EWR 16 (2017), Nr. 5 (September/Oktober)

Jens Kastner / Ruth Sonderegger
Pierre Bourdieu und Jacques Rancière
Emanzipatorische Praxis denken
Wien/Berlin: Turia + Kant 2014
(216 Seiten; ISBN 978-3-85132-754-0; 24,00 EUR)
Pierre Bourdieu und Jacques Rancière Was haben die theoretischen Perspektiven Pierre Bourdieus und Jacques Rancières miteinander gemein? Auf den ersten Blick scheinen sie sich diametral gegenüber zu stehen: Während Bourdieu über Konzepte wie Feld oder Habitus vornehmlich die Hervorbringung „kultureller Differenzen“ (8) – also die Produktion sozialer Ungleichheiten – in den Praktiken der Subjekte fokussiert, wird Rancière – vor allem seit der breiteren Rezeption seines Werks Der unwissende Lehrmeister [1] – als jemand gelesen, der nicht die Ungleichheit der Subjekte betont, sondern von deren radikaler Gleichheit ausgeht. Zugleich aber binden beide ihre theoretischen Perspektiven nicht zuletzt an ein Verständnis des Ästhetischen, das nach den „Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsschemata“ (ibid.) der Subjekte fragt.

Dieses Spannungsfeld von „Gleichheit und Differenz“ (9) bildet jene Problematik, an der sich die Beiträge des von Jens Kastner und Ruth Sonderegger vorgelegten Bandes abarbeiten. Dabei machen die Herausgebenden bereits in ihrer Einleitung zwei Achsen aus, um die sich die Fragen nach einer Relationierung der Perspektiven gruppieren: einerseits um Fragen der „Erziehung und Bildung“ und andererseits um eine „emanzipatorische[.] Politik“ (8f.). In diesem Versuch, Bourdieu mit Rancière sowie Rancière mit Bourdieu zu denken, ergeben sich Irritationen eben jener für die erziehungswissenschaftliche Theoriebildung so konstitutiven Termini wie Gleichheit, Differenz und Emanzipation: Während Bourdieu die Reproduktion von Verhältnissen sozialer Ungleichheit über das Konzept des Habitus als „strukturierende Struktur“ [2] denkt, irritieren Rancières Analysen über eine radikale Form der Problematisierung pädagogisch unterstellter Differenzbildungen – etwa des Unterschieds von Wissenden und Unwissenden.

Verhalten sich die Subjekte für Bourdieu auf der Basis ungleicher, da habituell artikulierter, individueller Voraussetzungen zu den Forderungen der Bildungsinstitutionen, so erzeugen für Rancière die Praktiken dieser Institutionen erst performativ jene Differenzen, die sie (nachträglich) als immer schon vorgängig beklagen. Heißt Emanzipation in diesem Kontext bei Bourdieu eine „Illusion“ der Gleichheit „zu demaskieren“ (52), so kann für Rancière Emanzipation im Sinne einer „Gleichheitsverifizierung“ (74), also eines performativen Unterstellens einer Gleichheit der Subjekte, aufgerufen werden.

Im deutschsprachigen Raum situiert sich der Band – quer zu einer geläufigen Gegenüberstellung Bourdieus und Rancières – in einer praxistheoretischen Debatte um die Begriffe der Kritik, Emanzipation und Partizipation [3]. Er eröffnet so ein theoretisches Problemfeld, in dem sich dann im pädagogischen Diskursraum bspw. Rieger-Ladich/Grabaus „Pierre Bourdieu: Pädagogische Lektüren“ [4] verortet.

