten Praxisbeispielen in Nordrhein-Westfalen. Diese sind meist aus einer sehr persönlichen Sicht geschrieben und geben anhand von Einzelfällen einen guten Einblick in den Schulalltag, die Anforderungen an Lehrkräfte und die Gelingensbedingungen schulischer Inklusion von neu zugewanderten Jugendlichen.

Den Anfang macht Beate Frenzels Bericht: „Morgen konnte ich nicht Schule besuchen, weil ich ein schlechtes Brief bekomm. Über die besonderen Herausforderungen unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge und ihrer Lehrerinnen und Lehrer“. Es werden die vielfachen Herausforderungen und Anforderungen an Lehrende und Lernende in sog. Vorbereitungsklassen benannt, die häufig die Kompetenzen der Lehrkräfte überschreiten, da neben hoher Professionalität in der Unterrichtsentwicklung auch viele soziale und juristische Hürden genommen werden müssen. Hier weist die Autorin auf die Wichtigkeit von Beziehungsarbeit hin, Freiräume und Rückzugsmöglichkeiten oder persönlichen Gespräche zu ermöglichen.

Es folgt Anika Wüstenbergs Erfahrungsbericht „Das erste Jahr als Integrationsfachkraft. Ein Erfahrungsbericht über Fragen, Herausforderungen, Kooperationen und Unterstützung“ – worin sie anhand eines sehr persönlichen Artikels auch die strukturellen Benachteiligungen an Schule herausarbeitet und Lösungsansätze für die Beschulung von Neuzugewanderten anbietet.

Katharina Bentler berichtet „Von ersten Schritten und zweiten Chancen. Erfahrungen als Praxissemesterstudierende in der Arbeit mit neu zugewanderten Schülerinnen und Schülern an der UNESCO-Schule – Über Verzahnung von universitärer Lehre und schulischer Praxis.“ Hier sind Erfahrungen eines Praxissemesters an einer UNESCO-Schule in Essen versammelt, des Weiteren wird kurz das Qualifizierungskonzeptes in DaZ „Sprachbildung in der mehrsprachigen Gesellschaft“ der Uni Duisburg-Essen für Lehramtsstudierende vorgestellt, das in dieser Art einmalig in Deutschland ist.

In „Willkommensklasse statt Auffangklasse. Schulische Förderung und Integration von neu zugewanderten Schülerinnen und Schülern in der Libellen-Grundschule in Dortmund“ stellen Christiane Mika und Ingrid Weis ausführlich das Konzept der Dortmunder Libellen-Schule auf curricularer und methodisch-didaktischer Ebene vor, was Bereiche wir Mehrsprachigkeit, Elternkooperation, Sprachförderung u.v.m. umfasst.

Wie der Übergang von einer solchen Klasse in das Regelsystem aussehen kann, beschreibt Jutta Henrichs in „Individuelle Förderung neu zugewanderter Schülerinnen und Schüler an der Theodor Goldschmidt Realschule. Von der Auffangklasse in die Regelklasse“.

Die zwei darauffolgenden Texte „18 Jahre Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Zuwanderungsgeschichte an Gymnasien im Rhein-Kreis Neuss“ von Torsten Götte und „Erfahrungen und Anregungen aus der Praxis. Die Förderung neu zugewanderter Schülerinnen und Schüler am Gymnasium Essen Nord-Ost.“ von Ljubov Jakovleva-Schneider widmen sich der Schulform Gymnasium, die sich vielerorts bei der Beschulung migrierter Kinder und Jugendlichen sehr zurückhält. Hier wird der überaus relevanten und nötigen, antidiskriminierenden Selbstreflexion der Lehrenden Raum in diesem Sammelband gegeben.

Den Abschluss des ersten Teils des Sammelbands zu Praxisberichten bildet der Beitrag von Ulf Gebken und Sophie van de Sand, die sich in dem etwas plakativen betitelten „Fußball hilft Flüchtlingen“ dem außerschulischen Bereich zuwenden und das hohe Integrationspotenzial des Sportes insbesondere Fußball beleuchten, wenn er sprachanregend konzipiert ist, wie in dem vorgestellten Projekt aus Oldenburg: Bewegen, Kicken und Sprechen.

