EWR 14 (2015), Nr. 4 (Juli/August)

Christoph Leser / Torsten Pflugmacher / Marion Pollmanns / Jens Rosch / Johannes Twardella (Hrsg.)
Zueignung
PĂ€dagogik und Widerspruch
Opladen: Barbara Budrich 2014
(427 S.; ISBN 978-3-8474-0150-6; 49,90 EUR)
Zueignung In seiner „Theorie der Halbbildung“ beschreibt Theodor W. Adorno Bildung als „Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung“ [1]. So erklĂ€rt sich der Titel des Sammelbands „Zueignung. PĂ€dagogik und Widerspruch“ als Rekurs auf Adornos Kritik an Bildung in der bĂŒrgerlichen Gesellschaft.

Im Zentrum der BeitrĂ€ge steht nun aber nicht die Theorie der Halbbildung, der Begriff der Zueignung wurde vielmehr entliehen, um den VortrĂ€gen, die anlĂ€sslich eines Symposiums zum 60. Geburtstag Andreas Gruschkas gehalten wurden, sowie weiteren BeitrĂ€gen einen gemeinsamen Bezugspunkt zu geben. Dies ist kein Zufall, dient Gruschka der Begriff der Zueignung als Ausdruck der Kritik dessen, „was Bildung heute noch sein kann“ (11). Anspruch der BeitrĂ€ge ist es, Fragen der Zueignung zu reflektieren und an das Denken Gruschkas anzuschließen, denn den Herausgebern und Herausgeberinnen geht es darum, „der kritischen WĂŒrdigung der PĂ€dagogik von Andreas Gruschka ein Forum zu geben“ (21f). So liegt der Fokus auf AnknĂŒpfungspunkten an und Verbindungen zur Forschung und Theoriebildung Gruschkas, gemeinsam ist ihnen das Anliegen, „PĂ€dagogik und Widerspruch“ zu verbinden. Die 21 BeitrĂ€ge wurden mithilfe des Begriffs der Zueignung in sechs Unterkapitel geteilt – eine Strukturierung, die nicht immer treffend erscheint. Daher findet die Kapiteleinteilung im Folgenden keine BerĂŒcksichtigung und die EinzelbeitrĂ€ge werden zu thematischen Einheiten gruppiert.

Die Absicht der WĂŒrdigung Gruschkas wird nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf persönlicher Ebene verfolgt: Die Festschrift eröffnet ein Gedicht von Stefan Blankertz; die BeitrĂ€ge von Rainer Bremer, Marion Pollmanns und Hedwig Schomacher geben ĂŒber das persönliche VerhĂ€ltnis zum SchĂŒler, Lehrer, Kollegen, Wissenschaftler Gruschka Auskunft. Das hat teilweise eher anekdotischen Charakter, wenn z. B. Schomacher von der wissenschaftlichen Begleitung des Kollegschulversuchs durch Gruschka in den 1970ern zwischen Scheitern und Erfolg berichtet, Bremer die wissenschaftliche Entwicklung Gruschkas aus der Perspektive des Ă€lteren Kollegen beschreibt und Pollmanns sich Gedanken zur besonderen Herausforderung der WĂŒrdigung einer Person durch wissenschaftliche Texte macht – ob diese gelinge, könne sich nur durch die Rezeption Gruschkas herausstellen (347). Wie heterogen die AnnĂ€herung an und Auseinandersetzung mit dem kritischen Denken Gruschkas ausfallen kann, zeigt sich in den eher essayistischen BeitrĂ€gen Michael Tischers, der nach der Moral der Gebildeten in Auseinandersetzung mit der Theorie der Halbbildung Adornos fragt und GĂŒnter RĂŒdells, der sich mit der Verrechtlichung der Schule in Anlehnung an die Formen der Herrschaft Max Webers beschĂ€ftigt.

