EWR 7 (2008), Nr. 3 (Mai/Juni)

Sarah Banach
Der Ricklinger FĂŒrsorgeprozess 1930
Evangelische Heimerziehung auf dem PrĂŒfstand
(Frauen- und Genderforschung in der Erziehungswissenschaft;Bd.5)
Opladen u. Farmington Hills: Barbara Budrich 2007
(280 S.; ISBN 978-3-86649-109-0; 29,90 EUR)
Der Ricklinger FĂŒrsorgeprozess 1930 Sarah Banach rekonstruiert in ihrer Dissertation ausfĂŒhrlich den Ricklinger FĂŒrsorgeprozess von 1930. Mehrere ehemalige Zöglinge der FĂŒrsorgeerziehungsanstalt des „Landesvereins fĂŒr Innere Mission in Schleswig-Holstein“ erhoben damals Anklage, wĂ€hrend ihres Aufenthalts in Ricklingen von ihren Erziehern misshandelt worden zu sein – und erhielten Recht. Die Autorin kann sich auf zahlreiche zeitgenössische Quellen stĂŒtzen, die im Rahmen dieser Arbeit teilweise erstmalig ausgewertet wurden. Das vielschichtige historische Material – von FĂŒrsorgeakten ĂŒber Prozessberichte bis hin zu einem Briefwechsel zwischen einem der Zöglinge und dem ehemaligen Anstaltsleiter – ermöglicht es ihr, die Strategien und Deutungsmuster der Protagonisten ebenso herauszuarbeiten, wie die Situation der Inneren Mission und der von ihr verantworteten FĂŒrsorgeerziehung zur Zeit der Weimarer Republik zu beleuchten.

Nach einleitenden Bemerkungen zum Forschungsstand und zum eigenen Vorgehen beschĂ€ftigt sich Banach in ihrem ersten Hauptteil „Die FĂŒrsorgeerziehung der ‚Inneren Mission’“ zunĂ€chst mit Johann Hinrich Wicherns (1808-1881) VerstĂ€ndnis von Mission als Verbindung von VerkĂŒndigungsarbeit mit dem diakonischen Auftrag christlicher LiebestĂ€tigkeit. Der evangelische Theologe gilt wegen des Aufbaus des „Rauhen Hauses“ in Hamburg – einer Rettungsanstalt fĂŒr verwahrloste und schwer erziehbare Kinder und Jugendliche – und der Initiierung des „Centralausschusses fĂŒr die Innere Mission“ heute gemeinhin als ein VorlĂ€ufer moderner FĂŒrsorgeerziehung sowie als GrĂŒndungsfigur der Diakonie. Weiter beschreibt Banach, wie sich FĂŒrsorgeerziehung als Arbeitsfeld der Inneren Mission etablierte – sowohl in der als auch gegen die Tradition Wicherns. In Folge der rechtlichen Festschreibung von Zwangs- bzw. FĂŒrsorgeerziehung im Preußen der Kaiserzeit fĂŒhrten die Einrichtungen der Inneren Mission zunehmend diesen ‚Sonderfall‘ öffentlicher Erziehung durch. Wie dieser Auftrag praktisch erfĂŒllt wurde, beleuchtet die Verfasserin exemplarisch an der Organisation der Ricklinger FĂŒrsorgeerziehungsanstalt sowie an der Strukturierung des Alltags in dieser Anstalt, der fĂŒr die Zöglinge grĂ¶ĂŸtenteils durch ‚eiserne’ Disziplin und harte körperliche Arbeit bestimmt war. Anschließend bringt sie die rigide PĂ€dagogik der Ricklinger Anstalt mit dem TheologieverstĂ€ndnis ihres langjĂ€hrigen Direktors Johannes Voigt in Verbindung. Entlang der zeitgenössischen Unterscheidung von ‚liberaler’ vs. ‚positiver’ Theologie kommt Banach zur EinschĂ€tzung, dass die theologischen Grundlagen Voigts auch nach damaligen MaßstĂ€ben als Ă€ußerst konservativ einzuordnen sind: Der Erzieher sollte darauf hinwirken, dass sich der Zögling fĂŒr den christlichen Lebensweg entscheidet, andere „LebensentwĂŒrfe, individuelle Interessen, BedĂŒrfnisse, FĂ€higkeiten bzw. andere Weltanschauungen fanden in diesem FĂŒrsorgeerziehungsmodell keinen Platz“ (119).