Liest man alle Artikel hintereinander, ist eine gewisse Redundanz nicht von der Hand zu weisen, die es aber dadurch auch ermöglicht, die Beiträge einzeln zu lesen. Zudem verleiht sie den allerorten festgestellten Mängeln im System Nachdruck. Hier sind insbesondere zu nennen: fehlende curriculare Konzepte für die reguläre Beschulung von Seiteneinsteigern, fehlendes Lehrmaterial insbesondere für Jugendliche, der Übergang in Regelklassen, die Notwendigkeit starker Binnendifferenzierung im Unterricht, mehr Ressourcen an qualifizierte Lehrkräfte und Sozialarbeiter, strukturelle Verankerung von Wertschätzung und Interkulturalität in der Schule und sprachsensibles Vorgehen in allen Fächern.

Im anschließenden Teil, der sich um Lehrerinnen- und Lehrbildung im Kontext einer neu zugewanderten Schülerschaft dreht, sind insgesamt sechs Beiträge versammelt. Schwerpunktmäßig werden hier unterschiedliche Zusatzqualifizierungen in NRW für Lehrerinnen und Lehrer vorgestellt. Hervorzuheben ist hier vor allem Natascha Khakpours Beitrag Zugehörigkeitskonstruktionen im Kontext von Schulbesuch und Seiteneinstieg, indem sie skizzenhaft die unterschiedlichen Diskurse zu Seiteneinsteigen und schulischer Normalität vorstellt, des Weiteren wird der Seiteneinstieg noch unter der Perspektive von Zugehörigkeitskonstruktionen beleuchtet und anhand eines Fallbeispiels beleuchtet, „an dem deutlich wird, dass die Art, wie Unterricht bzw. Schule in der Migrationsgesellschaft organisiert ist, Zugehörigkeitserfahrungen (mit-)strukturiert“ (168).

Der Beitrag von Frenzel et al. arbeitet auf Grundlage einer Interviewstudie mit Lehrerinnen und Lehrern heraus, welche Besonderheiten das Arbeiten mit neuzugewanderten Schülerinnen und Schülern aus Sicht der Lehrkräfte kennzeichnet, wobei auch hier die ungenügenden strukturellen Rahmenbedingungen kritisiert werden.

Mona Massumi widmet sich in ihrem Beitrag „Sprachförderung für geflüchtete Kinder und Jugendliche ohne Schulzugang“ einem Angebot für angehende Lehrkräfte an der Universität Köln, das entstanden ist „um Kindern und Jugendlichen in Notunterkünften Bildungsangebote zu eröffnen und gleichzeitig Lehramtsstudierende bereits in ihrer Ausbildung auf die Diversität ihrer zukünftigen Schülerschaft vorzubereiten“ (198).

Gülşah Mavruk stellt den Förderunterricht an der Universität Duisburg-Essen vor, der bereits in den 1970er Jahren ins Leben gerufen wurde und neuzugewanderte Kinder und Jugendliche sprachlich und fachlich unterstützt und auf lange Erfahrung und große Erfolge zurückblicken kann.

In den Artikeln von Sally Gerhart und von Constanze Niederhaus und Eva Schmidt werden abschließend die Qualifizierungsreihe für Lehrkräfte für das Unterrichten von neu zugewanderten Schülerinnen und Schülern (QLN-Reihe) und das Projekt Lernen für Vielfalt (LeVi) an der Universität Duisburge Essen vorgestellt und evaluiert.

Insgesamt gibt der Teil über Lehrerinnen- und Lehrerbildung einen guten Überblick über die Qualifizierungsmaßnahmen in NRW zum jetzigen Zeitpunkt. Es zeigt sich, dass es bereits ein großes Wissen über und viel Erfahrung mit der Arbeit mit der Gruppe der Seiteneinsteigern gibt und dass andere Regionen sich hieran orientieren können. Indes kommt in diesem Teil eine allgemeinere, kritische Auseinandersetzung mit (institutioneller) Diskriminierung und vorurteilsbewussten Pädagogik etwas zu kurz.

