EWR 15 (2016), Nr. 1 (Januar/Februar)

Bettina Kleiner
subjekt bildung heteronormativität
Rekonstruktion schulischer Differenzerfahrungen lesbischer, schwuler, bisexueller und Trans*Jugendlicher
Opladen: Barbara Budrich 2015
(382 S.; ISBN 978-3-8474-0677-8; 44,00 EUR)
subjekt bildung heteronormativität Bettina Kleiner wendet sich in ihrer Forschungsarbeit den Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen und Trans*Jugendlichen (LGBT*Q) während ihrer Schulzeit zu. Diese – durch episodische Interviews rekonstruierten – Erfahrungen analysiert sie in Anlehnung an Judith Butlers Ansatz zur Subjektivation und der transformatorischen Bildung nach Hans Christoph Koller. Einen aktuellen bildungspolitischen Bezug stellt sie über die Diskussionen zur Reform des Bildungsplans in Baden-Württemberg her und verweist hier auf die entsprechenden politischen Debatten und Anfeindungen hinsichtlich der schulischen Vermittlung von sexueller Vielfalt. Der Aufbau der Arbeit ist sehr gut nachvollziehbar. Er besticht durch die wiederkehrende Selbstreflexion der Verfasserin im Hinblick auf den Ertrag der einzelnen Kapitel bezüglich der Forschungsfrage. Dies involviert in hervorragender Weise den/die Leser_in zum Nach- und Mitdenken während der Lektüre. Kleiner bringt ihre Absicht wie folgt auf den Punkt: „Der zentrale Gedanke, der dieser Arbeit zugrunde liegt ist also, dass solche Diskurse Einfluss darauf nehmen, wer als fraglos zugehörig oder anders wahrgenommen und positioniert wird, und auch darauf wie sich Menschen selbst verstehen.“ (15) Im Mittelpunkt des empirischen Teils stehen Interviewauszüge und Rekonstruktionen der schulbiographischen Erfahrungen von LGBT*Q-Jugendlichen. Die Interviews werden so selbst zu Orten der Anerkennung und Wertschätzung (vgl. 159).

Das Buch gliedert sich neben Einleitung und Schluss in drei Hauptteile: 1. Theorie, 2. Methodologie und 3. empirische Untersuchung.
Der erste Teil, die Theorie, wird in sieben Kapiteln bearbeitet. Das erste Kapitel dient einer Annäherung an die Lebenslagen der untersuchten Jugendlichen, indem Studien in unterschiedlicher Bezugnahme zu Lebenslagen (z.B. Coming-out-Verläufe, Diskriminierung, Adoleszenz usw.) vorgestellt und postmoderne Theoriebezüge hergestellt werden. Die Autorin selbst zieht hierbei das Resümee: Es „ist deutlich geworden, dass als theoretische Perspektive auf die Untersuchung von Ausgrenzungserfahrungen und Handlungsmöglichkeiten die zuletzt angeführten dekonstruktivistischen Ansätze geeignet sind. Vorteile der darin angelegten Perspektive liegen darin, dass Geschlecht, Genderperformance und Begehren im Zusammenhang mit Normeffekten betrachtet und analysiert werden können, ohne Annahmen von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit zu reifizieren.“ (57)

In Kapitel 2 wird aufbauend auf den Erkenntnissen des ersten Kapitels das Konzept der Subjektivation nach Butler in den Mittelpunkt der Überlegungen gerückt. Es geht der Frage nach, wie in der notwendigen Unterwerfung der Subjekte unter die Normen einer heteronormativen / usw. Gesellschaft auch Möglichkeiten des Widerstandes durch Resignifizierungen entstehen können. Am Ende des Kapitels wird der Ertrag der theoretischen Bearbeitung in Form von „heuristischen Fragen“ (99), die Kleiner selbstkritisch als vereinfachte Thesen bezeichnet (99), und für die Aufschließung von Ausgrenzungserfahrungen und Handlungsmöglichkeiten in den Interviews komprimiert.

