EWR 21 (2022), Nr. 3 (Juli)

Mai-Anh Boger / Bernhard Rauh (Hrsg.)
Psychoanalytische Pädagogik trifft Postkoloniale Studien und Migrationspädagogik
Schriftenreihe der DGfE-Kommission. Psychoanalytische Pädagogik
Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich 2021
(211 S.; ISBN 978-3-8474-2536-6; 29,90 EUR)
Psychoanalytische Pädagogik trifft Postkoloniale Studien und Migrationspädagogik Postkoloniale Theorien und kritische Weißseinsforschung bedienen sich schon lange der Psychoanalyse, um sich reproduzierende rassistische Strukturen zu erklären. Zudem finden sich psychoanalytische Ansätze auch in Pädagogik und Bildungsarbeit. Der vorliegende Sammelband aus der Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft schließt hieran an. Zugleich antwortet er auf die noch immer geringen Auseinandersetzungen der Psychoanalyse mit Rassismus und Migration, indem die Zugänge Psychoanalyse, (Migrations-)Pädagogik und Postkoloniale Studien in einen gewinnbringenden Trialog gebracht werden. Die Autor_innen bedienen sich aus dem psychoanalytischen Werkzeugkasten, um damit für Rassismus konstitutive Strukturen und Dynamiken sowie typische rassistische Verhaltensmuster in pädagogischen Handlungsfeldern und darüber hinaus zu analysieren.

In der Einleitung plädieren die Herausgeber_innen zunächst dafür, rassistische Strukturen auch in der Psychoanalyse herauszuarbeiten. Gemeinsam ist allen Beiträgen ihre Kritik an einer Psychoanalyse, die Differenzen verleugnet, einen Universalitätsanspruch erhebt und dadurch Diskriminierung ausblendet, diese jedoch zugleich reproduziert. Im Anspruch der Psychoanalyse für alle Menschen zu gelten und zugleich jedoch den weißen Mann als Norm zu zentrieren, wird eine für Otheringprozesse konstitutive Struktur ausgemacht, die Edward Said für die Mystifizierung und Abwertung des Orients und die Gayatri Spivak für die Unterscheidung von Zentrum und Marginales, für das Selbst und das Andere, herausstellte.

Erkannt wird hier das gleiche Verhältnis von Besonderem und Allgemeinen. Als Lösung schlagen die Herausgeber_innen das Aushalten und Nebeneinanderstellen von Verschiedenem und Fremden vor. Dies betiteln sie als „friedliche-indifferente Haltung“ (22). In der Tat weist sich der Band durch seine Interdisziplinarität und theoretische Komplexität aus. Denn die Beiträge lassen sich in der Sozialforschung, Erziehungswissenschaft oder Psychologie verorten, sie bedienen sich der Ethnologie, Filmanalyse, Tiefenhermeneutik sowie Theorieströmungen wie der Kritischen Theorie oder poststrukturalistischer und postkolonialer Argumentationsmuster.

Der Sammelband teilt sich in drei Hauptkapitel und bündelt so die Beiträge danach, ob darin theoretische, methodische oder praktisch-orientierte bzw. fallanalytische Überlegungen überwiegen. Diese Dreiteilung wird von den Herausgeber_innen weiter spezifiziert und so ein thematischer Fokus hinzufügt: (1) ‚Systematische Überlegungen – Grundlagen einer postkolonial-psychoanalytischen Betrachtung‘, (2) ‚Methodische Überlegungen – Differenz erforschen und psychoanalytisch reflektieren‘ und (3) ‚Fallanalysen – Vignetten zu Männlichkeit und Weiblichkeit in einer von (rassistischen) Herrschaftsverhältnissen gezeichneten Gesellschaft‘. Vor jedem Beitrag findet sich eine prägnante Zusammenfassung in deutscher und englischer Sprache. Dies macht den Sammelband attraktiv für die schnelle thematische Suche.

Der erste und mit sechs Beiträgen umfangreichste Teil (‚Systematische Überlegungen‘) versammelt Beiträge, die sich auf der theoretischen Ebene mit unterschiedlichen Zugängen und mit Fragen von Anderssein und Rassismus, mit diesbezüglichen unbewussten Mechanismen in Schulen, der Pädagogik und gesellschaftlicher Strukturen auseinandersetzen. Hierbei weisen die Beiträge Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf. Gemein ist ihnen der Impetus des Entschlüsselns und Zusammendenkens verschiedener Stränge des benannten Trialogs wie z.B. pädagogisch-psychoanalytische Überlegungen zum Umgang mit Anderssein zeigen, die zum Schluss kommen, die Stimme als Brücke der Begegnung mit dem Anderssein nutzen zu können (Ilaria Pirone). In vielen Beiträgen steht insbesondere die Begegnung mit dem Anderen im Fokus. Sehr unterschiedlich ist die Arbeitsweise der Autor_innen, denn die Beiträge zeichnen sich durch ihre assoziative, collage- oder thesenartige Vorgehensweise (Karl-Josef Pazzini, Mai-Anh Boger/ Karl-Josef Pazzini), ihre explorative Suchbewegung (Michael May, Andreas Tilch), auch durch ihre komplexe, aber stringente Argumentationslinie (Jean-Marie Weber, Tilch) aus. Ihre Empirie schöpfen sie aus Fallbeispielen (Pazzini/ Boger), eigenen Forschungen (Weber, Tilch), Erfahrungen (Pirone) oder eben theoretischer Auseinandersetzungen (May, Pazzini). Dabei reicht das Spektrum von Überlegungen und Denkimpulsen (May), hin zu Analysen und Aufschlüsselungen (Pazzini/ Boger) bis zu Versuchen des Entwurfs konkreter Hilfestellungen, um Lehrkräfte oder Pädagog_innen in ihren Begegnungen und Auseinandersetzungen zu stärken (Tilch, Weber). Es werden Fragen gestellt, wie nach dem Zusammenhang von Übertragung oder Abwehr von Herrschaftsverhältnissen ‚im Kampf um Zugehörigkeit(-sordnungen)‘ (Tilch, 97), nach Prozessen der Selbstkategorisierung (May), des Missverstehens (Weber) oder der Umarmung des Fremden in der ‚Aufnahme von Kindern im Exil‘ in der Schule (Pirone, 68).

