EWR 16 (2017), Nr. 3 (Mai/Juni)

Christine Riegel
Bildung – Intersektionalität – Othering
Pädagogisches Handeln in widersprüchlichen Verhältnissen
Bielefeld: transcript 2016
(364 Seiten; ISBN 978-3-8376-3458-7; 34,99 EUR)
Bildung – Intersektionalität – Othering Bildung und pädagogisches Handeln müssen im Kontext ungleicher, diverser und von Macht- und Herrschaftsstrukturen durchdrungener Bedingungen erforscht und konzipiert werden. Diese Annahme liegt dem Buch zugrunde und durchzieht es als Prämisse konsequent. Dabei geht es um zweierlei: Erstens um die Re- und Dekonstruktion ungleicher und gewaltförmiger Praxen und Diskurse und zweitens darum, über diese hinauszudenken, also pädagogische Handlungsperspektiven zu entwickeln, die weniger ausgrenzen, entmächtigen und missachten. Dabei wird das Verhältnis zwischen strukturellen Bedingungen und subjektiver Handlungsmächtigkeit in seiner Komplexität aufgegriffen. Hierzu bedarf es einer angemessenen Theoretisierung ebenso wie einer Methodologie, welche die unterschiedlichen Ebenen, Aspekte und Akteure sozialer Wirklichkeit zu erfassen vermag. In dem vorliegenden Band geschieht dies, indem eine intersektionale Forschungsperspektive auf Otheringprozesse in Bildungskontexten und Bildungsprozessen zunächst systematisch entwickelt und dann in empirischen Studien erprobt wird.

In den ersten beiden Kapiteln erarbeitet Christine Riegel den theoretischen Rahmen ihrer Studie und gibt einen Überblick über den Stand der aktuellen Diskurse um soziale Differenzen und Ungleichheiten in den Sozialwissenschaften. Systematisch werden strukturtheoretische, sozialkonstruktivistische und interaktionistische, poststrukturalistische, diskurstheoretische und dekonstruktivistische Ansätze, sowie Perspektiven der Cultural Studies, der Postkolonialen Theorien, der Rassismuskritik und Intersektionalitätsansätze vorgestellt und auf ihre Potenziale und Grenzen hin befragt. In einem nächsten Schritt wird der Frage nachgegangen, wie sich Otheringprozesse zunächst theoretisch fassen und dann auch empirisch untersuchen lassen. Im Zentrum steht der Anspruch, die Komplexität der Verwobenheit der verschiedenen Ebenen gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse in den Blick zu bekommen, nämlich gesellschaftliche Bedingungen, soziale Diskurse und Praktiken sowie die Perspektive des handelnden Subjekts. So wird ein intersektionales Analysemodell entwickelt (65) mit dem sich Otheringprozesse in der (pädagogischen) Praxis untersuchen lassen (60).

Konkret geht es in dieser Studie um Bildungsprozesse pädagogisch Handelnder und dieser Gegenstand wird im dritten Kapitel in dreierlei Weise angegangen:
Erstens werden zwei Felder pädagogischer Arbeit im Hinblick darauf ausgeleuchtet, wie welche Differenzkategorien und -mechanismen wirksam werden, nämlich die Schule und die außerschulische Jugendarbeit. Hier wird sehr deutlich, wie feld- und professionsspezifische Mechanismen und Praxen der Differenzierung und übergeordnete gesellschaftlich relevante Ungleichheitskategorien ineinandergreifen. In Bezug auf Schule steht das widersprüchliche Verhältnis zwischen der Anerkennung von Differenz und der sich aus einer ökonomistischen Perspektive ergebenden notwendigen Homogenisierung und Normierung im Zentrum. In der Jugendarbeit geht es vor allem um die nicht zu umgehende Reifizierungsfalle, in die man bereits tappt, wenn man definiert, wer überhaupt zur Zielgruppe gehört und wer nicht, wenn etwa unterschieden wird zwischen denen, die hilfebedürftig sind und denen, die es nicht sind (94f).

Zweitens werden begriffliche Konzepte der Bildung und des Lernens vor diesem Hintergrund diskutiert und für die weitere Vorgehensweise zugrunde gelegt. Grundsätzlich wird unterschieden zwischen Bildung als organisationalem und als subjektiv-biografischem Geschehen. Diese Unterscheidung ist im Hinblick auf die folgenden empirischen Studien systematisch sinnvoll, da es einerseits um Bildungsprozesse als pädagogisch-institutionell gerahmtes Geschehen geht (Kapitel 6) und andererseits um die subjektiven Bildungsprozesse von Pädagog_innen selbst (Kapitel 7). Für beide Zugänge wird der transformatorische Bildungsbegriff im Anschluss an Kokemohr und Koller zugrunde gelegt. Doch Riegel bezieht sich nicht nur auf den Bildungsbegriff, sondern zieht außerdem einen der kritischen Psychologie entnommenen Lernbegriff heran. Hier wird m. E. nicht hinreichend klar, in welchem Verhältnis beide zueinander stehen; das heißt Bildung und Lernen im Allgemeinen und der transformatorische Bildungsbegriff mit dem kritisch-subjektwissenschaftlichen Lernbegriff im Besonderen.