In Kapitel 3 werden die Überlegungen zur Subjektivation nach Butler mit dem transformatorischen Bildungsbegriff nach Koller (2012) konfrontiert, um wechselseitige Anregungen auszuloten. Mit Koller argumentiert – so die Autorin – können biografische Krisenerfahrungen als Bildungsanlass begriffen werden. Im Fazit dieses Kapitels scheint Bettina Kleiner die Integration des transformatorischen Bildungsprozesses in das Konzept der Subjektivation nahtlos zu gelingen. In Folge sei in der Fokussierung auf die Empirie insbesondere die Markierung von biografischen Krisen notwendig, um diese im Zuge der Analyse eventuell eingetretenen Transformationen von Welt-, Anderen- und Selbsterfahrungen zuzuordnen.

In zweiten Teil der Arbeit werden in Kapitel 4 die methodologischen und methodischen Fragen bezüglich der episodischen Interviews in einem iterativen Prozess vorgestellt und die theoretischen Erkenntnissen mit den möglichen Erträgen der Interviews rückgekoppelt. Die Autorin sieht sich in der Methodenreflexion in ihrer Auswahl des Interviewverfahrens in mehrfacher Hinsicht bestätigt. So könnten durch episodische Interviews „Ausgrenzungserfahrungen, Selbstverständnisse und Handlungsmöglichkeiten der Jugendlichen im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen“ (167) analysiert werden. Der Vorteil von Interviews gegenüber beispielsweise Beobachtungen liege in der möglichen Relevanzsetzung der Themen durch die Interviewten und Veränderungen in der Retrospektive auf die eigene Biografie, die dadurch besser herausgearbeitet werden könnten.

Im dritten Teil der Arbeit werden in den Kapiteln 5 und 6 die episodischen Interviews vorgestellt, Fallbeschreibungen sowie die Rekonstruktion von Selbstverortungen, Handlungspotenzialen und Bildungsprozessen im Rückgriff auf die Theorien in den vorausgehenden Kapiteln dargelegt. Entsprechend des Auswertungsverfahrens nach Fritz Schütze (2010) wurden hierbei Interviews aufgrund maximaler Kontraste ausgewählt. Gleichwohl wird aber auch auf das deutlich größere Sample in der Erhebung und dessen spezifischer Verzerrung aufgrund der Einladung über Jugendzentren reflektiert.

In Kapitel 7 werden die Ergebnisse der Interviewanalyse in theoretischer Perspektive diskutiert. Insbesondere werden die Bezüge zur Diskursanalyse herausgearbeitet und ein spezielles Augenmerk auf die Entwicklung von Handlungsfähigkeit bei den Jugendlichen entwickelt. In diesen Dienst werden auch die Bildungsaspekte nach Koller gestellt. Nach Bettina Kleiner „[…] komme der Bildungstheorie die Aufgabe zu, neben der Deskription solche Prozesse [der Subjektkonstituierung, O.Z.] zu beschreiben, in welchen Settings sie [Prozesse der Subjektkonstituierung, O.Z.] auch anders geschehen können.“ (121)

Der Schlussteil verdichtet die Erkenntnisse der Arbeit, die sowohl inhaltlich LGBT*Q Jugendliche mit ihren Schulerfahrungen zu Wort kommen lassen, – die Analyse diskursiver Praktiken als erfolgreicher methodologischer Zugang zur Klärung von Resignifizierungen innerhalb heteronormativer Orte verdeutlichen – als auch weitere Forschungsfragen auf der Ebene der Organisation und Schulentwicklung skizzieren. Die Autorin formuliert als eine weitere wichtige Einsicht: „Für die Geschlechterforschung folgt aus den Ergebnissen, dass Geschlechter und sexuelles Begehren im Rahmen widersprüchlicher gesellschaftlicher, diskursiver und sozialer Verhältnisse entstehen und sich in einem Spannungsfeld von Widerfahrnis und Handlungsmöglichkeiten ereignen.“ (353)

