EWR 8 (2009), Nr. 3 (Mai/Juni)

Hans-Christoph Koller (Hrsg.)
Sinnkonstruktion und Bildungsgang
Zur Bedeutung individueller Sinnzuschreibungen im Kontext schulischer Lehr-Lern-Prozesse
Opladen & Farmington Hills: Budrich 2008
(204 S.; ISBN 978-3-86649-216-5; 22,00 EUR)
Sinnkonstruktion und Bildungsgang Der vorliegende Sammelband widmet sich der Frage, welchen biographischen Sinn Lernende der Institution Schule selbst bzw. dem jeweiligen Fachunterricht zuschreiben. Damit kann das Buch heute in erziehungswissenschaftlicher wie auch in bildungspolitischer Hinsicht zweifelsohne in einem aktuell viel diskutierten Themenbereich verortet werden, wurde doch mit den internationalen Schulleistungsvergleichen auch die Frage nach der Qualität von Unterricht virulent. Das Buch bringt diesen Themenbereich unter einer sehr spezifischen Perspektivierung zur Sprache: jener nach Sinn(-konstruktion) und Bildungsgang. Es versteht sich als ein weiterer Beitrag zur Bildungsgangforschung [1], in deren Aufmerksamkeitszentrum die Frage steht, in welcher Weise und unter welchen Bedingungen Schülerinnen und Schüler den Inhalten und Formen schulischen Unterrichts biographisch bedeutsamen Sinn zuschreiben (vgl. 7). Die neun Beiträge des Buches stammen großteils von Mitgliedern des Graduiertenkollegs Bildungsgangforschung und sind aus Vorträgen einer Ringvorlesung hervorgegangen, die unter dem Titel ‚Sinnkonstruktion und Bildungsgang’ im Wintersemester 2007/08 an der Universität Hamburg durchgeführt wurde.

In der Einleitung eröffnet Hans-Christoph Koller den (Problem-)Horizont des Buches, indem er drei Aspekte benennt, die Bildungsgangforschung als Erforschung von schulischen Entwicklungs-, Lern- und Bildungsprozessen zentral im Blick hat. Der erste Aspekt fokussiert die Perspektive der Schülerinnen und Schüler, der zweite die biographische Dimension des Lernens im Sinne einer Einbettung konkreter Lernvorgänge in längerfristige lebensgeschichtliche Zusammenhänge und der dritte das Spannungsverhältnis zwischen objektiven Anforderungen und subjektiven Auseinandersetzungen mit diesen Anforderungen (vgl. 7). Damit verschreibt sich der Band der Untersuchung der individuellen Sinnkonstruktionen und Aushandlungsprozesse über Sinn im schulischen Kontext und fragt, wie Sinnkonstruktionen auch didaktisch angemessen zu berücksichtigen seien.

Hans-Christoph Kollers erster Hauptbeitrag ‚Lernen als Sinnkonstruktion’ fragt nach der Bedeutung eines hermeneutischen Sinnbegriffs für die Erforschung schulischer Lern- und Bildungsprozesse. Er erörtert mögliche Bedeutungen und Dimensionen des Sinnbegriffs und schlägt mit Bezug auf Paul Ricœurs Text „Der Text als Modell“ [2] vor, Ricœurs Konzeption der Hermeneutik für den Begriff der Sinnkonstruktion im Kontext schulischer Unterrichts weiterzudenken. So zeigt sich beispielsweise, dass der Sinn von Unterricht weit über die Absicht der Akteure hinausreiche, dass Unterricht als Text offen für vielfältige Deutungen sei und dass Sinnkonstruktionen in gewisser Hinsicht als brüchige in den Blick kämen (vgl. 22).

Auch Maike Vollstedt und Katrin Vorhölter unternehmen in ihrem Beitrag ‚Zum Konzept der Sinnkonstruktion am Beispiel von Mathematiklernen’ den Versuch, ein Verständnis von Sinnkonstruktion zu erarbeiten, indem sie Sinn als persönliche Relevanz eines Gegenstands oder einer Handlung für das betreffende Individuum fassen. Sie zeigen aus SchülerInnen-Interviews stammende Beispiele für individuelle Sinnkonstruktionen, wobei die Bandbreite der Sinnzuschreibungen von der Einschätzung, dass der Sinn von Mathematik(-unterricht) darin liege, den Schulabschluss zu schaffen bis hin zur Auffassung reicht, dass Mathematik helfen könne, die Welt zu erklären.

