EWR 9 (2010), Nr. 5 (September/Oktober)

Dominik Krinninger
Freundschaft, Intersubjektivität und Erfahrung
Empirische und begriffliche Untersuchungen zu einer sozialen Theorie der Bildung
Bielefeld: transcript 2009
(275 S.; ISBN 978-3-8376-1287-5; 30,80 EUR)
Freundschaft, Intersubjektivität und Erfahrung In seiner Dissertationsschrift analysiert Dominik Krinninger „aus pädagogisch-bildungstheoretischer Perspektive“ in praxeologischer Orientierung Gespräche mit drei männlichen erwachsenen Freundespaaren über ihr gemeinsames Interesse an Popmusik. Es ist das Ziel der Studie, Freundschaft als „durch eine gemeinsame Praxis gegebenen Bedeutungs- und Erfahrungsraum“ darzustellen, „in dem sich spezifische Bildungsbewegungen“ leiblich, sozial und intersubjektiv fundiert vollziehen (10, vgl. auch 11).

Das erste Kapitel gibt einen Überblick über begriffliche Grundlagen und den Stand der Forschung zur Freundschaft. Das bildungstheoretische Selbstverständnis der Untersuchung wird mit dem Anliegen formuliert, „Freundschaft und das Verhalten, das sie ausmacht, als eine spezifische Form von Bildung“ (40) zu beschreiben. Diese soll jedoch nicht als solitär verstandene „Selbst-Bildung“, sondern als „Verschränkung von Subjekt und Sozialität im Modus einer originären Inter-Subjektivität“ (34) deutlich werden. Ein solcher gemeinsam konstituierter Erfahrungs- und Bildungsraum zeigt sich in den Aspekten „der Geselligkeit, der Atmosphäre, der Leiblichkeit und Sozialität“ (50) in seiner performativen und biographiekonstitutiven Dimension.

Im kurzen zweiten Kapitel zu methodischen und gegenstandskonstitutiven Überlegungen wird erläutert, dass ausgehend von den begrifflichen Grundlagen „eine spezifische Erfahrungspraxis“ (53) beobachtet werden soll, um durch deren Interpretation die „sie tragenden bildungstheoretischen Konzepte zu bestätigen, zu erweitern oder zu berichtigen“ (69). Sprache und Sprechen, das Verhalten zueinander, Verständigung und Verstehen werden – aus dem Blickwinkel von Performativität – selbst als (beobachtbare) Praxen verstanden. Sie werden damit zum „Ort der Hervorbringung neuer Bedeutung“ (55) sowie zum „Raum, in dem sich die Gesprächspartner selbst, gemeinsam und gegenseitig als Freunde immer wieder neu hervorbringen“ (57). Die besondere Qualität von Freundschaft wird dabei durch die „Betrachtung der Auseinandersetzung von Freunden mit einem Gegenstand ihres gemeinsamen Interesses“ (60) abgesichert. Diesen bildet hier die Popmusik, deren Bildungsbedeutsamkeit zudem durch „Musiksoziologische Untersuchungen […] und Beiträge zur ästhetischen Bildung“ (61) belegt wird.

Im umfangreichsten dritten Kapitel werden dann jeweils aufeinander folgend die im „Sinne der von Ricœur vorgeschlagenen Ergänzung von strukturaler und inhaltlicher Interpretation“ (67) ausgewerteten Gesprächen mit den drei Freundespaaren vorgestellt. Sie werden unter ein je eigenes Motiv gestellt: „Freundschaft als Rhythmus“ (75), „als Teamplay“ (114) und „als Salon“ (151). Die einzelnen Darstellungen arbeiten sich an der Beschreibung der „Performativität der Beziehung“ und der gemeinsamen Bezugnahme auf Popmusik ab. Zudem beschreiben und differenzieren sie die beobachteten je gemeinsamen wie je individuellen bildungsbedeutsamen Erfahrungen der Gesprächspartner.

In den Interpretationen werden einerseits interessante theoretische Schlaglichter geworfen, die dem mit Mollenhauer avisierten „Hinzufinden des richtigen Begriffs“ (69) entsprechen. Bspw. kommen hier „Simmels Konzept der ‚differenzierten Freundschaft’“ (78) oder Kracauers Aspekt der „Dialektik von Distanz und Verbundenheit“ (80) zum Tragen. Jedoch werden sie nicht systematisch zueinander in Beziehung gesetzt, so dass sie etwas okkasionell erscheinen. Andererseits wird auf die vorher genannten Dimensionen von Bildung zurückgegriffen, um bspw. die in der gemeinsamen Erzählhaltung erzeugte Synchronisierung beider Biographien sowie deren Implikation gegenseitiger Mitverantwortung als bildungsbedeutsame Prozesse herauszustellen (vgl. 104). Auch wird auf nachfolgend ausführlicher diskutierte Konzepte vorgegriffen, wie bspw. auf die ästhetische Erfahrung bei Dewey (vgl. 90). Hierdurch soll die zentrale These der Studie illustriert werden, durch „ihre enge Verflechtung in der Erzählung“ entwickelten die Freunde „in der intersubjektiven Sphäre der Sprache eine gemeinsame Erfahrung“ (107).

Als „Resümee der drei Falldarstellungen“ (187) werden im vierten Kapitel die vorgebrachten Aspekte der freundschaftlichen Beziehungen sowie die inhaltlichen und formalen Hinsichten von Bildung noch einmal zusammengefasst, für deren Diskussion vor allem Dewey relevant wird. Sie münden im Vorschlag der Beschreibung von Freundschaft als Spiel und als Feld unter Bezugnahme auf Bourdieu.

