EWR 14 (2015), Nr. 4 (Juli/August)

Julia Hellmer / Doris Wittek (Hrsg.)
Schule im Umbruch begleiten
Studien zur Bildungsgangforschung
Opladen: Barbara Budrich 2013
(299 S.; ISBN 978-3-8474-0086-8; 29,90 EUR)
Schule im Umbruch begleiten Wandel, Bewegung, Entwicklung, Klima der Veränderung, Beharrung und Gestaltung sind die Vokabeln, mit denen das Themenfeld Schulentwicklung abgesteckt wird. Die Herausgeberinnen fordern die Wissenschaft auf, über Beobachtung, Analyse und Modellentwicklung von „Schule im Umbruch“ hinauszugehen und sich als Begleiterin dieser Prozesse zu betätigen. Damit wird ein Kernthema der Arbeit von Johannes Bastian ins Zentrum gestellt, dem der Band gewidmet ist. Aktuelle Schulstrukturreformen sind Ausgangspunkt, um Entwicklungsherausforderungen für Organisationen und Professionelle zu identifizieren und auf vier Spannungsfelder zu beziehen.

Der Block „Lehren und Lernen in der Entwicklung“ betont die durch gesellschaftliche bzw. bildungspolitische Veränderungen produzierten Notwendigkeiten, Unterrichtsentwicklung voranzutreiben und setzt diesbezüglich zwei Schwerpunkte: Erstens die Frage nach einem didaktisch angemessenen und lernförderlichen Unterricht angesichts der nach PISA formulierten Herausforderungen (z. B. Umgang mit Heterogenität). Die Beiträge aus dem Kontext der Unterrichtsforschung befragen dabei Unterrichtsformen und -modelle hinsichtlich ihres Innovationspotenzials. Neben der Auseinandersetzung mit Individualisiertem Lernen (Phoebe Hinnrichs / Doris Wittek) werden Frontalunterricht (Hilbert Meyer / Meinert Meyer und Herbert Gudjons) und fächerübergreifendes Lernen (Michaela Artmann / Petra Herzmann / Kerstin Rabenstein) in den Blick genommen. Zweitens folgt aus der Annahme einer grundlegenden Entwicklungsbedürftigkeit von Unterricht die Frage, wie Wissen über Unterricht zielgerichtet zu erzeugen sei und wie dieses vermittelt werden müsse, um es für die Weiterentwicklung von Unterricht produktiv nutzenbar zu machen. Studierende – die in verzahnten Praxisphasen als Wissenstransporteure zwischen Universität und Schule agieren (Gerhard Eikenbusch/Marie Holmström) – und Schüler_innen werden als relevante Wissensträger für Schul- und Unterrichtsentwicklung in den Fokus gerückt (Sabine Geist / Annemarie von der Groebe / Leonhard Moritz).

Die Beiträge bieten Einblicke in programmatische Debatten und zugleich Reflexionsansätze zu weitgehend stabilen diskursiven Prämissen um die innovative Weiterentwicklung von schulischem Lehren und Lernen. Hier wird als zentraler Topos des Bandes angesprochen, dass Unterrichtsentwicklung insbesondere der (multi-)professionellen Kooperation bedürfe, die als Bedingung eines entwicklungsförderlichen professionellen Selbstverständnisses konzipiert wird.

Einen weiteren Grundgedanken markiert der den Band einleitende Beitrag von Dagmar Killus und Angelika Paseka: Von zentraler Bedeutung bei der „Verflüssigung von Altem und [dem] Aufbau von neuen Strukturen“ (28) sei die aktive Gestaltung dieser Strukturen durch die professionellen Akteur_innen, die Irritationen als Anlass zum „Umlernen und Neulernen“ (29) verstehen. Diese akteurszentrierte Perspektive wird in den Beiträgen zur „Schulentwicklung als Herausforderung für Lehrer_innen“ ausdifferenziert, indem das Verhältnis zwischen Schulentwicklung, Professionalität und Professionalisierung diskutiert wird. Hier wird die These von Bastian / Combe / Reh [1], dass Schulentwicklung als Professionsentwicklung in Kooperation zu denken sei, aktualisiert und anhand von Fragen nach konkreten Entwicklungsaufgaben und -arenen spezifiziert. Eingefordert wird eine „situierte Kreativität“ (133) im Umgang mit spannungsreichen Anforderungen (Arno Combe / Angelika Paseka), die Gestaltung der Entwicklungsaufgabe Kooperation zur Bewältigung kollektiver sowie individueller Anforderungen und die „Auseinandersetzung mit Motiven, Zielen und Werten im Kollegium“ (Manuela Keller-Schneider / Uwe Hericks, 146). Kooperation wird also neben dem Wissen über den Unterricht als zentrales Aktualisierungsmoment dargestellt und mit dem Bedarf individualisierter Entwicklungsräume für Professionelle verknüpft (Peter Daschner / Josef Keuffer). Im Sinne der Doppellogik von Schulentwicklung als professioneller Anspruch einerseits und von außen induzierter Druck andererseits wird auf Professionalisierungschancen, aber auch -risiken verwiesen, die zu verbinden seien mit einer Abkehr von reiner Anforderungspolitik in Richtung der Unterstützung individuell und schulkulturell spezifischer Adaptionsmuster der Professionellen (Miriam Hellrung).

