EWR 20 (2021), Nr. 5 (September/Oktober)

Ulrich Steffens / Rudolf Messner
UnterrichtsqualitÀt
Konzepte und Bilanzen gelingenden Lehrens und Lernens
MĂŒnster: Waxmann 2019
(417 S.; ISBN 978-3-8309-3937-5; 39,90 EUR)
UnterrichtsqualitĂ€t Unterricht stellt das Zentrum schulischen Lebens dar und ist von wesentlicher Bedeutung fĂŒr die Entwicklung von Wissen, VerstĂ€ndnis und Kompetenzen sowie die psychosoziale und emotionale Entwicklung von SchĂŒler*innen. Die Frage danach, wie gelingender Unterricht gestaltet werden kann, wie also UnterrichtsqualitĂ€t erzielt werden kann, ist sowohl fĂŒr Akteur*innen in der Bildungspraxis als auch Forschende unterschiedlicher akademischer Disziplinen, allen voran der Didaktik und der empirischen Unterrichtsforschung, zentral. Praetorius und GrĂ€sel [1] bezeichnen die Suche nach Dimensionen, die qualitĂ€tsvollen Unterricht in unterschiedlichen FĂ€chern auszeichnen, sogar als Suche nach dem „Heiligen Gral“ der Unterrichtsforschung. Auch der vom QUA-LiS NRW in der Reihe „BeitrĂ€ge zur Schulentwicklung“ herausgegebene Sammelband stellt sich der Herausforderung, Konzepte und Bilanzen gelingenden Unterrichts zu identifizieren. Er versteht sich als „wissenschaftsnahe Publikation“ fĂŒr Akteur*innen in der Bildungspraxis und -forschung.

Der vorliegende Band bezeichnet Didaktik, korrespondierend mit dem VerstĂ€ndnis von UnterrichtsqualitĂ€t als „good teaching“ [2], als sein Gegenstandsgebiet. Sie befindet sich nach Aussage der Herausgeber in einem doppelten Umbruch. Zum einen wird der Paradigmenwechsel von vorwiegend hermeneutisch orientierter geisteswissenschaftlicher Forschung hin zu empirisch begrĂŒndeter bildungswissenschaftlicher Didaktik vollzogen. Andererseits stellen aktuelle Entwicklungen in der Praxis wie die StĂ€rkung von Eigenrechten und Autonomie von Jugendlichen sowie Inklusion und Digitalisierung zentrale Herausforderungen fĂŒr die bildungswissenschaftlich gewendete Didaktik dar, die die Unterrichtsgestaltung bereits in erheblichem Maße beeinflussen und zunehmend prĂ€gen werden. Die BeitrĂ€ge des Sammelbands spiegeln die verschiedenen Stadien der beschriebenen Entwicklungen des doppelten Umbruchs der Didaktik wider, eine Zuordnung der BeitrĂ€ge zu verschiedenen Aspekten der beiden Szenenwechsel wird jedoch nicht vorgenommen.

Der Blick in die einzelnen Kapitel des Sammelbands zeigt, dass nicht nur empirisch gewendete und bildungswissenschaftlich geprĂ€gte didaktische BeitrĂ€ge enthalten sind, sondern auch originĂ€r in der quantitativ empirischen Unterrichtsforschung verankerte Studien. Die Integration von BeitrĂ€gen aus beiden Richtungen im Sammelband ist eine große StĂ€rke, kommt jedoch nach der einleitend formulierten Fokussierung auf die Didaktik ein wenig unerwartet.

Die einzelnen Kapitel des Sammelbands sind eingeteilt in vier Abschnitte: Entwicklungen, EntwĂŒrfe, Bilanzen und Antizipationen. Im ersten Kapitel des Abschnitts „Entwicklungen“ von Rudolf Messner wird der Übergang von einer traditionellen zur bildungswissenschaftlichen Didaktik zum Thema gemacht, indem didaktische Probleme mit empirischer Lehr-Lernforschung konfrontiert werden. Es wird versucht, die Tiefenprozesse des Unterrichts durch Einbezug empirischer Lehr-Lernforschung zu rekonstruieren, um neue Lösungen fĂŒr didaktische Kernprobleme zu finden. Die ĂŒbrigen Kapitel betrachten spezifische Ausschnitte der beiden beschriebenen Szenenwechsel der Didaktik. Rudolf Messner und Werner Blum plĂ€dieren fĂŒr die Auflösung der Kontroverse zwischen frontalem und offenem Unterricht – sowohl aus theoretischer als auch empirischer Sicht anhand einer quasi-experimentellen Wirkungsstudie. Helmut Fend schildert in einem konzeptuellen Beitrag das Angebots-Nutzungsmodell, welches den zweiten Szenenwechsel der Didaktik (Verantwortung und Autonomie der Lernenden, Individualisierung) ins Zentrum rĂŒckt. Peter Posch schließlich beschĂ€ftigt sich ebenfalls mit der Individualisierung, indem er ein Konzept derselben entwirft und Möglichkeiten der praktischen Umsetzung beschreibt.

