EWR 19 (2020), Nr. 3 (Juli / August)

Martin Rothgangel / Ulf Abraham / Horst Bayrhuber / Volker Frederking / Werner Jank / Helmut J. Vollmer (Hrsg.)
Lernen im Fach und über das Fach hinaus. Bestandsaufnahmen und Forschungsperspektiven aus 17 Fachdidaktiken im Vergleich
Allgemeine Fachdidaktik, Band 2
Münster, New York: Waxmann 2020
(598 S.; ISBN 978-3-8309-4122-4; 46,90 EUR)
Lernen im Fach und über das Fach hinaus. Bestandsaufnahmen und Forschungsperspektiven aus 17 Fachdidaktiken im Vergleich Auf den 2017 erschienenen Band „Auf dem Weg zu einer Allgemeinen Fachdidaktik“ [1] folgt nun aus dem gleichen Herausgeberkreis der zweite Band der Reihe Allgemeine Fachdidaktik. Der erste Band bemühte sich um die Grundlegung einer Metatheorie der Fachdidaktik, welche ihre Aufgabe in der vergleichenden Beobachtung der Fachdidaktik sieht. Aus den so gewonnen Erkenntnissen dient sie der Entwicklung einer gemeinsam begründeten fachdidaktischen Sprache und Praxis und hat die Theorie der fachlichen Bildung zum Ziel. Ausgehend von einem gemeinsamen Symposium der beteiligten Autor/innen in Wien verfolgt nun der zweite Band die empirische Durchdringung dieses ambitionierten Programmes und fokussiert hierfür die erste angesprochene Aufgabe der Metatheorie der Fachdidaktik, also der vergleichenden Beobachtung. Hierzu wird ein zweischrittiges Verfahren verfolgt. Zuerst erfolgt eine (Selbst-)Darstellung der 17 beteiligten Fachdidaktiken, anschließend folgt ein Vergleich der fachdidaktischen Darstellungen mittels Grounded Theory. Ob mit dieser „Beobachtung der Beobachtungen“, „[b]ei der Entwicklung der Allgemeinen Fachdidaktik […] Beobachtungen dritter Ordnung“ (19) im Sinne Luhmanns stattfinden (können), ist allerdings in Frage zu stellen.

Die Darstellungen aus 17 Fachdidaktiken (Biologie-, Deutsch-, Englisch-, Musik-, Religions-, Chemie-, Geographie-, Geschichts-, Informatik-, Kunst-, Mathematik-, Physik-, Politik-, Sachunterrichts-, Sport-, Technik- und Wirtschaftsdidaktik) erfolgen durch die jeweiligen Fachdidaktiken selbst, wobei eine gemeinsame Struktur gewählt wird. Diese unterteilt sich in drei Bereiche und greift so das Ergebnis des ersten Bandes auf, in dem diese Bereiche auf der Grundlage des dort kleineren Korpus (5 Fachdidaktiken) im Modus der Grounded Theory herausgearbeitet wurden. Die drei Bereiche (Geschichtliches, fachliches Lernen/Forschen und Lernen/Forschen über das Fach hinaus) sind nun je in zwei Impulse (Schwerpunkt (Unterrichts-)Fach bzw. Fachdidaktik) gegliedert (15-17). Somit liegt für die weitere Analyse ein gemeinsames Vergleichsschema vor. Der erste Bereich Geschichtlich bedeutsame Kontexte und Entwicklungen zum Fach und zur Fachdidaktik unterteilt sich in die zwei Impulse Geschichte und Verständnis des Unterrichtsfachs und des Fachlichen sowie Ursprünge und Entwicklungen der Fachdidaktik. Der zweite Bereich Lernen im Fach und seine fachdidaktische Erforschung ist unterteilt in die zwei Impulse Ziele, Inhalte und Kompetenzen des Fachs und des Fachlichen und Perspektiven fachdidaktischer Forschung und Entwicklung. Der dritte Bereich Lernen und Forschung über das Fach hinaus unterteilt sich in die Impulse Inhalte überfachlich verknüpfen und fachliche Kompetenzen verallgemeinern und Fachdidaktische Forschung vernetzen. Diesen sechs Impulsen folgend, legen die 17 Autor/innen eindrückliche „Fächertexte“ aus einem breit angelegten Fächerkorpus vor. Die Besprechung der einzelnen Fächertexte kann vorliegend nicht im Detail erfolgen. Die Fächertexte dienen, auch über den Band hinaus, im Sinne eines Kompendiums der konzisen Einführungen in die Geschichte sowie Gegenstände der 17 Fächer bzw. Fachdidaktiken aus Innensicht der jeweiligen Expert/innen. Anzumerken ist die Breite des Korpus, welcher z.B. mit der Technik- und Wirtschaftsdidaktik auch Fachdidaktiken umfasst, die sich erst in jüngerer Zeit disziplinär konstituieren. Insgesamt liegt eine große Bandbreite an Fachdidaktiken verschiedener Denktraditionen vor.

