EWR 16 (2017), Nr. 3 (Mai/Juni)

Anja Kraus
PĂ€dagogische Wissensformen in der Lehrer(innen)bildung
Ein performativitÀtstheoretischer Ansatz
MĂŒnster: Waxmann 2016
(196 Seiten; ISBN 978-3-8309-3351-9; 24,90 EUR)
PĂ€dagogische Wissensformen in der Lehrer(innen)bildung Die Diskussion um gute Lehrer_innenbildung steht derzeit hoch im Kurs – besonders, so die Autorin, wenn sie aus dem Blickwinkel einer Empirischen Bildungsforschung betrachtet wird. Der rezensierte Text umfasst 196 Seiten und gliedert sich in acht Kapitel, darunter ein 19-seitiges Literaturverzeichnis.

Anstatt Professionalisierungsforschung, Lehrer_innenbildungsforschung und SchulpĂ€dagogik vor dem Hintergrund einer Empirischen Bildungsforschung auszubuchstabieren, verfolgt Anja Kraus mit der „vorgelegten Systematik“ (10) den Anspruch, eine „basale Unterlage“ (10) fĂŒr eine auf Schule und Lehrer_innenbildung bezogene empirische Bildungsforschung und Erziehungswissenschaft vor dem Hintergrund der PĂ€dagogischen Anthropologie zu schaffen. Besonders in den Blick nimmt sie dabei Formen pĂ€dagogischen Wissens in der Lehrer_innenbildung. Erziehungswissenschaftliche Forschung habe sich pĂ€dagogischem Wissen bislang eher als einem Synonym fĂŒr PĂ€dagogik(en) (als Wissensform) gewidmet, weniger jedoch im Sinne eines empirisch nachweisbaren Praxiswissens. Die Autorin bezieht sich in einer ersten Bestimmung des pĂ€dagogischen Wissensbegriffs auf Wulf (1994), der als Grundlage erziehungswissenschaftlicher Theorie und pĂ€dagogischen Praxiswissens anthropologisches Wissen annimmt, dessen Reflexion fĂŒr die Erziehungswissenschaft und fĂŒr professionelle Erziehende unerlĂ€sslich sei.

Die theoretischen Ausgangspunkte sogenannter evidenzbasierter Forschung, die Ergebnisse zur VerfĂŒgung stellten, aus denen sich (vermeintlich) Steuerungswissen fĂŒr die pĂ€dagogische Praxis generieren ließe, werden von Kraus nicht geteilt. Zur BegrĂŒndung verweist die Autorin auf vorgelegte Studien (z. B. von Altrichter / Soukup-Altrichter 2014), die nahelegen, dass die RĂŒckmeldung der Forschungsergebnisse an die Schulen, wie auch deren Nutzung fĂŒr die Unterrichtsentwicklung, kaum nachweisbar seien. Lehrer_innenbildung(sforschung) als pĂ€dagogische Profilierung von Lehrer_innen verstanden, richte ihren Fokus darauf, „wie die FĂ€higkeiten, die dazu notwendig sind, um die Spezifika einer pĂ€dagogischen Situation zu erkennen und im Unterricht gegebene Lehr- und Lernbedingungen mit dem Ziel aufzugreifen, erwĂŒnschte Lern- und Bildungsprozesse anzustoßen, theoretisch modelliert und im Rahmen eines pĂ€dagogisch-praktischen und zugleich wissenschaftlich-transdisziplinĂ€ren Hochschulstudiums vermittelt werden können“ (7). Es gehe im Wesentlichen nicht um fachliche oder auf Leistungsmessung ausgerichtete Kompetenzen, „sondern allein um das pĂ€dagogische Agieren im Unterricht und damit um den [angeblichen] Kernbereich der SchulpĂ€dagogik, um das pĂ€dagogische (Praxis-)Wissen“ (8).

Das zentrale Anliegen der Untersuchung liegt nunmehr in der Herausarbeitung der Besonderheiten des Praxiswissens von Lehrer_innen mit Blick auf pĂ€dagogische Praktiken im Unterricht. DarĂŒber hinaus stellt die RĂŒckbindung der (theoretisch) herausgearbeiteten Spezifika pĂ€dagogischen Praxiswissens an „eine bestimmte Empirie [
], die sich nicht voranging forschungsmethodisch legitimiert, sondern dem anthropologischen Wissensbegriff sowie der Handlungslogik im Feld gerecht wird“ (10) einen Schwerpunkt dar.