Durch die intensive Rekonstruktion von Heydorns Gedichtzyklus „Mythos und Untergang“ nĂ€hert sich Jens Rosch dem Begriff der Zueignung, wĂ€hrend Ludwig Pongratz an die von Heydorn begrĂŒndete Kritische Bildungstheorie erinnert und fordert, erneut Widerspruch einzulegen. Die Tendenz der Erziehungswissenschaft, mit dem Zeitgeist zu gehen, zeige sich im Hype der postmodernen Kritikvarianten (53). Diese betrieben eine „Kritik ohne Negation“ (55), wohingegen es der gesellschaftstheoretischen Fundierung der Kritik durch die RĂŒckkehr zur Kritischen Theorie Adornos (56) bedĂŒrfe. Die schwierige VerhĂ€ltnisbestimmung von Theorie und Empirie bearbeitet Jörg Ruhloff in einem begriffsgeschichtlich argumentierenden Beitrag als weitere Leerstelle der Erziehungswissenschaft, die durch die empirisch-pĂ€dagogische Forschung Gruschkas gefĂŒllt worden sei (75). Im Zeichen der Rezeption von Gruschkas Arbeiten und der Kritischen Theorie in Brasilien steht der Beitrag von Rita AmĂ©lia Teixeira Vilela, Antonio Álvaro ZuĂ­n, Bruno Pucci und Luiz A. Calmon Nabuco LastĂłria, die Arbeiten der Forschungsgruppe „Kritische Theorie und Erziehung“ in ihrer engen Verbindung mit dem Denken Gruschkas vorstellen. Sie zeigen, dass sich mithilfe der von Gruschka eingeforderten Selbstkritik der PĂ€dagogik auch die Reformen des brasilianischen Schulsystems kritisieren lassen.

Im Sinne der kritischen Zeitdiagnostik ĂŒbt Karl-Heinz Dammer Kritik an Standardisierung, Christoph TĂŒrcke setzt sich kritisch mit dem Kompetenzbegriff auseinander, Horst Rumpf kritisiert den psychologischen Lernbegriff, Marion Pollmanns die Selbstevaluation, Ilse Schrittesser die unternehmerische UniversitĂ€t und Karin Kersting die Verunmöglichung der kritischen Reflexion im Studium. WĂ€hrend Schrittesser und Kersting fĂŒr eine RĂŒckbesinnung auf Zueignung angesichts der verunmöglichenden Bedingungen an der UniversitĂ€t plĂ€dieren, und Rumpf auf die „Grenzen des Aktivlernens“ verweist, indem er dieses mit dem Ă€sthetischen Zustand Schillers kontrastiert; plĂ€diert TĂŒrcke fĂŒr ein VerstĂ€ndnis von Bildung als „Fundusbildung“ statt „Kompetenzerwerb“ (141), welches auch von Dammer unterstĂŒtzt wird, der in seinem Beitrag den Nutzen und Effekt von Bildungsstandards untersucht. Pollmanns setzt sich mit der „Ideologie der geteilten Verantwortung“ (365) in der Verwendung von Selbstevaluationsbögen fĂŒr SchĂŒler/-innen auseinander und arbeitet heraus, dass die subjektive Beurteilung der eigenen Leistung nicht nur den Nachteil hat, als SelbsteinschĂ€tzung immer falsch liegen zu können. Zudem geht es gar nicht um die Relevanz dieser EinschĂ€tzung – durch die Verwendung von Selbstevaluationsbögen wĂŒrden SchĂŒler/-innen vielmehr dazu gebracht, die folgende Fremdbeurteilung besser zu akzeptieren. So werden sie zum „Produzent ihrer eigenen (schlechten) Leistung“ (359), zu Unternehmerinnen und Unternehmern ihrer selbst.

Mit dem Themenbereich der Lehrer/-innenbildung und ProfessionalitĂ€t setzen sich Peter Euler, Andreas Wernet und Ulrich Herrmann auseinander. Euler erinnert mit Bezug auf Wagenschein an die Differenz von Wissen und Verstehen (311), die auch fĂŒr die Lehrer/-innenbildung relevant sei – gerade das Fachstudium bedĂŒrfe der „historischen ZugĂ€nge zum Verstehen“. Wernet begibt sich in den „Sog der Professionalisierungsfrage“ (78) und legt in Auseinandersetzung mit dem Professionalisierungsmodell Oevermanns die Implikationen eines VerstĂ€ndnisses vom Lehrerberuf als „Pseudo-„ oder „Quasi-Profession“ (92) dar. Herrmann geht es in seinem Artikel ĂŒber den „Missbrauch pĂ€dagogischer Beziehungen durch sexuelle Gewalt“ darum, die „Differenz von Straftatbestand und ambivalenter Grundstruktur pĂ€dagogischen Handelns“ (171) aufzuzeigen. Entgegen anderer prominenter Vertreter des Fachs spricht er sich gegen einen Generalverdacht gegenĂŒber der ReformpĂ€dagogik aus – es könne kein grundsĂ€tzlicher Zusammenhang proklamiert werden, vielmehr unterliegen reformpĂ€dagogische Schulen als „totale Institutionen“ (Goffman) der Gefahr der AbhĂ€ngigkeit durch fehlende Außenkontakte (183). Daher sei nicht nur der Blick auf die TĂ€ter nötig, sondern auch auf „institutionelle strukturelle und systematische Ermöglichungs- und Gelingensbedingungen“ (181). Die fehlende Auseinandersetzung mit Fragen des pĂ€dagogischen Eros stellt Herrmann zufolge einen blinden Fleck in der pĂ€dagogischen ProfessionalitĂ€t (187) dar. Was Herrmann nun mit Verweis auf Gruschka einfordert, ist die „disziplinĂ€re SelbstaufklĂ€rung“ (199), denn alltĂ€gliche Misshandlungen von Kindern und Jugendlichen als charakteristischer Ausdruck des Systems Schule seien noch nicht hinreichend von erziehungswissenschaftlicher Forschung bearbeitet worden (200).