In ihrem zweiten Hauptteil zeigt Banach auf, dass die repressive PĂ€dagogik des Landesvereins fĂŒr Innere Mission und der Ricklinger FĂŒrsorgeerziehungsanstalt zur Zeit der Weimarer Republik in theoretischer wie in praktischer Hinsicht Konkurrenz erhielten: Vor einem moderneren weltanschaulichen Hintergrund formulierte pĂ€dagogische Konzepte, wie beispielsweise die liberalen Positionen der neu gegrĂŒndeten Gilde Soziale Arbeit, ließen die Ricklinger FĂŒrsorgeerziehung und ihr auf klaren Hierarchien gegrĂŒndetes sowie auf Missionierung zielendes ErziehungsverstĂ€ndnis bereits vor dem Rechtsstreit unter Rechtfertigungsdruck geraten. Gleiches resultierte aus der GrĂŒndung zweier eigener Landesaufnahmeheime durch die Provinz, die in ihren Konzeptionen ‚reformpĂ€dagogischen’ Gedanken nahe standen und bevorzugt mit FĂŒrsorgezöglingen belegt wurden. Der Landesverein fĂŒr Innere Mission reagierte, derart in die Defensive geraten, mit einer dezidiert konfrontativen Haltung gegenĂŒber der laizistischeren politischen Ordnung der Weimarer Republik und betonte den christlich-missionarischen Charakter der eigenen Arbeit.

Ende 1929 – und hier setzt Banachs dritter und letzter Hauptteil ein, der sich dem „Ricklinger FĂŒrsorgeprozess“ im engeren Sinne widmet – wurde gegen drei Erzieher der Anstalt die Anklage erhoben, mehrere ihrer Zöglinge körperlich misshandelt zu haben. Obwohl die Aussagen der klagenden jungen MĂ€nner in einigen Details widerlegt wurden, schenkte das Gericht ihrer Version der Geschichte mehr Glauben als den Aussagen der Erzieher, die die ihnen zur Last gelegten Taten bestritten. Die Beschuldigten wurden in erster Instanz des Prozesses zu Haftstrafen zwischen zwei Wochen und zwei Monaten verurteilt. An den Verfahren gegen die Angestellten der Inneren Mission waren zwei pĂ€dagogische Fachleute maßgeblich beteiligt, die ‚reformerischen‘ Gedanken nahestanden: Wilhelm Osbahr, Leiter der ‚Vorzeigeanstalt’ „Schloss Heiligenstedten“, war in der ersten Instanz als Gutachter tĂ€tig, und Erich Weniger wurde in der Berufungsverhandlung mit der Ausarbeitung eines Vergleichs beauftragt, der von den beiden Parteien angenommen wurde.

Progressive Kreise, wie die um Curt Bondy, fĂŒhlten sich durch den Prozess in ihrer Position bestĂ€tigt, fĂŒr einen selbstkritischen Umgang der FĂŒrsorgeerziehung mit eigenen MissstĂ€nden einzutreten. Die Vertreter der Inneren Mission hingegen fĂŒhlten sich als Opfer einer Politisierung der ErziehungsfĂŒrsorge. Eine Anpassung der erzieherischen GrundsĂ€tze an die sich im Zuge von Demokratisierung und Pluralisierung verĂ€ndernden pĂ€dagogischen Orientierungen hĂ€tte vor dem Hintergrund ihres Deutungsmusters einen Verrat der eigenen christlich-konservativen IdentitĂ€t bedeutet. TatsĂ€chlich war das Urteil des Prozesses, so die Interpretation Banachs, nicht mit den theologisch-weltanschaulichen PrĂ€missen der Inneren Mission vereinbar: Dass den Aussagen der unglĂ€ubigen Zöglinge mehr Vertrauen geschenkt wurde als den ReprĂ€sentanten der christlichen Institution, lief dem hegemonialen SelbstverstĂ€ndnis der strengglĂ€ubigen Protestanten zuwider. Die Autorin kommt zu dem Schluss, „dass trotz des Urteils und der Einigung der beiden Parteien im Vergleich weiterhin zwei Auffassungen ĂŒber die FĂŒrsorgeerziehung in Ricklingen bestehen“ (212).

Banach beschließt die Arbeit mit einem kurzen „ResĂŒmee“, wobei sie ausfĂŒhrlich einen zeitgenössischen Standpunkt Erich Wenigers zur Vermittlung von konfessioneller und staatlicher FĂŒrsorgeerziehung zitiert, der neben der Benennung einiger gemeinsam geteilter Überzeugungen jedoch in erster Linie durch eine gewisse Skepsis dahingehend geprĂ€gt zu sein scheint, wie das religiöse Ziel der Rettung praktisch mit der pĂ€dagogischen Idee der Freiheit zu vermitteln sei. Ferner plĂ€diert sie fĂŒr eine differenzierte, historisch exakte Beurteilung des Konflikts zwischen Fachlichkeit und KonfessionalitĂ€t in der FĂŒrsorgeerziehung, die sie als die beiden widerstreitenden Positionen definiert. Das letzte Wort jedoch bleibt normativ: „In Anlehnung an die Ziele der ‚modernen‘ PĂ€dagogik zur Zeit der Weimarer Republik“ (223) formuliert sie einen kleinen Forderungskatalog an die heutige Fachöffentlichkeit. Diese wird u.a. dazu aufgefordert, sich fĂŒr ein Kinderrecht auf gewaltfreie Erziehung, gegen geschlossene Unterbringung und fĂŒr den Vorrang von Fachlichkeit gegenĂŒber Wirtschaftlichkeit in den Erziehungshilfen einzusetzen.