Am Beispiel des Physikunterrichts nehmen Andreas Gedaschko und Mari-Anukka Lechte auf der Grundlage aktueller Forschungsarbeiten und empirischen Datenmaterials die Fragestellung auf, welche Sinnzuschreibungen jeweils am Werk sind, wenn Schülerinnen und Schüler persönliche Zugänge zu einem Unterrichtsfach entwickeln. Sie analysieren dabei auch die Wirkung des offenen Experimentierens für die Entwicklung eines individuellen Gegenstandsbezugs im Fach Physik und stellen offenes Experimentieren als ein „konkretes Angebot dar, an dem Sinn gegenstandbezogen erfahren werden kann“ (62).

Sabrina Monetha und Ulrich Gebhard thematisieren in ihrem Beitrag ‚Alltagsphantasien, Sinn und Motivation’ Sinnkonstruktionen unter Bezug auf das Konzept der Alltagsphantasien im Verständnis von teils intuitiven, teils reflexiven Vorstellungen, die Unterrichtsgegenständen von Lernenden entgegengebracht werden. Sie untersuchen am Beispiel einer Biologie-Unterrichtseinheit zur Gentechnik, welche Bedeutung solchen Alltagsphantasien in schulischen Lernprozessen zukommt und berichten über Ergebnisse einer empirischen Untersuchung mit der These, dass die explizite Berücksichtigung solcher Alltagsphantasien im Unterricht die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler nach Autonomie, sozialer Eingebundenheit und Kompetenzerleben befriedige.

‚Sinnkonstruktion und Sprachbewusstheit stehen im Zentrum des Beitrags von Frank-Ulrich Nädler und Meinert A. Meyer, in dem sie der Bedeutung von Sinnkonstruktionen im Fremdsprachenunterricht nachgehen. Ausgehend vom Konzept der Sprachbewusstheit, das sie mit Humboldts sprachphilosophischer Auffassung des bildenden Werts des Fremdsprachenlernens begründen (vgl. 88f.), entwickeln sie die These, dass die Förderung von Sprachbewusstheit im Fremdsprachenunterricht (im Sinne des Verhandelns und Reflektierens über Sprache auf einer diskursiven Metaebene) ein Angebot zur Sinnkonstruktion darstelle, das die Möglichkeit offen hält, den Lerngegenstand in Bezug zur eigenen Person zu setzen.

Kerstin Rabenstein und Sabine Reh stellen mit dem Beitrag ‚Über die Emergenz von Sinn in pädagogischen Praktiken’ ein Forschungsprojekt zu Lernkultur- und Unterrichtsentwicklung in Ganztagsschulen vor und eröffnen eine Perspektive auf Sinnkonstruktionen, die von Akteuren schulischen Unterrichts nicht bewusst vollzogen werden, sondern die sich in konkreten Praktiken zeigen. Ihr Interesse gilt demgemäß den sichtbaren sozialen Prozessen in der Schule. Unterricht kommt als ein Ensemble von pädagogischen Praktiken in den Blick, als ethnographisch zu beobachtende, sprachliche und körperliche Aufführung des Lernens (vgl. 137). Methodisch stützen sich die Autorinnen auf eine Videographie pädagogischer Praktiken, die sich am Verfahren der Kameraethnographie und der Objektiven Hermeneutik orientiert.

‚Eine Studie zur Sinnkonstitution im Bewegungs-, Spiel- und Sportunterricht’ legt Britta Kolbert vor und untersucht darin in fachdidaktischer Hinsicht Prozesse der Sinnkonstitution. Ausgehend von der Erfahrung, dass ein und dasselbe Unterrichtsangebot von SchülerInnen sehr unterschiedlich gedeutet wird (vgl. 157), und im Rekurs auf die Ansätze von Jürgen Seewald und Ernst Cassirer differenziert sie zwischen expliziten und impliziten Sinnstrukturen. Kolbert demonstriert an einer Szene aus dem Sportunterricht der 7. Klasse den Deutungsraum dieses Zugangs, der auf eine Reflexion der institutionellen Bedeutungszuschreibungen und der biographischen Spuren abzielt, damit „ Lehrer den Unterrichtsprozess in einem anderen Licht zu sehen vermögen“ (179).