Nach der systematisierenden Einleitung der Herausgebenden eröffnet der Band die Kontroversen mit dem aus dem Französischen übersetzten Artikel Charlotte Nordmanns. An der Kritik Rancières ansetzend, dass ein „Bruch mit der Herrschaft“ (31) sozialer Ordnung für Bourdieu unmöglich erscheint, da sich über das Konzept des Habitus das Soziale im Individuum inkorporiert, fragt Nordmann in einer sehr dichten Argumentation, die eine Linie zu Judith Butler, Jacques Derrida, Rancière und Abdelmalek Sayad zieht, nach den Möglichkeiten emanzipatorischen Denkens. Sie stellt diesbezüglich die Frage, inwiefern ein Erschüttern der sozialen Ordnung durch die Subjekte konstitutiv an deren Subjektpositionen gebunden ist: so bspw. an die Autorisierung ihres Sprechens durch ihr Ausweisen als „Philosoph_in, Soziolog_in, Politolog_in, Dozent_in“ (45). Damit manifestieren sich zwar einerseits jene sozialen Raster, die Rancière über sein Konzept der „Aufteilung des Sinnlichen“ [5] problematisiert; andererseits ruft Nordmann jene Subjektpositionen unter Rückgriff auf den sowohl von Rancière als auch von Bourdieu verwendeten Begriff der „Häresie“ als eine „Position des Zwischen“, als ein „Innen-Außen“ (43) auf, in dem immer auch die Möglichkeit der Subversion der Ordnung liegt.

Der ebenfalls aus dem Französischen übersetzte und bereits 2011 in der Revue Actuel Marx veröffentlichte Artikel Franck Fischbachs „Die unglücklichen Abenteuer der Kritik“ (51) fragt unter Referenz auf Rancière, ob „Sozialkritik“ sich nicht gegenwärtig dem Vorwurf stellen muss, dass sie „sich paradoxerweise“ in dem Moment, in welchem sie vorliegende Zustände zu kritisieren versucht, „in einen herrschenden Diskurs verwandelt“ (ibid.). Fischbach versucht hierbei vor allem die Position Rancières mit der Perspektive der kritischen Theorie Horkheimers zu irritieren: Rancières Insistieren auf die notwendige Möglichkeit der Emanzipation impliziere das Vorliegen einer Hierarchie zwischen Herrschenden und Unterworfenen, in der diesen Unterworfenen, so Fischbach, gleichermaßen „jede kritische Kompetenz“ (56) abgesprochen wird. Damit aber werde Rancières Kritik selbst zu einem Element hegemonialer Diskurse. Gerade aber dieses Aberkennen jeglicher kritischen Reflexion auf den Unterwerfungszusammenhang des Sozialen durch das Subjekt kann vor dem Hintergrund der Arbeiten Rancières bezweifelt werden, veruneindeutigt sich doch gerade in dem, was er „Emanzipation“ nennt, die „Grenze zwischen denen, die handeln, und denen, die zusehen“ (vgl. z.B. [6]).

Der ebenfalls besonders empfehlenswerte Beitrag Ines Kleesattels – „Ästhetische Distanz“ (63) –fragt danach, inwieweit die kantische „ästhetische Erfahrung“ entweder soziale „Hierarchien sichert (Bourdieu) und/oder Freiheit verspricht (Rancière)“ (63). Während Bourdieu für Kleesattel die Rezeption von Kunst in den „sozialen Bedingungen“ der Subjektwerdung „gründet“ und so eine „hierarchisch behauptete Differenz“ zwischen habituell unterschiedlich konstituierten Geschmacksurteilen einziehen kann (69), betont Rancière mit der „Eigenständigkeit des Kunstwerks“ dessen „alternativen Erfahrungshorizont“ für das Subjekt und damit die Möglichkeit einer politischen Subversion gewohnter Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata (77). Im Anschluss an Adorno wird es Kleesattel darüber hinaus möglich, den Widerspruch zwischen dem bourdieuschen Insistieren der sozialen Hervorbringung einer Rezeptionsweise von Kunst und einem rancièreschen Betonen der Singularität des Kunstwerks als „Vermittlung“ zu fassen, da sich in jedem Kunstwerk „die bestehende Wirklichkeit nieder[schlägt]“, ohne dass dabei aber dessen Singularität durchkreuzt würde (82f.).