Die vier unter „EntwĂŒrfe“ zusammengefassten BeitrĂ€ge integrieren Erkenntnisse ĂŒber gelingenden Unterricht aus verschiedenen Forschungsperspektiven und reflektieren, wie diese handlungsleitend fĂŒr LehrkrĂ€fte werden können. Kurt Reusser sowie Christine Pauli und Mirjam Schmid verbinden jeweils auf sehr differenzierte Weise interdisziplinĂ€re Unterrichtsforschung, PĂ€dagogische Psychologie und Didaktik. Werner Blum betrachtet UnterrichtsqualitĂ€t aus mathematikspezifischer Perspektive, indem er an kompetenzorientierte Bildungsstandards und die Lehr-Lernforschung anknĂŒpft. In allen drei Kapiteln werden interessante Umsetzungsmöglichkeiten in der Praxis vorgestellt. Rudolf Messner schließlich leistet durch die Reflexion von neun Bausteinen zur Weiterentwicklung kompetenzorientierten schulischen Lernens (z.B. Kompetenzstufen, problemorientiertes Lernen etc.) hinsichtlich ihrer Eignung zur kognitiven Aktivierung im Fachunterricht einen besonders wertvollen theoretischen Beitrag, die praktische Umsetzung der Bausteine in verschiedenen FĂ€chern kann an der Stelle jedoch nur skizziert werden.

Die unter „Bilanzen“ zusammengefassten Kapitel sind stark empirisch ausgerichtet. Frank Lipowsky und Victoria Bleck begrĂŒnden in ihrem Update zu gutem Unterricht die ErgĂ€nzung der drei klassischen Basisdimensionen der UnterrichtsqualitĂ€t um die Dimension der fachbezogenen UnterrichtsqualitĂ€t. Ulrich Steffens nimmt eine WĂŒrdigung und Kritik der Hattie-Studie vor, indem er Hauptergebnisse aber auch methodologische Probleme darstellt. Besonders wertvoll fĂŒr die Unterrichtspraxis erscheint die von Ulrich Steffens und Hans Haenisch vorgenommene Verbindung der Hattie-Studie mit zentralen didaktischen AnsĂ€tzen. Die Autoren resĂŒmieren sieben Dimensionen gelingenden Unterrichts, die als Handlungsrepertoire fĂŒr guten Unterricht gelten. SpĂ€testens im Abschnitt „Bilanzen“ wird der Hauptkritikpunkt, den ich an dem Buch habe, deutlich: es fehlt eine Einordnung der BeitrĂ€ge, ggf. nach jedem Abschnitt oder am Ende des Buches in einem abschließenden Kapitel, um die Essenz fĂŒr qualitativ hochwertigen Unterricht zu filtern und die Umsetzung in der Praxis zu erleichtern. Beispielsweise ergĂ€nzen sowohl Blum (im Abschnitt EntwĂŒrfe) als auch Lipowsky und Bleck (im Abschnitt Bilanzen) die klassischen Basisdimensionen um eine mathematikspezifische Dimension. Ebenso wird der Aspekt der Metakognition sowohl von Blum als auch von Messner in ihren Kapiteln unter „EntwĂŒrfe“ hinzugefĂŒgt. BezĂŒglich beider Beispiele fehlt eine Auseinandersetzung damit, inwiefern die ergĂ€nzten Faktoren identisch sind oder Unterschiede aufweisen. Auch wĂŒrde es zur Theoriebildung und BĂŒndelung von Erkenntnissen beitragen, die von Steffens und Haenisch formulierten Dimensionen gelingenden Unterrichts auf die Basisdimensionen der UnterrichtsqualitĂ€t, die von manchen Autor*innen auf sieben Aspekte erweitert wurden (z.B. Praetorius & Charalambous [3]), zu beziehen.