Der dritte Teil widmet sich schließlich dem methodisch-didaktischen Bereich bei der Beschulung von Zugewanderten. Auch hier sticht meines Erachtens der Beitrag von Natascha Khakpour und Karen Schramm heraus: Zunächst wird aber die Anwendung des deutschen Sprachdiploms in Deutschland von Elke Montanari vorgestellt. Gefolgt von Sara Hägis Beitrag „Professionell zur Sache“, indem sie bewährte didaktische Ansätze von DaF/DaZ für den Unterricht mit neuzugewanderten Schülerinnen und Schülern vorstellt mit dem Ziel „Lehrpersonen im Unterricht mit neu zugewanderten Schülerinnen und Schüler zu entlasten und sie zur weiteren Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache und der Mehrsprachigkeit zu ermutigen“ (299). Ein Artikel, der sich auch in jedem einführenden Band zu DaZ gut machen würde.

Bis dato im Sammelband vernachlässigte Aspekte bei der Beschulung von Neuzugewanderten bringen Natascha Khakpour und Karen Schramm in ihrem Beitrag „Autonomie im Unterricht mit Seiteneinsteiger_innen – Theoretische Perspektiven und Praxisbeispiele“ ein, nämlich die der Lernendenautonomie und der Handlungsmacht der Lernenden sowie kritischer Fragen nach den Rechten der Schülerinnen und Schüler im Schulalltag (auch das Recht auf professionell ausgebildete Lehrenden), die wiederum eng an ein bestimmtes Verständnis von Schulentwicklung geknüpft ist. Hier konkretisieren die Autorinnen unterschiedliche theoretische Konzeptionen des Autonomiebegriffs anhand aktueller Forschungsbeispiele und stellen entsprechende Praxisbeispiele vor. Klar fordern sie die Reflexion von gesellschaftlichen Verhältnissen und strukturellen Rahmenbedingungen als schulischer Querschnittsaufgabe, da diese Verhältnisse den Unterricht bedingen und die Erwartungen der Institution Schule bis jetzt nicht mit der migrationsgesellschaftlichen Realität übereinstimmt (335).

Im abschließenden Beitrag „Neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler mit Alphabetisierungsbedarf unterrichten“ stellt Alexis Feldmeier das didaktische Instrument Portfolio vor, mit dem selbstbestimmte und selbstgesteuerte Lernprozesse gefördert werden. Auch hier steht die Lernendenautonomie im Vordergrund.

Insgesamt gibt der Sammelband einen guten Überblick über aktuell laufende Projekte (insb. in NRW und Niedersachsen) – sowohl, was den Unterricht mit dieser in sich sehr heterogenen Gruppe der neu zugewanderten Schülerinnen und Schüler angeht, als auch die Möglichkeiten der Weiterbildung für Pädagoginnen und Pädagogen. Dabei wird die Perspektive klar auf die Potenziale der Seiteneinsteigerinnen und -einsteiger gerichtet. Die eingangs gestellten Fragen nach der Zukunft der mehrsprachigen Schule, der Beteiligung aller Schulformen und Standorte an der Beschulung, nach Erfahrungswerten, außerschulischen Kooperationen, Sprachförderung und der Qualifikation von Lehrpersonal werden dabei aber nur teilweise beantwortet. Meiner Meinung nach, kommt zudem der theoriegeleitete Blick auf Schulentwicklung und Deutungsmuster von Lehrenden in diesem Band etwas zu kurz, ausgenommen sind hierbei die Beiträge von Natascha Khakpour. Dennoch sind die einzelnen Artikel sehr anregend für Lehrkräfte und Schulen, die sich neu mit der Schülergruppe der neu Zugewanderten auseinandersetzen und auf der Suche nach „good practice“-Beispielen sind. Insofern ist der Band auch für Lehramtsstudierende interessant, die sich auf eine diverse Schülerschaft vorbereiten möchten, da er eine hohe Anwendungsorientierung zeigt und reflektierte Praxiserfahrungen hier großen Raum bekommen. Dadurch und dass wenig fachspezifisches Vorwissen vom Leser gefordert wird, bieten sich auch viele Artikel für die Lehre an, um hier einen praxisnahen Einstieg in das Thema zu ermöglichen.
Sonja Langheinrich (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sonja Langheinrich: Rezension von: Benholz, Claudia / Frank, Magnus / Niederhaus, Constanze (Hg.): Neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler – eine Gruppe mit besonderen Potentialen, Beiträge aus Forschung und Schulpraxis. Münster: Waxmann 2016. In: EWR 15 (2016), Nr. 6 (Veröffentlicht am 29.11.2016), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383093277.html