Maria Muhle fokussiert ihren Beitrag auf die Frage, in welcher Weise Bourdieu und Rancière Perspektiven des Realismus für ihre Thematisierung von Phänomen der Fotografie nutzen. Sie stellt dabei Bourdieus Auffassung der Fotografie als „Kunst des Auswählens“ (102), in der sich auf besondere Weise ein Blick auf die habituell bedingte ästhetische Selektion des Subjekts eröffnet, Rancières Unterstreichen der Gleichgültigkeit gegenüber, die die Entwicklung des Fotoapparates in ihrer historischen Situierung ermöglicht: Mit diesem „direkten Blick der Kamera“ auf die Realität wird es möglich, dass auf einem aufgenommenen Bild alles, was im Bild erscheint, als Gegenstand eines ästhetischen Blicks artikuliert werden kann (114).

Robin Celikates wirft seinen Blick darauf, inwiefern „auf Emanzipation ausgerichtete kritische Gesellschaftstheorien“, wie sie im Falle Bourdieus und Rancières vorliegen, „anti-emanzipatorische“ Effekte haben können (123). Bourdieu, so Celikates, erhebe „den sozialen Raum […] [zu einer] nicht signifikant zu verändernde[n] […] Struktur“ (131). Rancière wiederum verschiebe, indem er die Gleichheit aller Intelligenzen betont, das, was Politik heißen kann, von der Artikulation als „Prozess“ hin zum Aufrufen dergleichen als „Ereignis“ (141), wodurch sich die Möglichkeit der politischen Intervention des Subjekts auf wenige partikulare Momente verkürze.

Der Beitrag Barbara Rothmüllers versucht „das Reflexionspotential“ (149) der Perspektiven Bourdieus und Rancières bezogen auf die „Bildungschancen von Kindern mit Migrationshintergrund“ zu vermessen (147). Sie analysiert hierfür einen Comic-Dialog, in dem Yasmin, ein Mädchen mit Migrationshintergrund, von anderen Jugendlichen hinsichtlich ihres Berufswunsches Zahnärztin zu werden, irritiert wird. Rothmüller kommt dabei zu dem Schluss, dass Bourdieu und Rancière unterschiedliche Sichtweisen auf jenen Comic eröffnen, womit sowohl Reflexionen bezüglich der „Präkonstruktionen“ der verhandelten Themen, als auch ein reflexiver „Umgang mit den Prämissen denkbar wird, mit denen die Herausgeber dieses Comics arbeiten (180).

Der letzte Artikel des Bandes hat die Form einer Diskussion zwischen Pascal Jurt und Ulf Wuggenig. Beide arbeiten sich am Versuch einer theoretischen Verortung der Relation zwischen Bourdieu und Rancière sowohl im französischsprachigen als auch im anglo-amerikanischen Raum ab. Sie verhandeln hierbei vor allem die unterschiedliche theoretische Aufnahme beider Positionen in die jeweiligen scientific communities.

Insgesamt besticht der vorliegende Band durch seine theoretische Elaboriertheit. Er hätte allerdings durch eine noch stärker auf das Politische ausgerichtete Perspektive zusätzlich gewinnen können. So bleibt etwa im Kontext der Frage der Emanzipation offen, ob diese nur als immanenter Prozess einer sozialen Ordnung zu denken ist oder ob es einer Relationierung auf Bezugspunkte bedarf, die der Ordnung des Sozialen äußerlich sind.

[1] Rancière, J.: Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über intellektuelle Emanzipation. Wien: Passagen 2007.
[2] Bourdieu, P.: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, S. 165.
[3] Jaeggi, R. / Wesche, T. (Hrsg.): Was ist Kritik? Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009.
[4] Rieger-Ladich, M. / Grabau, C.: Pierre Bourdieu: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden: Springer 2017, S. 335 – 362.
[5] Rancière, J.: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin: b_books 2006, S. 21.
[6] Rancière, J.: Der emanzipierte Zuschauer. Wien: Passagen 2008, S. 30.
Steffen Wittig (Kassel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Steffen Wittig: Rezension von: Kastner, Jens / Sonderegger, Ruth: Pierre Bourdieu und Jacques Rancière, Emanzipatorische Praxis denken. Wien/Berlin: Turia + Kant 2014. In: EWR 16 (2017), Nr. 5 (Veröffentlicht am 26.09.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978385132754.html