Zur vergleichenden Analyse der Fächertexte bedient sich der Band– an dieser Stelle vornehmlich Martin Rothgangel – der Methode Grounded Theory. Diese eignet sich aus mehrerlei Gründen: Als zentral kann ihre methodologische Ausgangsannahme gelten, dass sich Phänomene „bottom up“ und im Vergleich zeigen. Diese trägt dem Anspruch der Allgemeinen Fachdidaktik als „bottom up“-konstituierte Metatheorie Rechnung, welche ihre Aussagen über Fachdidaktiken (bzw. über Beobachtungen der Fachdidaktiken) hinweg vergleichend trifft. Darüber hinaus fließen auch konsequenzlogische Überlegungen ein: So folgte auch der Band 1 einem Grounded Theory-Ansatz, weshalb auf die bereits dort entwickelten Kategorien zurückgegriffen werden kann, was bezüglich der gewählten Bereiche gelingt. Grundsätzlich zeigt sich hier ein Beispiel gelungener Passung von Forschungsfrage, Gegenstand und Betrachtungsweise. Grounded Theory trägt bereits durch das offen-induktive Kodieren den Charakteristika der verschiedenen fachdidaktischen Beobachtungen methodologisch Rechnung. So eignet sich das Vorgehen besonders in diesem Feld der Theorieentwicklung. Inhaltlich folgt die vergleichende Analyse der Struktur der Fächertexte. So sucht Rothgangel z.B. in der Analyse der Darstellungen des Impulses Geschichte und Verständnis des Unterrichtsfachs und des Fachlichen des Bereichs Geschichtlich bedeutsame Kontexte und Entwicklungen zum Fach und zur Fachdidaktik „Ankerpunkte des historisch Gemeinsamen und Unterschiedenen der fachdidaktischen Darstellungen herauszuarbeiten“ (470). Ergebnisse dieser Suchbewegung über die 17 Fächertexte hinweg werden in hoher Auflösung berichtet und münden in 6 Bündelungen hinsichtlich der Allgemeinen Fachdidaktik, im Folgenden schlaglichtartig dargestellt: Historisch zeigen sich fließende Übergänge in den Darstellungen der Geschichte des jeweiligen Unterrichtsfachs sowie der Geschichte der jeweiligen Fachdidaktik (486-489) und eine Vielzahl geteilter, für die disziplinäre Ausgründung bedeutungsvoller Ereignisse und wissenschaftstheoretischer Fundamente (497-499). Das fachliche Lernen betreffend zeigen sich gemeinsame Quellen, Zielbestimmung, Kritikperspektiven und Forschungsdesiderate, aber auch differente Relevanzzuschreibungen und Auswahlpraktiken (524-527). Das fachliche Forschen wird „unter dem Vorzeichen ‚Zunehmend‘ […] thematisiert“ (552), auch zeigt sich bezüglich empirischer Kompetenzforschung eine Unterscheidung in solche Fachdidaktiken, welche diese rege aufnehmen und solche, welche diese eher kritisch-bildungstheoretisch in Frage stellen. Gemeinsamkeiten zeigen sich in den dargestellten konstitutiven Bezugswissenschaften (552-554). Bezüglich des Lernens über das Fach hinaus zeigt sich sowohl eine Thematisierung der Dialogbereitschaft der Fachdidaktiken untereinander und mit den (empirischen) Bildungswissenschaften sowie speziell der Allgemeinen Didaktik, als auch eine verbreitete Thematisierung der Herausforderungen überfachlicher Verknüpfungen (565-566). Zuletzt zeigt sich bezüglich der Vernetzung fachdidaktischer Forschung (576-577) eine Differenz in der Intensität des Austausches mit ihren konstitutiven Bezugsdisziplinen und eine Ergänzung dieser um „kontingente Dialogpartnerinnen“ (576), welche durch „die Ausrichtung von Forschungsförderung, bildungspolitische Weichenstellung (z. B. bezüglich Inklusion oder Kompetenz) oder auch bestimmte Forschungsideen relevant werden“ (577).

Der Band folgt einer klaren Systematik, welche bereits die Überlegungen zur Allgemeinen Fachdidaktik des ersten Bandes der Reihe kennzeichnet und den Ausführungen eine Relevanz über das Feld hinaus verleiht. Mit dem Band liegt eine in ihrer Breite beispiellose vergleichende Beobachtung verschiedener Fachdidaktiken und ein Exempel ausführlich betriebener Grounded Theory sowie ein Kompendium fach- und fachdidaktikbezogener Konstitutionsbedingungen, Perspektiven fachbezogenen Lernens und Forschens und Anknüpfungspunkte für Lernen und Forschen über das Fach hinaus vor.

[1] Bayrhuber, H., Abraham, U., Frederking, V., Jank, W., Rothgangel, M., & Vollmer, H. J. (2017). Auf dem Weg zu einer allgemeinen Fachdidaktik, Allgemeine Fachdidaktik, Band 1. Münster New York: Waxmann.
Felix Schreiber (Tübingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Felix Schreiber: Rezension von: Rothgangel, Martin / Abraham, Ulf / Bayrhuber, Horst / Frederking, Volker / Jank, Werner / Vollmer, Helmut J. (Hg.): Lernen im Fach und über das Fach hinaus. Bestandsaufnahmen und Forschungsperspektiven aus 17 Fachdidaktiken im Vergleich, Allgemeine Fachdidaktik, Band 2. Münster, New York: Waxmann 2020. In: EWR 19 (2020), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.09.2020), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383094122.html