Im fünften Kapitel bezieht Krinninger seine Ausführungen auf „Aspekte einer sozialen Theorie der Bildung“ (207) zurück, als deren pädagogisch-pragmatistischer Pate ihm Dewey gilt. Deshalb werden dessen Begriffe education und habits aufgenommen, um eine Brücke zwischen „Bildung als soziale[r] Praxis“ (208) und als einer „konkret gebundenen, leibnahen Erfahrung“ (217) zu schlagen. Als Chiffre für die so erzielte „Überschreitung einer grenzklaren Trennung von Sozialität und Subjekt“ (210) dient Meyer-Drawes phänomenologische Wendung „Subjektivität als Formation“ (211, 223, 243). In die Beschreibung einer solchen „um die leibliche Erfahrung erweiterten Vernunft“ (217) fließen auch die vorhergehend als bildungsbedeutsam bestimmten Kategorien Mimesis, Stimmung, Atmosphäre und Performativität ein. Von hier aus werden noch einmal Parallelen zum soziologischen Habitus- und Feld-Konzept Bourdieus eingeholt und die Ergebnisse dieser Diskussion auf die Bestimmung von „Freundschaft als Körperschaft“ (237) gewendet.

Diese Ergänzungen werden als Stärke der Studie aufgefasst: „Eine solchermaßen empirisch gehaltvolle Betrachtung der Leiblichkeit kann dabei helfen, die grundlegenden, aber auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau angesiedelten Einsichten einer phänomenologischen Bildungstheorie zu leiblichen und – damit verknüpft – intersubjektiven Dimensionen des Bildungsprozesses für pädagogische Theorie und Praxis zugänglicher zu machen“ (237). Im vierseitigen Schlusskapitel wird abschließend auf offene und weiterführende Fragen verwiesen.

Die dreifache Orientierung der vorliegenden Studie (1. darauf, wie Freundschaft praktisch hervorgebracht wird, 2. auf die Rolle der Popmusik in ihr und 3. auf die Entwicklung von intersubjektiven Bildungsprozessen/Erfahrungen in den Gesprächen – vgl. 12) stellt die Arbeit unter hohe Ansprüche. Nicht nur muss der systematische Zusammenhang von Freundschaft, Popmusik und Bildung/Erfahrung für die Rezipienten erst aufgewiesen werden, sondern dies soll mit Krinninger zudem durch die „wechselseitige Differenzierung und Bereicherung einer begrifflichen und qualitativ-empirischen Ausrichtung“ (12) geleistet werden. Das Ausgehen von begrifflichen Grundlagen scheint dabei allerdings teilweise auf deren Priorisierung zuzulaufen und riskiert damit den Anspruch, das „Wechselverhältnis in beide Richtungen fruchtbar“ (12) machen zu können. Das empirische Material droht dann zur bloßen Illustration theoretischer Konzepte zu werden. Dies birgt die Gefahr einer zirkulären Argumentation, in der Freundschaft als in bestimmter Weise konfigurierter Ort intersubjektiver Bildung auf die untersuchten Gespräche abgebildet wird, um dann deren Elemente zu explizieren.

Die kategoriale Herausforderung der Studie liegt jedoch in ihrem Versuch, Bildungsprozesse in den Medien Intersubjektivität und Leiblichkeit vorzustellen. Von einer (sich ebenfalls auf Humboldt berufenden) Tradition her, Bildung immer schon als die Frage nach der Vermittlung von Sozialität und Subjektivität zu verstehen, mag ihre bildungstheoretische Problemstellung der „Konfrontation von Selbstbildung und Fremdbestimmung“ (204) nicht recht einleuchten. Sie verdankt sich vermutlich dem Missverständnis von Selbst-Bildung als „gemeinhin entelechisch verstanden[e]“ Vorstellung (131, vgl. auch 40).

Das Gewicht der Studie liegt jedoch in ihrem Anliegen, eine (leiblich vermittelte) Intersubjektivität denkbar zu machen, innerhalb derer Freundschaften, Bedeutungen und Bildungserfahrungen im gemeinsamen Gespräch erst hervorgebracht werden. Diese kann nach Krinninger so „als dritte Perspektive neben der der beiden Freunde“ (mit Selman) sowie als „Entstehung einer eigenen Ordnung“ (34) und als „Freundschafts-Subjekt“ (106, 205) beobachtbar werden (vgl. 248), weil ihm die Rhetorik des Gesagten mit Ricœur als Artikulation der Erfahrung gilt (vgl. 250). Allerdings impliziert das gleichzeitig die Aufhebung der Differenz von (subjektiver) Erfahrung und deren Ausdruck, wie dies schon in der These der „soziale[n] Konstruktion von Erfahrung“ (252) selbst angelegt ist. Diese Implikation stellt mithin in Frage, wie individuelle Erfahrungsprozesse – für einen Beobachter nachvollziehbar – dann noch auf die einzelnen Subjekte zugerechnet werden können („Volkers Erfahrungsfähigkeit“ – 168) oder wie der subjektive Sinn „sich im Subjekt sedimentierender sozialer Strukturen“ (229) beschreibbar werden kann.

Die vorliegende Studie verhandelt aktuelle theoretische Konzepte im Zusammenhang mit einem in der Pädagogik noch wenig beachteten empirischen Thema. Sie ist in flüssigem Stil geschrieben und gut lesbar. Zu empfehlen ist sie insbesondere den Lesenden, die vor allem an den anregenden Facetten einer empirischen Studie über Freundschaft interessiert sind.
Sabrina Schenk (Halle / Saale)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sabrina Schenk: Rezension von: Krinninger, Dominik: Freundschaft, Intersubjektivität und Erfahrung, Empirische und begriffliche Untersuchungen zu einer sozialen Theorie der Bildung. Bielefeld: transcript 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 5 (Veröffentlicht am 13.10.2010), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383761287.html