Wenn die bisherigen Beiträge des Buchs Sinnkonstruktion v.a. mit Blick auf die Lernenden fokussieren, so widmet sich der abschließende Beitrag ‚Lernen durch Erfahrung’ von Miriam Hellrung der Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern im Schulentwicklungsprozess. Gegenstand des Textes ist die Vorstellung eines laufenden Forschungsprojekts zu Professionalisierungsprozessen von Lehrerinnen und Lehrern, die in der Sekundarstufe I individualisierte Unterrichtssettings erproben. Ihr Fokus liegt auf den Erfahrungen, die in diesem Schulentwicklungsprozess gemacht werden. An einem Fallbeispiel zeigt Hellrung, dass an Schulentwicklungsprozessen beteiligte LehrerInnen ihr Handeln in dem Maße als sinnvoll erfahren, wie es ihnen gelingt, beispielsweise eine ‚forschend-experimentelle Haltung zur Praxis zu finden oder auch alltagstaugliche Lösungen zu finden: Sinn realisiere sich hierbei in gemeinsamen konstruktiven Akten, denen lebensgeschichtliche, berufsbiographische Bedeutung zugemessen werde (vgl. 200).

Bereits die hier vorgelegte kurze Darstellung der Beiträge zeigt das breite methodische und inhaltliche Spektrum, das durch den vorliegenden Band eröffnet wird. Die Vielfalt der Perspektiven auf das gemeinsame Thema ‚Sinnkonstruktion und Bildungsgang’ kann sicherlich als eine der großen Stärken des Buches gesehen werden. Denn es wird nicht ein Sinnbegriff gesetzt, der dann in unterschiedlichen Bereichen Anwendung findet, sondern es zeigen sich jeweils unterschiedliche methodische, inhaltliche oder fachspezifische Ausrichtungen auf Sinn. Doch gerade diese Stärke kann auf der anderen Seite auch als Schwäche gesehen werden: Denn so bleiben die Texte zwar mancherorts über ein ähnliches Frageinteresse verbunden, keineswegs aber rekurrieren die Beiträge z.B. auf ein gemeinsames Verständnis von Sinn(-konstruktion). So muss man bei der Lektüre z.B. auf fachunterrichtliche Aufnahmen der Koller’schen Lesart von Hermeneutik verzichten. Das ist zwar schade, weil im Rekurs auf Ricœur eine spannende Forschungsperspektive zur Sprache kommt, die in den weiteren Beiträgen nicht mehr aufgenommen wird – anderseits dokumentiert diese Ausrichtung eine gleichwertige Bedeutung aller einzelnen Beiträge.

Das Buch kann mit guten Gründen PädagogInnen zur Lektüre empfohlen werden, weil es viele aktuelle und unterschiedliche Forschungsprojekte, Forschungsfragen, Fallbeispiele und Analysemethoden in den Blick und zur Diskussion zu bringen vermag – weniger wird es wohl als systematisierende Einführungsliteratur geeignet sein, weil die doch auch verwirrende Vielfalt der Untersuchungsmethoden, Prämissen und Begriffssetzungen Orientierungen erschweren könnte. So differieren z.B. auch in den Einzelbeiträgen die Einschätzungen des Umgangs mit dieser Pluralität: Manche sprechen sich für eine Pluralität von Sinnzusammenhängen aus, andere sehen ein Defizit darin, dass es derzeit kein einheitliches Sinnverständnis gibt (vgl. Vollstest/Worhölter, 28). Wenn und weil die Einzelbeiträge ausblickend jeweils weiteren spezifischen Forschungsbedarf explizieren, sollten auch die folgenden Fragen nicht aus dem Blick geraten: ob beispielsweise von einem nicht-bedeutsamen Sinn die Rede sein kann;, wie Lernen und Bildungsgang zusammen oder auseinander zu denken sind oder auch welche Bedeutung die Vorstellung von „Konstruktion“ für den Sinnbegriff zukommt. Denn auch wenn der Band keine grundlagentheoretische Sichtung von Sinn, Sinnkonstruktion, bedeutsamen Sinn, Lernen oder Bildungsgang intendiert, so wirft er doch eben diese Fragen auf.

[1] Der erste Einsatz der Bildungsgangforschung kann mit Combe/Gebhard festgemacht werden: vgl. Combe, Arno/Gebhard, Ulrich: Sinn und Erfahrung. Zum Verständnis fachlicher Lernprozesse in der Schule. Opladen/Farmington Hills 2007

[2] Ricœur, Paul: Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen. In: Bühl, Walter l.: (Hrsg.): Verstehende Soziologie. Grundzüge und Entwicklungstendenzen. München 1972, 252-283
Elisabeth Sattler (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Elisabeth Sattler: Rezension von: Koller, Hans-Christoph (Hg.): Sinnkonstruktion und Bildungsgang, Zur Bedeutung individueller Sinnzuschreibungen im Kontext schulischer Lehr-Lern-Prozesse. Opladen & Farmington Hills: Budrich 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 3 (Veröffentlicht am 05.06.2009), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978386649216.html