Im letzten Abschnitt des Buches beschreibt Michael Schratz unter der Überschrift „Antizipationen“ zunĂ€chst die lernseitige Didaktik und stellt Ergebnisse seiner Vignettenforschung vor. Nora Haberzettl verbindet kompetenzorientierte Bildungsstandards mit individueller Diagnostik und beschreibt einen Fall exemplarisch. Catrin Siedenbiedel reflektiert in ihrem konzeptionellen Beitrag die Umsetzung von Inklusion in der Sekundarstufe. Frank Lipowsky und Kolleg*innen stellen einen systematischen ForschungsĂŒberblick zu Wirkungen von Vergleichen und Kontrastieren dar, bevor Dorit Bosse und Julian Kempf schließlich ein Konzept zur Förderung von Argumentationskompetenz durch digitales Lernen vorstellen. Der Abschnitt „Antizipationen“ fasst damit qualitative und konzeptionelle BeitrĂ€ge sowie ein systematisches Review zusammen, die nach Aussage der Herausgeber zukunftsrelevante Einzelaspekte des Grundmusters von Unterricht enthalten, deren Zusammenstellung jedoch schwer nachvollziehbar ist. Obgleich oder gerade, weil es sich um sehr interessante und gehaltvolle BeitrĂ€ge handelt, ist in diesem Abschnitt der fehlende Bezug zu anderen Kapiteln besonders bedauerlich. Wenn Schratz beispielsweise in der Herleitung seiner lernseitigen Didaktik konstatiert, dass „nach wie vor die ‚lehrseitige Steuerung‘ dominiere“ (23) und Lernen als „entscheidendes Aktionszentrum“ (23) geschwĂ€cht wird, wĂ€re der Bezug zum Angebots-Nutzungsmodell von Fend sehr hilfreich.

Insgesamt gelingt es den Herausgebern des Sammelbands ein breites Spektrum an Perspektiven auf gelingenden Unterricht darzustellen, indem sowohl konzeptionelle als auch quantitativ und qualitativ empirische BeitrĂ€ge enthalten sind, die UnterrichtsqualitĂ€t aus didaktischer und/oder bildungswissenschaftlicher Sicht betrachten. SchwerpunktmĂ€ĂŸig beziehen sich die BeitrĂ€ge auf Mathematik, wobei sich durchaus Impulse fĂŒr andere FĂ€cher ableiten lassen (vgl. Messner in „EntwĂŒrfe“). Es wĂ€re jedoch wĂŒnschenswert, die GĂŒltigkeit und Umsetzungsmöglichkeiten der im Buch vorgestellten EntwĂŒrfe und Konzepte fĂŒr andere FĂ€cher intensiver zu diskutieren. Vielversprechend erscheint dafĂŒr u.a. die Auseinandersetzung mit dem VerstĂ€ndnis von UnterrichtsqualitĂ€t als Zusammenstellung generischer Dimensionen, die jeweils fachspezifisch ausgestaltet werden mĂŒssen [1].

Forschung und Praxis wĂŒrden von einer Integration der BeitrĂ€ge in einem abschließenden Fazit stark profitieren, damit die zahlreichen zweifellos sehr wertvollen Listen an QualitĂ€tsmerkmalen nicht mehr lose nebeneinanderstehen. Sicher wĂ€re eine solche Integration sehr anspruchsvoll und aufwĂ€ndig und es könnten nicht alle Aspekte verbunden und nicht alle WidersprĂŒche aufgelöst werden. Es erscheint dennoch vielversprechend, die verschiedenen Entwicklungen, EntwĂŒrfe, Bilanzen und Antizipationen in zukĂŒnftigen Publikationen noch stĂ€rker aufeinander zu beziehen, um voneinander lernen zu können und Unterricht zu verbessern.

[1] Praetorius, A.-K. & GrÀsel, C.: Noch immer auf der Suche nach dem heiligen Gral: Wie generisch oder fachspezifisch sind Dimensionen der UnterrichtsqualitÀt? Unterrichtswissenschaft, 49(2), 2021, 167-188.
[2] Berliner, D. C.: The Near Impossibility of Testing for Teacher Quality. Journal of Teacher Education, 56, 2005, 205-213.
[3] Praetorius, A.-K. & Charalambous, C. Y.: Classroom observation frameworks for studying instructional quality: looking back and looking forward. ZDM, 50(3), 2018, 535–553.
Katrin Rakoczy (Gießen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Katrin Rakoczy: Rezension von: Steffens, Ulrich / Messner, Rudolf: UnterrichtsqualitĂ€t, Konzepte und Bilanzen gelingenden Lehrens und Lernens. MĂŒnster: Waxmann 2019. In: EWR 20 (2021), Nr. 5 (Veröffentlicht am 25.10.2021), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383093937.html