EWR 19 (2020), Nr. 5 (November / Dezember)

Ellen Kollender
Eltern-Schule-Migrationsgesellschaft
Neuformation von rassistischen Ein- und Ausschlüssen in Zeiten neoliberaler Staatlichkeit
Bielefeld: transcript 2020
(378 S.; ISBN 978-3-8376-5091-4; 25,99 EUR)
Eltern-Schule-Migrationsgesellschaft Wie sind Eltern und Schulpädagog*innen in den Rassismus und Neoliberalismus eingebunden? Wie wird ihre Beziehung zueinander und ihr alltägliches (Aus-)Handeln durch Migrations-, Integrations- und Bildungsdispositive strukturiert? Darauf geht Ellen Kollender in ihrer Studie „Eltern – Schule – Migrationsgesellschaft. Neuformationen von rassistischen Ein- und Ausschlüssen in Zeiten neoliberaler Staatlichkeit“ ein. Sie analysiert elterliche Subjektivationsprozesse im Kontext von Rassismus und neoliberalen Transformationen, indem Erfahrungen und Selbstverständnisse von Eltern in ihrer wechselseitigen Verschränkung mit den sich verändernden politischen Diskurspositionen sowie schulisch-pädagogischen Wissensbeständen rekonstruiert werden.

Mit ihrer Studie schliesst Ellen Kollender eine Lücke: Sie nimmt den Kontext neoliberaler Staatlichkeit in den Blick, innerhalb dessen die Forderungen nach verstärkter Involvierung von Eltern über die Praktiken der Aktivierung, Responsibilisierung und Disziplinierung realisiert werden. Dabei wird vor allem auf Eltern fokussiert, die in Migrationsverhältnissen als ‘Andere’ positioniert werden und für die sich diese Forderungen als besonders brisant zeigen. Denn neoliberale Adressierungen verschränken sich für sie mit rassialisierten Veranderungen und bilden einen Kontext, der durch und in spezifischen MachtWissens-Konfigurationen hervorgebracht und stabilisiert wird. In diesem Sinne widmet sich die Analyse der „Verstricktheit von Politik, Schule, Pädagog_innen und Eltern in globale und lokale Ungleichheitsverhältnisse sowie diesbezügliche[r] Dynamiken“ (20). Bildungsinstitutionen und -konstellationen werden hierbei nicht als ‘rassismusfreie Orte’ imaginiert, sondern als zu analysierende Orte des Geschehens betrachtet. Im Fokus sind damit weniger die Erfahrungen einzelner (oder kollektiver) Akteur*innen, sondern viel mehr ein komplexer MachtWissens-Zusammenhang, der an der Schnittstelle von Diskursen, institutionellen Wissensbeständen und subjektiven Erfahrungsräumen verortet wird.

Im ersten Teil ihrer Studie beschreibt Ellen Kollender ihre theoretischen, methodischen und methodologischen Zugriffe. Nach Ausführungen zu Prozessen des Otherings in den sich verschränkenden Figurationen von Neoliberalismus und Rassismus, insbesondere im Kontext Schule, nimmt sie eine dispositivanalytische Perspektivierung vor und begründet Dispositive als Bedingungskontexte von Subjektivierungsprozessen. Mit Foucault sowie Laclau und Mouffe werden Dispositive als Mechanismen der Fixierung und Hervorbringung (migrations-)gesellschaftlicher Ordnungen begründet. Mit Butler werden Subjekte (in der Analyse Eltern- und Schulakteur*innen) als „dem dispositiven ‘Spiel’ nicht einfach unterworfen“ (77), sondern als „an der Gestaltung dispositiver MachtWissens-Ordnungen“ (ebd.) aktiv mitwirkend eingeführt. Diese theoretische Untermauerung ermöglicht, „die Dynamiken auf Struktur-, Institutions- und Subjektebene noch weiter zusammenzudenken“ (46). Hieraus entwickelt Ellen Kollender einen „multiperspektivische[n] Ansatz für die Analyse dispositiver MachtWissens-Formationen um Eltern und Schule“ (21). In dieser Rekonstruktion dispositiver Verknüpfungen greift sie sowohl auf politische, behördliche und rechtliche Dokumente wie auch auf Interviews mit (Schul-)Pädagog*innen, Eltern und Eltern in ‘Migrant*innenorganisationen’ zurück, die sie in einem Methodenmix – thematische Kodierung, Diskursanalyse nach Höhne und Elemente der dokumentarischen Methode – auswertet.