Der zweite und mit drei Beiträgen kleinste Teil (‚Methodische Überlegungen‘) fragt nach der Angemessenheit von Tiefenhermeneutik und Inklusionsforschung, um internalisierten Rassismus und Differenz freizulegen. Wie werden unbewusste Bilder, Phantasien und internalisierte gesellschaftliche Machtverhältnisse durch und in Forschung reproduziert (Jonas Becker, 113f.)? Worauf ist zu achten, wenn Differenz erforscht wird (Yandé Theon-McGeehan, Gabriel Zellmer)? Um diesen Fragen nachzugehen, legen die Beiträge den Fokus auf die eingeschriebenen Strukturen in der Methodologie der Forschenden selbst und erarbeiten Grenzen und Potenziale der verschiedenen Herangehensweisen. Becker arbeitet anschaulich heraus wie Stereotypisierungen tiefe soziale und psychische Strukturen durchdringen und ‚Grenzen eines Forschungszugangs‘ (113) darstellen können. Theon-McGeehan analysiert die Rolle der Differenzherstellung und ‚Potentiale des widerständigen Umgangs‘ (137) in der Tiefenhermeneutik kritisch und Zellmer formuliert die Kritik an Essentialisierungen des Individuums als Grundlage für die Inklusionsforschung.

Im letzten Teil finden sich vier Beiträge, die mit einer psychoanalytischen Brille verschiedene Gegenstände (islamischer Schleier bei Dominik Drexel), Strukturen (phallische Ordnung bei Karla Schmerfeld und Jochen Schmerfeld, Familienkonzepte bei Dagmar Ambass) und Szenen (im Klassenzimmer bei Bernhard Rauh) hinsichtlich unbewusster Dynamiken befragen. Hier geht es um mögliche Funktionen von Gefühlen und sozialer Ordnung, Entwicklung und Struktur von Geschlecht sowie notwendige Reflexionen in der Pädagogik. Zwar finden sich Fallanalysen auch in vielen Beiträgen der anderen Abschnitte, doch hier greift der Titel (‚Fallanalysen – Vignetten zu Männlichkeit und Weiblichkeit‘) noch umfassender. Die Beiträge grenzen sich durch ihren Einbezug von Geschlecht in die Analyse deutlich von den vorhergehenden Analysen der ersten beiden Teile ab. Zudem enden drei der vier Beiträge in diesem Abschnitt mit Fragen an und Aufgaben für die Pädagogik und runden damit den Band durch ihren expliziten Praxisbezug ab.

Insgesamt leistet der Sammelband eine Kritik der Kritik, wenn beispielsweise queere Identitätskritik (May) oder die Reproduktion von internalisiertem Rassismus in der Inklusionsforschung (Zellmer) hinterfragt werden. Die Beiträge halten den Finger auf Leerstellen in der Pädagogik, die durch psychoanalytische Betrachtungen neue Impulse bekommen können. Zentral ist in allen Beiträgen die Analyse von psychodynamischen und unbewussten Prozessen. Der Sammelband setzt die kritische Haltung gegenüber der Konstruktion von Binaritäten folglich selbst um, indem die bereits genannten verschiedenen Ansätze und Disziplinen zu Wort kommen mit der Zielsetzung, des Analysierens und Aufdeckens postkolonialer Kontinuitäten. Das Buch bleibt aber nicht bei diesen hoch komplexen, psychoanalytischen Analysen stehen, sondern gibt auch Anstöße und pädagogische Hilfestellungen, um diskriminierende Strukturen zu durchbrechen. Zwar ist dies nicht explizites Ziel des Sammelbandes, denn die Herausgeber_innen stellen in der Einleitung heraus, dass es ihnen vor allem darum geht, einen dritten Raum im Anschluss an Homi Bhabha zu eröffnen, der Gegensatzpaare dekonstruiert (23). Dies kann als gelungen bewertet werden. Viele Beiträge lassen über die Aufdeckung rassistischer Komplexe hinaus sogar auch Möglichkeiten konkreter Veränderungen in Theorie, Methodologie und Praxis aufleuchten.
Esto Mader (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Esto Mader: Rezension von: Boger, Mai-Anh / Rauh, Bernhard (Hg.): Psychoanalytische Pädagogik trifft Postkoloniale Studien und Migrationspädagogik, Schriftenreihe der DGfE-Kommission. Psychoanalytische Pädagogik. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 3 (Veröffentlicht am 26.07.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978384742536.html