Vom „ResĂŒmee“ einmal abgesehen, zeichnet sich Banachs Rekonstruktion in erster Linie durch eine quellennahe Rekonstruktion der zeitgenössischen UmstĂ€nde und des historischen Geschehens aus. Stilistisch schlĂ€gt sich dies in teils ausfĂŒhrlichen wörtlichen wie indirekten Zitaten aus dem großen Materialfundus nieder, die von der Autorin relativ sparsam kommentiert werden. So Ă€ußert sich auch im „ResĂŒmee“ erstmals ein Widerspruch expliziter, der sich bis dahin eher unterschwellig durch die historische Rekonstruktion zieht: Die differenzierte, mehrperspektivische und sich schnellen Wertungen verschließende Aufarbeitung der ĂŒberlieferten Zeugnisse wird bisweilen von einer weitgehend impliziten Deutungsfolie durchkreuzt, gemĂ€ĂŸ der einer – stets in einfachen AnfĂŒhrungsstrichen mitgefĂŒhrten – ‚modernen’, reformorientierten und staatlichen PĂ€dagogik der Weimarer Republik das Pendant einer repressiven, autoritĂ€ren und konfessionellen Anstaltserziehung der Kaiserzeit entgegengesetzt wird. Zweifelsfrei verleitet dieses besonders schwarze StĂŒck konfessioneller FĂŒrsorgeerziehung geradezu zu einer solchen Polarisierung, vor deren Hintergrund pĂ€dagogische Geschichte als Erfolgsgeschichte erscheinen muss. „SozialpĂ€dagogische ProfessionalitĂ€t“ wird somit zum Idealtypus, der sich zu Recht historisch gegenĂŒber einer diakonisch motivierten Arbeit durchgesetzt hat und auch gegenwĂ€rtig wieder gegen ökonomische Interessen und disziplinierende AnsĂ€tze zu bewahren ist. Auch wenn sich dieses Deutungsschema in der sozialpĂ€dagogischen Diskussion aktuell einiger Zustimmung erfreut, ist es als nicht nĂ€her explizierte und begrĂŒndete Hintergrundannahme, besonders in der hier vertretenen SchĂ€rfe, problematisch. Hieraus ergibt sich auch die Konsequenz, dass die Autorin, wie der Untertitel verrĂ€t, mit der einen FĂŒrsorgeerziehungsanstalt der Inneren Mission Schleswig-Holstein gleich die gesamte „Evangelische Heimerziehung auf dem PrĂŒfstand“ sieht.

Von dieser Kritik unangetastet bleibt jedoch der Wert der historischen Rekonstruktion. Denn gerade wenn man von der bisweilen polarisierenden und teleologischen Form der Geschichtsschreibung absieht, bleibt die Arbeit nicht weniger als ein fundiert recherchiertes SchaustĂŒck fĂŒr eine repressive, sich religiös definierende Erziehungspraxis, die angesichts gesellschaftlicher, politischer und fachlicher Modernisierungsprozesse zunehmend unter Druck gerĂ€t. Die Arbeit gibt Aufschluss ĂŒber die Beharrungstendenzen der Verantwortlichen des zustĂ€ndigen „Landesvereins fĂŒr Innere Mission“ gegenĂŒber den Forderungen nach einer „PĂ€dagogisierung“ (192) der sich konfessionell definierenden Arbeit des Vereins sowie den Immunisierungsstrategien gegenĂŒber der konkreten Kritik, die schlichtweg als „religionsfeindlich“ nivelliert wird. Bemerkenswert ist weiterhin, wie Sarah Banach den theologisch-weltanschaulichen Horizont im Umfeld der Inneren Mission mit den konkreten Aus- und Überformungen der FĂŒrsorgeinstitutionen in Verbindung bringt. Inhaltlich richtet sich ihre Arbeit damit an einen akademischen, an der Geschichte der SozialpĂ€dagogik und der diakonischen Jugendhilfe interessierten Leserkreis.
Florian Eßer (Hildesheim)
Zur Zitierweise der Rezension:
Florian Eßer: Rezension von: Banach, Sarah: Der Ricklinger FĂŒrsorgeprozess 1930, Evangelische Heimerziehung auf der PrĂŒfstand (Frauen- und Genderforschung in der Erziehungswissenschaft; Bd. 5). Opladen u. Farmington Hills: Budrich 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 3 (Veröffentlicht am 03.06.2008), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978386649109.html