Der zweite Teil der Studie stellt die Ergebnisse der Analyse dar, in denen politische Diskurspositionen, schulisch-pädagogische Wissensbestände und Subjektivationen im dispositiven Kontext der migrationsgesellschaftlichen Verhältnisse von Rassismus und Neoliberalismus zusammengebracht werden. So zeigt Ellen Kollender auf, wie die Akteur*innen dazu beitragen, dass sich spezifische Diskurse, Wissen und Handeln zu spezifischen MachtWissens-Formationen verdichten und wiederum rahmend wirken. Hierzu nimmt sie drei Dispositive in den Blick: Beim Migrationsdispositiv betrachtet sie die Entwicklungen des politischen Diskurses um Eltern und Migration im (Berliner) Schulsystem, Othering und Adressierungen von Eltern als ‘migrantische und muslimische Andere’ wie auch die sich in diesem Kontext vollziehenden Positionierungen von Eltern und in sogenannten migrantischen Vereinen aktiven Personen. Im Integrationsdispositiv wird die Idee der Integrationsförderung und -forderung hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf Verhandlungen von Elternschaft betrachtet. Hier geht Ellen Kollender in einem Exkurs auch auf die Bedeutung des Sicherheitsdispositivs (244) ein und darauf, wie Familien zu einem Risiko diesbezüglich konstruiert werden. Im Herausarbeiten des Bildungsdispositivs stellt sie dar, wie elterliche Subjektivationen angesichts von neoliberalen Bildungsreformen und diskursiv dominanten Ideen zu einer ‘Bildungsferne’ stattfinden. Insbesondere die Rolle der ‘Migrant*innenorganisationen’ und ihre ambivalenten Positionierungen in diesen Prozessen ist eine aufschlussreiche Ebene der Analyse. Ein Exkurs zur Gentrifizierung (288) macht auf die Auswirkungen neoliberaler Stadtentwicklung auf schulische Ein- und Ausgrenzungsprozesse aufmerksam.

Im abschliessenden dritten Teil der Arbeit bündelt Ellen Kollender ihre Ergebnisse zu fünf Hypothesen, die Formationen eines neoliberalen Rassismus bezogen auf Schule-Eltern-Verhältnisse der Migrationsgesellschaft thematisieren, und arbeitet Implikationen für eine rassismuskritische Schulentwicklung heraus.
Sie analysiert, wie unterschiedlich positionierte Eltern in Kontexten des neoliberalen Rassismus handlungsfähig bleiben können, welche Handlungsoptionen sie entwickeln und wahrnehmen oder ihnen verwehrt bleiben und wie wandelnde politische Diskurse Interpretationsfolien für die Betrachtung der Eltern liefern. Sie zeigt auf, wie in einer neoliberalen Logik entstandene und stabilisierte schulische Wissensbestände zu Ein- und Ausschlüssen führen. Sie rekonstruiert einen komplexen MachtWissens-Zusammenhang, der sich an der Schnittstelle von Migrations-, Integrations- und Bildungsdispositiven entfaltet und sich in politischen Diskursen, schulpädagogischen Wissensbeständen und Subjektivationen der Eltern manifestiert. Dies ist ein mehrspuriges und vielschichtiges Vorhaben, das der Autorin sehr überzeugend gelingt.

Ellen Kollender legt mit ihrer Studie eine sehr inspirierende Analyse vor. So bereichert sie den Forschungsstand hinsichtlich des Verhältnisses von Eltern und Schule mit einer bisher selten eingenommenen dispositivanalytischen Betrachtung dieses Verhältnisses. Dabei wird es möglich, Handlungsrationalitäten und -logiken von Akteur*innen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher MachtWissens-Formationen nachzuvollziehen. Ellen Kollender begründet Rassismus im Zeitalter neoliberaler Staatlichkeit als einen Kontext für bildungsbezogene Fragestellungen und lenkt damit die sozialwissenschaftliche Aufmerksamkeit auf einen Kontext, der in deutschsprachigen erziehungswissenschaftlichen Zusammenhängen nach wie vor viel zu selten dekonstruiert und reflektiert wird. Die Verdichtung zentraler Ergebnisse der Studie, insbesondere die Erkenntnis, dass sich Formationen des neoliberalen Rassismus der Kritik entziehen und keine Anzeichen für Subversion aufscheinen, oder, dass rassistische Diskriminierung in den privaten Verantwortungsbereich verlagert wird, zeigen auf, wie wichtig es ist, die Neuformationen von rassistischen Ein- und Ausschlüssen in Zeiten neoliberaler Staatlichkeit in dem komplexen Verhältnis von Eltern und Schule in der Migrationsgesellschaft zu betrachten. Ein absolut lesenswertes Buch – im Wissenschaftskontext, wie auch für (angehende) Praktiker*innen und Entscheidungsträger*innen – und ein wichtiger Beitrag zur Schulentwicklung.
Lalitha Chamakalayil und Oxana Ivanova-Chessex (Muttenz und Zürich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Lalitha Chamakalayil und Oxana Ivanova-Chessex: Rezension von: Kollender, Ellen: Eltern-Schule-Migrationsgesellschaft, Neuformation von rassistischen Ein- und Ausschlüssen in Zeiten neoliberaler Staatlichkeit. Bielefeld: transcript 2020. In: EWR 19 (2020), Nr. 5 (Veröffentlicht am 22.12.2020), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383765091.html