EWR 20 (2021), Nr. 1 (Januar/Februar)

Daniel Schiller
Handlungs- und wahrnehmungsleitende Orientierungen im Hinblick auf Schülerinnen und Schüler im Sportunterricht
Rekonstruktion von praktischem Wissen der Sportlehrkräfte
Aachen: Meyer & Meyer Verlag 2019
(511 S.; ISBN 978-3-8403-7674-0; 36,00 EUR)
Handlungs- und wahrnehmungsleitende Orientierungen im Hinblick auf Schülerinnen und Schüler im Sportunterricht In den vergangenen zwei Dekaden etablierte sich in der Sportwissenschaft ein sehr aktives Netzwerk zu Projekten praxeologischer Unterrichts- und Schulsportforschung, das u. a. eine Reihe rekonstruktiver Studien zu den ‚Modi Operandi’ und ‚Spielplänen’ der Konstitution von Fachlichkeit, der Materialität von Bildungsprozessen sowie der Subjektivierung von Schülern und Schülerinnen im Sportunterricht publizierte [1]. Die 511 Seiten umfassende, mit dem Ommo-Grupe-Preis der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft ausgezeichnete Dissertation Daniel Schillers schließt an die praxeologischen Pfade der Forschungsprogrammatik dieses Netzwerks an. Einen besonderen Schwerpunkt seiner Studie bildet die Praxis schüler- und schülerinnenbezogenen ‚Sehens’ von Sportlehrkräften.

‚Sehen’, so die Prämisse der Arbeit, sei kein neutraler physiologischer Vorgang, sondern Teil einer von inkorporierten Wahrnehmungsschemata und Orientierungsrahmen abhängigen sozialkulturellen Praxis. Daniel Schiller orientiert sich daher in seinen grundlagentheoretischen Bezügen an Ralf Bohnsacks wissenssoziologischer Praxeologie in der Tradition Karl Mannheims. Im Kern seines Forschungsprojekts rekonstruiert und typisiert Daniel Schiller im Forschungsstil der Dokumentarischen Methode die engeren und weiteren, wahrnehmungsleitenden und schüler- und schülerinnenbezogenen Orientierungsrahmen von Sportlehrkräften anhand der Daten von zwölf episodisch-narrativen Interviews, von denen zwei kontrastierend mit fachfremden Lehrkräften geführt wurden. Daniel Schiller begründet sein forschungsleitendes Interesse, die „modi videndi der Handlungspraxis“ (25) Sportlehrender zu rekonstruieren, mit der Annahme, dass sich in den visuellen Wahrnehmungs- und Adressierungspraktiken kollektive, fachkulturelle Wissensordnungen widerspiegeln, die institutionell-normative, explizite wie implizite Seh-Regeln für das unterrichtliche Blickgeschehen konstituieren. In diesem Kontext versteht er den zu rekonstruierenden Orientierungsrahmen im engeren Sinn als implizites, dem praktischen Wissen von Sportlehrkräften zugrundeliegendes Erzeugungsprinzip typischer schülerbezogener Sichtweisen. Im Zentrum der Studie steht die Rekonstruktion der Art und Weise, wie Sportlehrkräfte ihre Schüler und Schülerinnen in ihren ‚Sichtweisen’ selektiv konstruieren und als wen sie im Rahmen einer ‚Sichtweise’ die Heranwachsenden als Ko-Akteure des Unterrichts im unterrichtlichen Blickgeschehen adressieren und anerkennen.

Im ersten Kapitel entwickelt Daniel Schiller die grundlagentheoretischen, praxeologischen Zugänge und forschungsleitenden Prämissen seiner Arbeit. Im Besonderen legt er seinen Überlegungen performanztheoretische Theorieansätze zum ‚Sehen’ zugrunde und thematisiert visuelle Wahrnehmung als Praxis der Herstellung einer sinnlichen Ordnung des Unterrichts, in der sich auch eine unterrichtliche Anerkennungsordnung dokumentiert. Das zweite Kapitel gibt über die methodologischen und methodischen Vorüberlegungen der Studie Auskunft. Daniel Schiller setzt sich u. a. mit der Annahme auseinander, dass sich die Erhebungsmethode des episodisch-narrativen Interviews dazu eigne, im Spannungsfeld von „Erzählpraxis und erzählter Praxis“ (444) die notwendigen sprachlichen Daten zu erzeugen, um den Orientierungsrahmen des ‚Sehens’ der Lehrkräfte auf die Spur zu kommen. Nimmt man Daniel Schillers Überlegungen in einen kritischen Blick, dann stellt sich an diesem Punkt die Rückfrage, ob die Rekonstruktion der Orientierungsmuster des unterrichtlichen Blick-, Adressierungs- und Anerkennungsgeschehens nicht auf mikroethnografische, videodokumentarische Protokolle unterrichtlicher Interaktionen zwischen Lehrkräften, Schülern und Schülerinnen angewiesen gewesen wäre, um Unterricht als ein sinnlich vermitteltes Subjektivierungsgeschehen sichtbar machen zu können. Daniel Schiller scheint den Einwand zu antizipieren und verweist selbst auf eine relevante praxeografische Studie des sportwissenschaftlichen Netzwerks [2] zur sozialen Ordnung des Sportunterrichts (57), begründet aber die Beschränkung des Designs der eigenen Datenerhebung auf episodisch-narrative Interviews mit der These, dass schon „in der Art und Weise, wie Lehrkräfte ihre Schüler_innen beschreiben und ihre Erfahrungen mit Schüler_innen schildern“ (128), implizite Wissensbestände und Rahmungen der wahrnehmungsleitenden Orientierungen Sportlehrender erkenntnisrelevant zum Ausdruck kämen.