Nach Einleitung und Problemaufriss wendet sich die Autorin in Kapitel zwei der Bestimmung pĂ€dagogischen Praxiswissens vor dem Hintergrund der von der pĂ€dagogischen Anforderung her bestimmten professionellen Praktiken zu. Hierzu wird zunĂ€chst ein Blick in die Ideengeschichte zum ‚PĂ€dagogischen Takt‘ als mögliches Bindeglied zwischen Theorie und Praxis geworfen und am Ende des Kapitels (32ff) Fragen entwickelt, die sich mit Blick auf die performative Wirkung pĂ€dagogischer Maßnahmen und nicht lediglich ihrer Einpassung in konkrete Situationen ergeben. Die umrissenen Fragen und Themen (in Bezug auf die Lehrperson, die SchĂŒler_innen, die Schul- und Unterrichtskultur, die Unterrichtsforschung und die Lehrer_innenbildung) seien nicht nur geeignet, die Theorie-Praxis-LĂŒcke zu signifizieren, sondern könnten als Grundlage fĂŒr eine performativitĂ€tstheoretisch informierte Praktikenforschung und Lehrer_innenbildung dienen.

Die Autorin legt ihrer Analyse pĂ€dagogischer Wissensformen die Annahme zugrunde, dass die Professionalisierung von Lehrer_innen als Profilierung von Differenzerfahrungen durch explizite und implizite Lern-, Gestaltungs- und Adaptionsprozesse zu fassen ist. Das in Kapitel zwei fĂŒr die Unterrichtspraxis als bedeutsam herausgearbeitete Praxis- und Orientierungswissen generiere in einer „impliziten VerknĂŒpfung typisierender Wahrnehmungs-, Interpretations- und Handlungsmuster mit eigenen Theorien ein[en] Leitfaden szenischer Bilder und Beispiele“ (68), welcher dann auf konkrete Situationen ĂŒbertragen werde. Sodann wird der Vorschlag gemacht, gelingenden Unterricht als Choreographie zu bestimmen: „Im Optimalfall einer Choreographie des Unterrichts bildet sich auf Grundlage der KontextsensitivitĂ€t und des pĂ€dagogischen Takts ein ‚konjunktiver Erfahrungsraum‘ als implizit wirksames Erfahrungsrelief, das in seiner Dynamik eine tragfĂ€hige Unterlage fĂŒr den Schulunterricht darstellt“ (68).

In Kapitel drei begrĂŒndet Kraus ihre Vorstellung pĂ€dagogischer Wissensformen im Unterricht, an welche sie die im darauffolgenden Kapitel vier vorgestellten gĂ€ngigen Konzepte zur (professionellen) Kompetenzentwicklung in der Lehrer_innenbildung rĂŒckbindet. Dort thematisiert die Autorin unter dem Titel „Die universitĂ€re Lehrer(innen)bildung als wissenschaftsgestĂŒtzte Aneignung von Professionswissen“ Konzepte des ‚reflective practitioner‘, verschiedene AnsĂ€tze aus der Praxisforschung, die Arbeit mit FĂ€llen und am Fall sowie das Konzept und Beispiele des Forschenden Lernens. In Kapitel fĂŒnf steht die Auseinandersetzung mit Theorieangeboten im Kontext einer performativen PĂ€dagogik bzw. des performativen Paradigmas im Mittelpunkt. PerformativitĂ€t wird entlang der einzelnen Teilkapitel im Zusammenhang mit zentralen Begriffen des PĂ€dagogischen diskutiert.

Im Hinblick auf die Vermittlung von pĂ€dagogischen Wissensformen in der Lehrer_innenbildung resĂŒmiert die Autorin am Ende des fĂŒnften Kapitels und stellt den ‚PĂ€dagogischen Takt‘ (nĂ€her bestimmt als KontextsensitivitĂ€t) ins Zentrum, der gleichsam fĂŒr die theoretisch vorbereitete und spontane Adaption bestimmter erzieherischer und didaktischer Maßnahmen in konkreten Situationen sowie fĂŒr eine rationale und intuitive nachgĂ€ngige ÜberprĂŒfung der bewirkten Effekte als notwendig erachtet wird. Die theoretische Modellierung solcher Übersetzungsleistungen von Theorie in praktische ZusammenhĂ€nge, die in der Arbeit als Desiderat erkannt wurde, bzw. die „theoretische und empirische Eruierung“ (164) erfolgt in performationstheoretischer Perspektive und wird im zentralen sechsten Kapitel als die EinĂŒbung in pĂ€dagogische Wissensformen nĂ€her dargelegt.