Drittens wird der Zusammenhang von Bildung und Othering dezidiert problematisiert – und zwar sowohl im Hinblick auf die Theorie als auch die Empirie von Bildungsprozessen. Bildung, so wird konstatiert, vollzieht sich immer in widersprüchlichen, von Macht- und Herrschaftsstrukturen durchzogenen Verhältnissen. Damit muss Bildung immer als sozialer Prozess verstanden werden, wobei die Eigensinnigkeit des sich bildenden Subjekts nicht aus dem Blick geraten darf (106ff).

Im vierten Kapitel erarbeitet Christine Riegel eine Methodologie intersektionaler Erforschung von Otheringprozesssen, wobei sie zunächst einen Analyserahmen aufspannt und dann intersektionale Fragedimensionen formuliert (137) mit deren Hilfe gewährleistet werden soll, dass die Komplexität der Verwobenheit im empirischen Forschungsprozess handhabbar wird. Gleichzeitig ermöglicht diese Vorgehensweise, das methodische Vorgehen offen zu halten, sodass eben nicht von vornherein festgelegt werden muss, welche Differenzkategorien in welcher Weise relevant werden. So wird im folgenden, fünften Kapitel deutlich, dass die hier vorgeschlagene Vorgehensweise eine mögliche ist (nicht die einzig mögliche), nämlich die Verknüpfung ethnografischer und biografischer Verfahren rekonstruktiv-qualitativer Forschung. Konkret werden im Kontext der pädagogischen Weiterbildung von Lehrer_innen und Sozialpädagog_innen zu den Themen Rechtsextremismus, Ethnisierung, Migration und Alltagsrassismus Beobachtungen angestellt und Interviews geführt. Es werden zwei empirische Perspektiven vorgestellt (Kapitel 6 und 7):
In der ersten Studie werden pädagogische Praktiken des Othering von Professionellen untersucht. Gegenstand sind von den Pädagog_innen selbst durchgeführte Projekte bzw. Unterrichtseinheiten mit Lehrer_innen und Sozialpädagog_innen zu den genannten Themen, die von der Autorin selbst geplant und begleitet worden sind. Ziel dieser Projekte war es, einen eigenen Bias der Professionellen bewusst werden zu lassen, so dass Otheringprozesse in der pädagogischen Praxis kritisch-reflexiv einholbar werden. Einsatzpunkte der Analysen bilden die Thematisierungen von Differenz in der Praxis ebenso wie in der Reflexion derselben sowie die je eigene Positionalisierung der Professionellen gegenüber den Jugendlichen mit denen sie arbeiten (162ff).
Mithilfe des zuvor erarbeiteten Rahmens und der Fragedimensionen, gelingt es, unterschiedliche Praktiken des Othering auszumachen und zu rekonstruieren, wie sie wirksam werden. Besonders relevant ist dabei, dass diese Prozesse sich in einem Kontext vollziehen, der selbst dazu angelegt wurde, Otheringprozesse zu reflektieren. Insbesondere anhand der geführten Interviews wird eindrücklich deutlich, dass die Reflexion der eigenen Otheringpraxis sich nicht einfach durch Wissensvermittlung verändern lässt, sondern dass es hier einer tiefgreifenden Transformation von Positionen und Handlungsprämissen bedarf, die oft unangenehm, wenn nicht krisenhaft erlebt wird.
Dies wird dann in der zweiten Studie aufgegriffen und anhand zweier Fallbeispiele untersucht. Es handelt sich um eine Sozialpädagogin und eine Lehrerin, die jeweils an einem der Projekte teilgenommen haben, allerdings nicht gemeinsam, und die sich in sehr unterschiedlicher Weise positionieren und Othering praktizieren. Die Bildungsprozesse, die hier rekonstruiert werden, vollziehen sich über einen längeren Zeitraum hinweg und zeigen sich in wiederholten Beobachtungen, Gesprächen und Interviews. Zentral ist in beiden Fällen, wie sehr die Pädagog_innen verstrickt sind in widersprüchliche gesellschaftliche Verhältnisse, wobei ihre je eigene Positionalität im Verlauf der Bildungsprozesse immer mehr in den Blick rückt und zum Dreh- und Angelpunkt zunächst ihrer Auseinandersetzung mit den und dem Anderen wird und dann auch neue Handlungsspielräume in der pädagogischen Praxis eröffnen oder verstellen.

Das Buch leistet einen überaus wichtigen Beitrag zur pädagogischen Auseinandersetzung mit Differenz bzw. Differenzierungsmechanismen. Es wird sehr deutlich, dass es keinesfalls um das Erlernen des „richtigen“ oder „angemessenen“ Umgangs mit Differenz, Vielfalt oder Heterogenität geht, sondern dass es einer grundlegenden Reflexion des Zusammenhangs von Bildung und Othering bedarf – und zwar im Forschungszusammenhang ebenso wie in der pädagogischen Praxis. Es muss immer auch darum gehen die eigene, zumeist privilegierte, Position zu hinterfragen und dieser Prozess, so wird in diesem Buch herausgearbeitet, kann selbst als Bildungsprozess verstanden werden.
Anke Wischmann (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anke Wischmann: Rezension von: Riegel, Christine: Bildung – Intersektionalität – Othering, Pädagogisches Handeln in widersprüchlichen Verhältnissen. Bielefeld: transcript 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 3 (Veröffentlicht am 30.05.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383763458.html