EWR 12 (2013), Nr. 5 (September/Oktober)

Fritz Bohnsack
Wie Schüler die Schule erleben
Zur Bedeutung der Anerkennung, der Bestätigung und der Akzeptanz von Schwäche
Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich 2013
(285 S.; ISBN 978-3-8474-0049-3; 29,90 EUR)
Wie Schüler die Schule erleben Das Thema Schulerleben hat bereits viele Generationen von Schüler/innen und Erwachsenen beschäftigt, sei es im Zuge der Reflexion eigener Schulerfahrungen oder im Nachgang der PISA-Debatte, wenn die Frage nach der Vereinbarkeit von Leistungskonkurrenz und freier Entfaltung der Persönlichkeit gestellt wird. In seinem Buch vertritt Fritz Bohnsack die grundlegende These, dass in der heutigen Regelschule der anerkennende und wertschätzende Umgang mit Heranwachsenden immer noch viel zu wenig realisiert werde. Dies gelte ebenso für die Akzeptanz von Schwäche. Mit dieser Stoßrichtung stellt er eine interessante und zugleich diskussionswürdige Lektüre für Erziehungswissenschaftler/innen, Pädagogen und Pädagoginnen sowie weitere interessierte Leser/innen vor.

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil werden Untersuchungsergebnisse zum Schulerleben von Kindern und Jugendlichen anhand des aktuellen Forschungsstands vorgestellt. Im zweiten Teil diskutiert Bohnsack die Bedeutung von Anerkennung und die Akzeptanz von Schwäche in Bezug auf das Schulerleben.

Der erste Teil bildet den Hauptteil der Arbeit und ist insgesamt in sechs Kapitel unterteilt. Die unterschiedlichen Dimensionen des Schulerlebens werden mit dem Ziel thematisiert, „ein generelles Bild von der schulischen Situation der nächsten Generation zu gewinnen.“ (11) Forschungsergebnisse zur Passung von Heranwachsenden und der Institution Schule werden im ersten Kapitel vorgestellt. Obwohl in vielen Schulen die Forderung nach Anpassung der Schülerschaft an die bestehende Institution dominiert, erkennt Bohnsack einen zu begrüßenden Trend, indem die Lehrer/innenzentrierung aufgegeben wird und stattdessen die Lernendenden zum Ausgangspunkt didaktischer Bemühungen gemacht werden (16). Im zweiten Kapitel „generelle Schülerurteile über die Schule“ zeichnet Bohnsack aufgrund einer umfangreichen Studienlage den Rückgang des Wohlbefindens von Heranwachsenden in Schule nach (26). Dieser Trend wird im dritten Kapitel in Bezug auf das Erleben von Leistung und Versagen weiter ausdifferenziert. Dabei vertritt der Autor die These, dass im derzeitigen Regelschulwesen die Selektionsfunktion dominiert. Diese steht einer ganzheitlichen Förderung und Stärkung der Persönlichkeit von Heranwachsenden entgegen (73f). Er erkennt in einer veränderten Leistungsbeurteilung, etwa durch die Ersetzung von Noten durch Lernberichte, eine fachlich wünschenswerte Möglichkeit, Schule zu reformieren. Diese werde jedoch auf Widerstände sowohl im Fachdiskurs als auch in der Öffentlichkeit stoßen. Das Erleben von Mitbestimmung in Schule und Unterricht ist Gegenstand des vierten Kapitels. Der Autor belegt, dass sich umfassende Beteiligungsmöglichkeiten positiv auf das Wohlbefinden der Schüler/innen auswirken. Allerdings sinken die Partizipationsmöglichkeiten der Heranwachsenden, je stärker sie die grundlegenden Aufgaben von Schule betreffen (wie etwa die Gestaltung des Unterrichts) (96). Zentrale Forschungsergebnisse zum Erleben des Lehrer/in-Schüler/in-Verhältnisses aus Sicht der Heranwachsenden werden im fünften Kapitel vorgestellt. Dabei vertritt Bohnsack die These, dass die „Beziehungen der Schüler untereinander einer Humanisierung bedürfen“ (119). Ein durch Anerkennung und Wertschätzung geprägter Umgang mit den Heranwachsenden erfordere aber letztlich auch eine stärkere Integration von helfenden und beratenden Anteilen in die bisherige Lehrer/innenrolle (129). Das sechste Kapitel umfasst die Diskussion von Befunden zur Beziehungsqualität und Beziehungserleben von Heranwachsenden untereinander. Dabei erweist sich die Gestaltung befriedigender Peer-Beziehungen im schulischen Kontext als schwierig, da sich die Schüler/innen im Spannungsverhältnis zwischen der Konkurrenz um bessere Noten einerseits und der Anerkennung in Peergroups andererseits befinden.