In Kapitel sechs expliziert die Autorin professionelle Erfahrungsbildung in der Lehrer_innenbildung durch fĂŒnf Elemente, welche als Modi einer performativen Ausbildung diverser Wissens-, Denk- und TĂ€tigkeitsformen sowohl als Mittel als auch als Ziel ausgelegt werden können. Genannt werden erstens das VerfĂŒgbarmachen von habituell verfestigten Befangenheiten, zweitens die Expertise im Umgang mit pĂ€dagogischen Spannungsfeldern, mit Differenzgeschehen und heteromorpher NormativitĂ€t, drittens die Notationen des Unterrichts und einer Unterrichtschoreographie, viertens der pĂ€dagogische Umgang mit unerwarteten Ereignissen und fĂŒnftens der pĂ€dagogisch taktvolle Umgang mit situativen Herausforderungen. Anhand von vier Beispielen skizziert die Autorin in Bezugnahme auf die genannten Modi Aspekte einer performativen Hochschuldidaktik.

Die Beispiele veranschaulichten einen Begriff von QualitĂ€t, der auf die Herstellung derjenigen pĂ€dagogischen Wissensformen ziele, durch die pĂ€dagogische Praxis konstituiert und hervorgebracht werde. Mittels der genannten Ziele performativer Lehrer_innenbildung könne „ein Bewusstsein ĂŒber die anthropologischen Annahmen und das multimodale Wissen ausgebildet werden, welche die pĂ€dagogische Arbeit anleiten“ (174). QualitĂ€t stehe hierbei nicht fĂŒr das GĂŒtesiegel ‚gut‘, sondern fĂŒr die Orientierung an den pĂ€dagogischen Wissensformen und Zielen, die im Kontext von Schulunterricht als Choreographie beschrieben werden.

Die Autorin nennt im siebten Kapitel abschließend Forschungsdesiderate: Zwar sei ein performativitĂ€tstheoretisch angelegter pĂ€dagogischer QualitĂ€tsbegriff argumentativ angerissen worden, jedoch stehe seine Ausarbeitung noch aus, ebenso ein daran orientiertes Konzept der Evaluation pĂ€dagogischer TĂ€tigkeiten sowie eine nĂ€here Bestimmung pĂ€dagogisch-praktischer Kompetenzen und ihrer didaktischen Erschließung fĂŒr die Lehrer_innenbildung. Ihre Bearbeitung, so die Autorin, setze jedoch die Schließung des Desiderats der empirischen Erforschung der in FĂŒlle vorhandenen (und fĂŒr performativitĂ€tstheoretische Auseinandersetzungen mit pĂ€dagogischen Wissensformen als zentral erachteten) theoretischen Forschung zu pĂ€dagogischen Antinomien, dem Bildungsbegriff oder der Theorie-Praxis-Relation voraus.

Der Anspruch, den Begriff von QualitĂ€t in der pĂ€dagogischen Praxis bzw. in der Lehrer_innenbildung entgegen des gesehenen Trends eines eher empirisch-metrischen VerstĂ€ndnisses und ihrer effektiven Optimierung mit Inhalt zu fĂŒllen, der den „Eigensinn der Praxis“ berĂŒcksichtigt, ist hoch. Die Auseinandersetzung mit pĂ€dagogischen Wissensformen (im Lichte einer pĂ€dagogischen Anthropologie) und AnsĂ€tzen performativer PĂ€dagogik ist theoretisch anspruchsvoll, breit angelegt und gefĂŒllt, wobei die Leser_in stellenweise die BegrĂŒndung der Auswahl der herangezogenen TheoriegebĂ€ude vermisst. Stellenweise erschließen sich zudem Aspekte der Argumentation erst in spĂ€teren Kapiteln, was den Lesefluss zum Teil hemmt. Die Auseinandersetzungen mit den handlungstheoretischen Voraussetzungen einer praktischen Umsetzung pĂ€dagogischer Intentionen sind – das steht außer Zweifel – notwendig, um pĂ€dagogische Prozesse und Praktiken beobachten und verbessern zu können. Offen bleibt allerdings abermals, wie eine empirische Erfassung aussehen könnte. Das stellt die Autorin aber bereits selbst fest. Die Arbeit bietet insgesamt einen wichtigen Beitrag in einer an pĂ€dagogischen Wissens- und Handlungsformen (von Lehrer_innen) orientierten QualitĂ€tsdiskussion.
Nina Beck (TĂŒbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nina Beck: Rezension von: Kraus, Anja: PĂ€dagogische Wissensformen in der Lehrer(innen)bildung, Ein performativitĂ€tstheoretischer Ansatz. MĂŒnster: Waxmann 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 3 (Veröffentlicht am 30.05.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383093351.html