EWR 6 (2007), Nr. 6 (November/Dezember 2007)

Sandra J. Wagner
Jugendliche ohne Berufsausbildung
Eine Längsschnittstudie zum Einfluss von Schule, Herkunft und Geschlecht auf ihre Bildungschancen
Aachen: Shaker 2005
(293 S.; ISBN 978-3-8322-2998-6; 39,80 EUR)
Jugendliche ohne Berufsausbildung Die von Sandra J. Wagner vorgelegte bildungssoziologische Studie zu Jugendlichen ohne Berufsausbildung ist innerhalb eines von Heike Solga geleiteten Projekts „Ausbildungslosigkeit: Bedingungen und Folgen mangelnder Berufsausbildung“ am MPI Berlin entstanden und zählt damit zu den wenigen Studien, die die Lage von am Bildungssystem gescheiterten Jugendlichen in einer Längsschnittperspektive erhellen.

Die von Sandra J. Wagner durchgeführte Studie stellt eine Auswertung unterschiedlichen, jeweils repräsentativen Datenmaterials dar (amtliche Statistiken, Sozioökonomisches Panel, Deutsche Lebensverlaufsstudie sowie eine standardisierte Befragung von SonderschulabsolventInnen). Diese Daten wurden mit aktuellen empirischen Bildungsstudien (LAU, LAUF, PISA) kontrastiert. Für die Längsschnittperspektive wurden Alterskohorten im Zehnjahres-Rhythmus gebildet, beginnend ab den 1930 Geborenen, so dass die Situation ausbildungsloser Jugendlicher vom Ende der 1950er bis Ende der 1990er Jahre in den zeitlichen Untersuchungsraum fällt. Der Auswertung liegen drei (man möchte fast sagen, klassische) Hypothesen zugrunde: Erstens wird angenommen, dass mit der Expansion des Bildungswesens in der Bundesrepublik eine Verlagerung der Selektion von der Schule in die Ausbildung erfolgt ist, wobei die Vergabe von Ausbildungsplätzen der Marktlogik folge. Zweitens wird angenommen, dass die bildungsbezogene Benachteiligung sozialkulturell schwächerer Milieus im Bereich der Berufsausbildung aufrechterhalten wird. Und drittens wird eine Geschlechterhypothese verfolgt, nach der der hohe Anteil ausbildungsloser Frauen ebenfalls im Zuge der Bildungsexpansion zurückging (vgl. 104).

Dabei werden teilweise neue Befunde sichtbar: Die Normalität von ‚Ausbildungslosigkeit’ in den Nachkriegsjahren ist von ca. 50% auf eine Problemgruppe von 7,7% in den späten 1990er Jahren zusammen geschrumpft, wobei hier insbesondere auch Frauen vom Prozess der Bildungsexpansion profitieren konnten (von ca. 70% Rückgang auf ca. 10%) (vgl. 137). Außerdem ist der erwartete Trend zur Ethnisierung dieses Problems eingetreten: Etwa 50 % der ausbildungslosen Jugendlichen der Geburtenjahrgänge 1971-1975 haben einen Migrationshintergrund (166). Interessant ist darüber hinaus, dass auch die Gruppe der SonderschülerInnen (Typ Lernhilfe) mit in die Untersuchung aufgenommen wurde, allerdings nur in einem Exkurs, da die der Studie zugrunde gelegten Daten diese Gruppe nicht gesondert berücksichtigen und weitere, allerdings regionale Erhebungen herangezogen werden mussten. Hier kommt die Autorin zu dem Ergebnis, dass die „soziale Homogenität der Sonderschülerinnen und Sonderschüler“ – auch mit Blick auf ihren hohen Migrationsanteil und die Überrepräsentanz von Jungen „in der sozialen Homogenität der beruflich ausbildungslosen Jugendlichen weiter fort [wirkt]“ (212). Dies ist ein Effekt, der auch für die Gruppe der HauptschülerInnen nachweisbar gewesen ist. Damit kann Sandra J. Wagner zeigen, dass zwar der Stellenwert und der Umfang an Bildung im Untersuchungszeitraum erheblich zugenommen hat, hingegen die Selektionsinstrumente gleich geblieben sind und die Gruppe sozial Benachteiligter weiterhin in den höheren Bildungsgängen unterrepräsentiert bleibt. Dadurch, dass der Erwerb von Bildungs- und Ausbildungszertifikaten durch den Prozess der Bildungsexpansion inzwischen zum Standard avanciert ist, gewinne die wohlfeile These der individuellen Selbstverschuldung zunehmend an Geltungskraft. Darüber hinaus gibt Wagner kritisch zu bedenken, dass die Maßnahmensysteme der Benachteiligtenförderung keineswegs kompensatorische Effekte zeitigen, sondern, im Gegenteil, soziale Exkludierungen manifestieren: So münden beispielsweise Sonderschulkarrieren zu fast 100% in Maßnahmenkarrieren.

Zusammenfassend hält Wagner fest, dass „die Bildungskarriere junger Ausbildungsloser eher als ein Prozess der Statuszuweisung und weniger als ein Prozess des Statuserwerbs zu charakterisieren [ist]“ (225).

Die Studie von Sandra J. Wagner besticht vielleicht nicht zwingend durch zahlreiche überraschende Befunde, jedoch durch ihre gründliche und sehr differenzierte Auswertung des herangezogenen Datenmaterials. Damit liefert sie einen profunden Beitrag für die Diskussion der Systemeffekte des gegenwärtigen Bildungssystems – auch hinsichtlich ihrer theoretischen Analysen (unter Einbeziehung von Systemorientierungen an Begabungstheorien und Normalbiographien sowie individuellen Bildungsaspirationen etc.).

Einmal mehr kristallisiert sich der inzwischen veränderte typische Verlierer im Bildungs- und Ausbildungssystem heraus: Vom katholischen Mädchen vom Land zum männlichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund im urbanen Raum.
Stephan Ellinger (Frankfurt/WĂĽrzburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Stephan Ellinger: Rezension von: Wagner, Sandra J.: Jugendliche ohne Berufsausbildung, Eine Längsschnittstudie zum Einfluss von Schule, Herkunft und Geschlecht auf ihre Bildungschancen. Aachen: Shaker 2005. In: EWR 6 (2007), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2007), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383222998.html