Im zweiten Teil des Buches erörtert Bohnsack die Bedeutung von Anerkennung und die Akzeptanz von Schwäche im Hinblick auf die Entwicklung der Schüler/innen. Bohnsack erörtert im ersten Kapitel grundlegende und zugleich aktuelle Ansätze zur Anerkennung, beispielswiese von Honneth, Ricken und Balzer, Buber, Levinas und Rösner. Im zweiten Kapitel schließt sich eine Diskussion zur Bedeutung der Anerkennung für das schulische Lernen an. Dabei werden wichtige Aspekte zur schulischen Anerkennung in Bezug zu den referierten Forschungsergebnissen im ersten Teil gesetzt. Anschließend erörtert Bohnsack mit Verweisen auf reformpädagogische Schulen und Modellversuche alternative Umgangsweisen mit Stärke und Schwäche. Ausgehend von diesen Vorbildern empfiehlt er Reformen für Regelschulen in den Bereichen Schulorganisation, Unterricht, Passung von Schule und Klientel, personale Stärkung, Leistung und Gesundheit sowie Heterogenität, Individualisierung, Differenzierung und Inklusion.

Im (erziehungs-)wissenschaftlichen Diskurs ist das von Bohnsack gewählte Thema sicherlich nicht neu, ebenso wenig wie seine reformpädagogisch orientierte Schulkritik. Dafür bietet die Lektüre aufgrund der Zusammenfassung vielfältiger Ergebnisse aus der schulpädagogischen und allgemeinpädagogischen Forschung einen aktuellen Überblick zum Thema Schulerleben sowie reflektierte Anregungen hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen einer Reform der Regelschule. Darüber hinaus wird die gegenwärtige Diskussion zum Thema Anerkennung umfassend und zugleich kritisch dargelegt.

Bohnsack vertritt in seinen Darlegungen ausdrücklich normative Überlegungen zur Schulreform, um unter Bezugnahme auf Helmut Fend „zu zeigen, wie Schule sein sollte“ (169). Die konsequent normative Ausrichtung erweist sich an einigen Stellen jedoch als problematisch. Beispielsweise werden christliche Werte und Vorbilder als Maßstab zur Beurteilung pädagogischer Sachverhalte herangezogen, ohne dass dies begründet wird (vgl. etwa 74ff; 143; 201f). Diese Vorgehensweise steht jedoch im Widerspruch zur befürworteten Heterogenität und Offenheit für Vielfalt in der Schule. Darüber hinaus stellt die an einigen Stellen unreflektierte Bezugnahme auf christliche Werte die Stringenz und Nachvollziehbarkeit der geführten Argumentation infrage.

Die Bezugnahme auf einen explizit moralisch wertenden Standpunkt führt an einigen Stellen zudem zu typisierenden Perspektiven, etwa in Bezug auf die Jugendphase. Abweichende Verhaltensweisen, wie etwa Drogenkonsum oder Aggressionen, werden ausschließlich aus der Perspektive einer vermeintlichen Fehlentwicklung der Persönlichkeit gedeutet. Adoleszenztheoretische Einsichten, nach denen Devianz im Jugendalter zumeist entwicklungsbedingt ist und lediglich episodenhaft verläuft [vgl. etwa 1], werden nicht in die Überlegungen mit einbezogen. Damit wird jedoch eine etikettierende Sicht auf Jugendliche begünstigt.

Trotz der differenzierten und zugleich sehr umfangreichen Diskussion zum Anerkennungsbegriff, ist die von Bohnsack bevorzugte normative Ausrichtung in diesem Zusammenhang kritisch zu bewerten. Inwieweit seine Überzeugung trägt, dass allein ein normativer Anerkennungsbegriff geeignet ist, um Reformvorschläge zu konzeptionieren, bleibt fraglich. Für das Thema Anerkennung gilt, ebenso wie für das Thema Erziehung, dass die gut gemeinte Absicht nicht notwendig als Bestätigung von Schüler/innen wahrgenommen wird. Eine Fokussierung auf lediglich erwünschte Formen von Anerkennung in der Schule begünstigt eine Ausblendung von Praktiken, die Anerkennungsverluste und Missachtungen implizieren, ohne dass diese als solche offen gelegt werden, wie dies etwa bei Formen institutioneller Diskriminierung der Fall ist.

Mit der bewusst reformpädagogisch ausgerichteten Publikation bietet Bohnsack ein streitbares Buch an, das sicherlich zur Diskussion und Kritik anregt. Zugleich führt er den Leserinnen und Lesern aufgrund der wissenschaftlichen Fundierung seiner Argumentationen nicht nur die Notwendigkeit einer Schulreform deutlich vor Augen, er benennt zugleich die Richtung, in der sie sich bewegen sollte. „Reform bedeutet also Opposition und erfordert den Mut zum Abweichen, zum gegen den Strom Schwimmen“ (9). Dies ist ihm mit dieser Veröffentlichung sicherlich auf eine sehr differenzierte und anspruchsvolle Art und Weise gelungen.

[1] Bundesministerium des Innern (2006): Zweiter periodischer Sicherheitsbericht. (abrufbar unter http://www.bmi.bund.de), 357f.
Claudia Equit (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Claudia Equit: Rezension von: Bohnsack, Fritz: Wie Schüler die Schule erleben, Zur Bedeutung der Anerkennung, der Bestätigung und der Akzeptanz von Schwäche. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich 2013. In: EWR 12 (2013), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2013), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978384740049.html