Die Arbeit beeindruckt durch das theoretisch sehr hohe Niveau der Ausführungen. Gleichwohl ist diesen anzumerken, dass die Autorin sich stark mit der Subjekttheorie von Judith Butler identifiziert. Im Gegensatz hierzu wirken die Bezüge zum Bildungsbegriff als scheinbar notwendige Addition. Obwohl nicht theoretisch begründbar, kann sie als einer organisatorischen Notwendigkeit einer erziehungswissenschaftlichen Promotion zugeschrieben werden. Anderseits wird deutlich, dass bestimmte Umgangsweisen mit gesellschaftlicher Abwertung auch als Bildungsprozesse gelesen werden können und somit Anschlussmöglichkeiten der Subjektivation nach Butler für bildungstheoretische Perspektiven bestehen. Die theoretische Einordnung ist auf den unterschiedlichen Ebenen der Erfahrungen der Jugendlichen, sowie des schulischen Kontextes (Schule und Unterricht) als Feld der Subjektivation sehr gelungen. Dies ist besonders zu betonen da lesbische, schwule, bisexuell und Trans*Jugendliche in der erziehungswissenschaftlichen Genderforschung noch häufig aus der Perspektive heteronormativer Diskurse beschrieben werden. Der Autorin gelingt es besonders durch einen Perspektivwechsel den Jugendlichen Gehör zu verschaffen. Insgesamt werden durch die Darlegung von Differenzerfahrungen und Bildungsprozessen seit den erinnerten Erfahrungen und dem Zeitpunkt des Interviews handlungsfähige Jugendliche in den Mittelpunkt der Darstellung gerückt.

Die Anlage der Arbeit bewegt sich systematisch auf der Ebene der Erfahrung von Individuen. Der institutionelle Kontext von Schule und Schulentwicklung kann analytisch nicht eingeholt werden, wird aber von der Autorin an unterschiedlichen Stellen reflektiert und im Schluss explizit als Defizit benannt.

Als Zielgruppe für die Lektüre können insbesondere Studierende und Wissenschaftler_innen benannt werden. Notwendig ist ein „sich einlassen“ auf den „sehr wissenschaftlich“ geschriebenen Text, der deutlich als Qualifikationsarbeit zu erkennen ist. Insbesondere bei einer weiteren wichtigen Zielgruppe, den Lehrkräften, die durch die Lektüre gewinnbringend die eigene Positionierung im Schulkontext reflektieren und handelnd verändern könnte, ist zu befürchten, dass diese sich nicht der Mühe des Durcharbeitens des Textes unterziehen werden. Und auch für Jugendliche ist die Arbeit sicherlich (zu) komplex und voraussetzungsvoll geschrieben, so dass gerade hier das Aufklärungspotential der Arbeit sowie die Stärkung des Selbstbewusstseins für lesbische, schwule, bisexuelle und Trans*Jugendliche unerschlossen bleibt.

Trotz dieser Einschränkung ist das Buch von Bettina Kleiner ein wichtiger Beitrag zur Debatte um sexuelle Vielfalt im Rahmen der erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung und der Notwendigkeit schulischer Veränderungsprozesse, um Diskriminierung zu reduzieren und die Entfaltungsmöglichkeiten von Schüler_innen zu erhöhen. Dem Buch ist eine große Leser_innenschaft zu wünschen, um das wichtige Anliegen der Anerkennung sexueller Vielfalt – auch im Schulkontext – voranzutreiben.
Olga Zitzelsberger (Darmstadt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Olga Zitzelsberger: Rezension von: Kleiner, Bettina: subjekt bildung heteronormativität, Rekonstruktion schulischer Differenzerfahrungen lesbischer, schwuler, bisexueller und Trans*Jugendlicher. Opladen: Barbara Budrich 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 1 (Veröffentlicht am 04.02.2016), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978384740677.html