PĂ€dagogischen Lesarten von Bildern widmen sich die BeitrĂ€ge Bernd Hackls, Michael Parmentiers sowie Sieglinde Jornitz' und Christoph Lesers. Wie letztere formulieren, geht es mit Gruschka darum, Bilder so zu lesen, dass daraus pĂ€dagogische Einsichten gewonnen werden können (278). Hackl widmet sich in seinem Beitrag der erneuten Auslegung zweier auch schon von Gruschka behandelten GemĂ€lde Chardins (229). Er liefert damit eine aufschlussreiche Analyse der Bedingungen des Aufwachsens im BĂŒrgertum, indem er die Aufgabe der IdentitĂ€tsbildung als Anspruch an die Aufwachsenden (243) nachvollziehbar macht und herausarbeitet, dass sich schon in den GemĂ€lden eine mĂ€nnliche Vormachtstellung zeige, die „auf geschlechtsspezifischen Mechanismen von Aneignungs- und Ausschließungspraxen“ (245) beruht. Interessant wĂ€re die ergĂ€nzende Analyse von BrĂŒchen dieser mĂ€nnlichen Vormachtstellung, eine Gegengeschichte zur dominanten ErzĂ€hlung der Durchsetzung des MĂ€nnlichen.

Die erneute Rekonstruktion einer schon von Gruschka analysierten Unterrichtsszene steht im Fokus des Beitrags von Sabine Reh, die damit auch das BildungsverstĂ€ndnis Gruschkas untersucht. Mit der Lesart von Bildung als „pĂ€dagogische Ermöglichung subjektiver Autonomie“ (330) und der Konzentration auf die ‚Sachen‘ des Unterrichts blende dieser die „Adressierung als RĂŒckseite des Zeigens“ (339) aus. Die Rekonstruktion pĂ€dagogischen Handelns dĂŒrfe fĂŒr dessen subjektformierende Wirkung nicht blind bleiben.
Im Vergleich der BeitrĂ€ge wird deutlich, dass der Begriff der Zueignung zwar als Verbindungselement fungieren soll, darĂŒber hinausgehend jedoch wenig ausgearbeitet wurde. Dies könnte dem Begriff der Zueignung selbst geschuldet sein – ist die ĂŒbermĂ€ĂŸige Verwendung des Begriffs der Zueignung, wie Reh vermutet, unter „Bildungskitsch“ (328) zu verbuchen? In der Lesart von Halbbildung als „Fehlform“ von Bildung und von Zueignung als gelingender Bildung schwingt die Hoffnung auf ebendieses Gelingen mit. Hier wĂ€re eine kritische Auseinandersetzung nicht im Sinne des kritischen Gestus, sondern im Sinne einer ‚Kritik der Kritik‘ wĂŒnschenswert gewesen.
Lesenswert ist dieser durchaus vielstimmige und kontrastreiche Sammelband fĂŒr diejenigen, die sich fĂŒr wissenschaftliche Fragen im Anschluss an Forschungsthemen Gruschkas wie fĂŒr dessen wissenschaftliche Entwicklung interessieren. Die BeitrĂ€ge eint ein kritischer zeitdiagnostischer Ton, der sich sicherlich auch aus den gemeinsamen Arbeits- und Denkkontexten ergibt. Durch die Vielzahl der Themen werden Leser/-innen mit verschiedensten Interessen fĂŒndig, die Frage nach der TragfĂ€higkeit des Begriffs der Zueignung bleibt allerdings offen.

[1] Adorno, Theodor W.: Theorie der Halbbildung. In: ders.: Gesammelte Schriften, Band 8. Soziologische Schriften I. Frankfurt / Main: Suhrkamp, [1959] 1972, 93–121.
Katarina Froebus (Graz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Katarina Froebus: Rezension von: Leser, Christoph / Pflugmacher, Torsten / Pollmanns, Marion / Rosch, Jens / Twardella, Johannes (Hg.): Zueignung, PĂ€dagogik und Widerspruch. Opladen: Barbara Budrich 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 4 (Veröffentlicht am 07.08.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978384740150.html