Differenzen zwischen den Erwartungen an und den Effekten von Schulentwicklung werden im Beitragsblock „Schule im Spannungsfeld von innerer und äußerer Schulentwicklung“ thematisiert. Es wird ein Bogen gespannt von den – Modellen neuer Steuerung inhärenten – überzogenen Erwartungen (Herbert Altrichter) über Analysen gesellschaftlicher Dynamiken und deren Einflüssen auf bildungspolitische Entscheidungen (Klaus-Jürgen Tillmann) bis hin zur Debatte um Mindeststandards als Antwort auf Kompetenzorientierung und Instrument neuer Steuerung (Hans Werner Heymann). Dabei wird der zentrale Topos Kooperation weiter verhandelt: Altrichter bietet in seinen Analysen der Genese und Ausrichtung neuer Steuerung eine Begründung für die starke Koppelung von Professionalität, Professionalisierung und Kooperation: Wenn „Verbetrieblichung“ der Schule und die Standardisierung und Überprüfung von Zielen eine „Beschränkung professioneller Freiheiten“ mit sich bringt und zugleich die „Verpflichtung auf gemeinsame professionelle Werte“ (200) zu ersetzen droht, tritt die Zusammenarbeit zwischen den einzelschulischen Akteur_innen als horizontal bindende Handlungskoordination an die vakant werdende Stelle. Das titelgebende Thema wird deutlich, wenn betont wird, dass datenbasierter Begleitung von Entwicklungsprozessen nie ein direkter Umsetzungseffekt zuzuschreiben sei. Vielmehr seien die auf Forschung beruhenden Rückmeldungen über rezeptive und konstruktive Vermittlungsprozesse verschiedener Akteur_innen auf unterschiedlichen Ebenen der Schule und den je zum Tragen kommenden individuellen und kontextuellen Dispositionen anschlussfähig zu machen. Während Hans-Günter Rolff in seinem Beitrag in der Logik evidenzbasierter, neuer Steuerung argumentiert, verweist Altrichter auf die Brüchigkeit der eigenwilligen Adaptionen von Steuerungsmodellen, die dann konsequent auch für „professionelle Lerngemeinschaften“ (207) zu denken sei.

Das Thema Begleitung wird im vierten Block „Schulentwicklung als Forschungsgegenstand“ vertieft. Praxisforschung (Marianne Horstkemper), Schulbegleitforschung (Julia Hellmer) und auch Schulentwicklungswerkstätten (Antje Liening) werden hier Professionalisierungspotenziale für (angehende) schulische Akteur_innen zugeschrieben, unter der Voraussetzung, dass eine Vermittlung zwischen dem datenbasierten Wissen und dem spezifischen Entwicklungswissen der Akteur_innen stattfindet. Die Vermittlung ist wiederum in Spannungsfelder eingelassen: der Handlungsdruck der schulischen Akteur_innen und deren Eingebundenheit in das Feld steht dem Erkenntnisinteresse und der Distanznahme der wissenschaftlichen Begleitung gegenüber. Die Erkenntnis über eine Praxis ist zudem nicht mit der Erkenntnis zur Veränderung von Praxis gleichzusetzen.

Insgesamt initiiert der Band einen ausführlichen Eindruck darüber, was im aktuellen Diskurs unter Umbruch verstanden werden kann. In den meisten Beiträgen wird er als Entwicklung und damit als notwendige Anpassung gedacht. Der Stellenwert von Widerständen gegen die Reformen wird dagegen nur am Rande thematisiert (Tillmann). Auch wenn viele Vokabeln das Themenfeld Umbruch konturieren, sind doch zwei zentrale Verständnisse zu erkennen: einerseits der Umbruch als Entwicklung und dauerhafte Anforderung, der Schulen durch gesellschaftlichen Wandel ausgesetzt sind; andererseits der Umbruch durch die bildungspolitisch initiierte, phasenweise zu bearbeitende Reform. Beide Umbruchszenarien werden als Professionalisierungsprobleme beschrieben, die unterschiedlicher Formen der wissenschaftlichen Begleitung bedürfen: einerseits die Begleitung als fallbezogene Forschung mit unmittelbarerem Mitwirken am Entwicklungsprozess, was als Begleitung erster Ordnung zu fassen wäre und andererseits die Begleitung zweiter Ordnung, die Wissen über fallspezifische Entwicklungspraktiken und -prozesse zur Verfügung stellt, das sowohl im Feld der Schule als auch im Feld der Wissenschaft übersetzungsbedürftig ist. Letztlich ist der Begriff der Begleitung nicht trennscharf vom Begriff der Forschung zu unterscheiden. Der Band leistet zugleich einen weitreichenden Einblick in und zudem eine Systematisierung des Unterrichts- und Schulentwicklungsdiskurses. Darüber hinaus gibt er Anlass dazu, die anscheinend allseits geteilte Prämisse einer engen Koppelung von Schul- bzw. Unterrichtsentwicklung einerseits und Professionsentwicklung durch Kooperation und Reflexion andererseits weiter zu beforschen und dabei vor allem auch den Blick auf Widerstände und strukturelle Grenzen zu richten.

[1] Bastian, J. / Combe, A. / Reh, S.: Professionalisierung und Schulentwicklung. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 3/2002, 417–435.
Isabel Neto Carvalho, Anna SchĂĽtz, Juliana Zill (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Isabel Neto Carvalho, Anna SchĂĽtz, Juliana Zill: Rezension von: Hellmer, Julia / Wittek, Doris (Hg.): Schule im Umbruch begleiten, Studien zur Bildungsgangforschung. Opladen: Barbara Budrich 2013. In: EWR 14 (2015), Nr. 4 (Veröffentlicht am 07.08.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978384740086.html