Das dritte Kapitel trägt die Überschrift „Empirische Rekonstruktion“ (157) und stellt die Ergebnisse der dokumentarischen Analyse des Datenmaterials in Form typspezifischer Orientierungsrahmen sowie typübergreifender Orientierungsfiguren der Lehrkräfte vor. Dabei wird noch einmal deutlich, dass Daniel Schiller den schüler- und schülerinnenbezogenen ‚modus videndi’ und den ‚modus operandi’ der Lehrkräfte, ihr Wahrnehmen und ihr Handeln, mit Rückgriff auf praxistheoretische Überlegungen von Reckwitz metaphorisch als zwei Seiten der gleichen Medaille unterrichtlicher Praxis begreift (123). Im Fortgang des Kapitels werden die sinngenetischen Typen partizipativer, konformer, pragmatischer, ambivalenter und trivialisierender Rahmungen unterschieden. Die Frage, wie im Kontext der Dokumentarischen Methode der komparative Schritt von der formulierenden und reflektierenden Interpretation zu den Formen der sinngenetischen Typenbildung vollzogen wurde, wird zwar im Text bis auf allgemeine Hinweise im zweiten Kapitel nur ansatzweise thematisiert. Der Ertrag der Studie ist jedoch unstrittig sehr hoch, sofern man Daniel Schiller folgt und die Ergebnisse seiner Analysen so auslegt, dass sich in ihnen generalisierbare, für Sportlehrende typspezifische und typübergreifende, kollektive Orientierungsrahmen der schüler- und schülerinnenbezogenen ‚Sichtweisen’ abzeichnen.

Das Wahrnehmungs- und Blickgeschehen der Sportlehrkräfte, so ließe sich die zentrale Aussage der Studie zusammenfassen, sei nicht oder nur marginal durch die Orientierung an der organisationsbezogenen Rolle der Schüler und Schülerinnen geleitet. Daniel Schillers Reflexion und Diskussion ausgewählter Teilergebnisse seiner Studie im vierten Kapitel zeigt vielmehr, dass das ‚Doing Student’ im unterrichtlichen Blickgeschehen, so wie es sich in den Schilderungen der interviewten Lehrkräfte dokumentiert, nicht sonderlich ausgeprägt ist. Ihre ‚Sichtweisen’ sind vielmehr durch normative und normierende Akte der Zu- und Aberkennung von Sportlichkeit vor der Hintergrundfolie eines ‚Doing Athlete’ zu verstehen. Die Wahrnehmungs- und Umgangspraxis mit Schülern und Schülerinnen ist von einer Chiffrierung der „distinkten sportlichen Herkunft“ (443) der Heranwachsenden geprägt, mit der die Sportlehrkräfte beispielsweise eine semantisch gefüllte Dichotomisierung nach Geschlecht erzeugen, der ein geschlechtsstereotypes, wahrnehmungsleitendes Ideal des sportlich leistungsstarken Jungen zugrunde liegt. Insbesondere zwischen dem partizipativen, dem pragmatischen und trivialisierenden Typus des ‚Sehens’ dokumentieren sich im Vergleich der Interviewsequenzen sehr unterschiedliche Formen eines ‚Normalität’ erzeugenden und behauptenden Umgangs mit der Spannung zwischen institutionellen Normen professionellen Agierens im Unterricht und den sportbezogenen Wahrnehmungsdispositionen der Lehrkräfte.

Daniel Schillers Arbeit markiert und bearbeitet mit der Fokussierung des schüler- und schülerinnenbezogenen ‚Sehens’ von Lehrkräften nicht nur ein Desiderat wissenssoziologischer Schulsportforschung, sondern vermag darüber hinaus insgesamt wichtige Impulse zu geben, sich in Anschlussstudien der Herstellung und Reproduktion der sinnlichen Ordnung des Unterrichts in einer wissenssoziologischen Rahmung anzunähern. Leser und Leserinnen, die im abschließenden Kapitel der Studie fachdidaktische Empfehlungen erwarten, werden enttäuscht sein: „Aufgrund ihrer deskriptiven Unterrichtskonzeption hält die Arbeit keine konkreten didaktischen Implikationen bereit. Anliegen der Rekonstruktion der Praxis war weniger, normativ werden zu können, als vielmehr die Normativität der habitualisierten Wahrnehmungs- und Handlungsmuster selbst aufzudecken“ (480). Rezipienten und Rezipientinnen, die sich für eine sehr reflektierte, theoriegeleitete und empirisch gehaltvolle Studie zur schüler- und schülerinnenbezogenen Wahrnehmung von Lehrkräften interessieren, sei die Arbeit von Daniel Schiller mit Nachdruck empfohlen.

[1] https://qualitative-forschung-spowiss.jimdofree.com
[2] Wolff, D. (2017). Soziale Ordnung im Sportunterricht. Eine Praxeographie. Bielefeld: transcript.
Matthias Schierz (Oldenburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Matthias Schierz: Rezension von: Schiller, Daniel: Handlungs- und wahrnehmungsleitende Orientierungen im Hinblick auf Schülerinnen und Schüler im Sportunterricht, Rekonstruktion von praktischem Wissen der Sportlehrkräfte. Aachen: Meyer & Meyer Verlag 2019. In: EWR 20 (2021), Nr. 1 (Veröffentlicht am 23.02.2021), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978384037674.html