EWR 10 (2011), Nr. 5 (September/Oktober)

Nicole Hollenbach / Klaus-Jürgen Tillmann (Hrsg.)
Teacher Research and School Development
German Approaches and International Perspectives
Opladen: Barbara Budrich 2011
(256 S.; ISBN 978-3-8664-9352-0; 29,90 EUR)
Teacher Research and School Development Mit dem aus einer internationalen Fachtagung an der Laborschule Bielefeld hervorgegangenen Band leisten die Autoren und Autorinnen eine Bestandsaufnahme der Handlungs- oder Praxisforschung in Schule und Unterricht und dokumentieren zugleich einen neuen Aufbruch dieses Forschungsansatzes. Sie legen damit die englischsprachige Ausgabe der zwei Jahre zuvor erschienenen Originalpublikation vor, um ein über den deutschsprachigen Raum hinausgehendes Publikum anzusprechen. Die englische Übersetzung der Publikation erscheint notwendig und folgerichtig in ihrem Anliegen, eine stärkere internationale Rezeption der Arbeiten dieses Forschungsansatzes anzustreben, und dazu lohnenswert, da der Sammelband nationale und internationale Perspektiven vergleichend aufgreift.

In vierzehn Beiträgen von Autoren aus vier europäischen Ländern beleuchtet der Sammelband den aktuellen Diskurs und die Entwicklung der Handlungsforschung der letzten Jahrzehnte im Kontext der jeweiligen Forschungs- und Bildungspolitik. Die Handlungs-, Aktions- oder auch Lehrerforschung hat sich seit den 1970er Jahren als ein alternativer empirischer Forschungsansatz zu der dominierenden quantitativ orientierten Forschungspraxis vorrangig für pädagogische Forschungsfelder herausgebildet.

Zunächst verfolgen die Herausgeber die übergeordneten Fragen, inwieweit sich die Handlungsforschung in den betrachteten europäischen Ländern und in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion etablieren konnte und welcher Fortschritt des Diskurses um methodische Fragen des Forschungsparadigmas in den letzten Jahren zu verzeichnen ist. Damit greifen sie jene Aspekte auf, die die meiste Kritik an dem Forschungsansatz ausgelöst haben und lassen eine interessante Lektüre erwarten.

Die weitere Zielstellung des Bandes richtet sich darauf, verschiedene Ansätze der Handlungsforschung im deutschen Raum vorzustellen und deren Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu identifizieren. Besondere Aufmerksamkeit erhält dabei der Ansatz der Lehrerforschung der Laborschule und des Oberstufenkollegs Bielefeld, der im letzten Teil des Bandes von den Gründungsjahren bis in die Gegenwart reflektiert wird.

In ihrer Einleitung zeichnen Nicole Hollenbach und Klaus-Jürgen Tillmann die Ursprünge, Motive und Merkmale der Handlungsforschung im europäischen und angloamerikanischen Kontext nach, die sich in Abgrenzung zur empirisch-quantitativen Forschung entwickelte. In einem zeitlichen Abriss werden die Kontroversen von den 1970erJahren bis in die 1990er Jahre hinein resümiert, die einerseits innerhalb der Gruppe der Handlungsforscher/innen stattfanden, andererseits aber vor allem mit Kritiker/innen von außerhalb geführt wurden.

Offensiv setzen sich Hollenbach und Tillmann mit Vorwürfen auseinander, mit denen die Handlungsforschung konfrontiert wurde, besonders ihrer vermeintlich mangelnden Wissenschaftlichkeit aufgrund fehlender theoretischer Grundlegung und methodischer Unzulänglichkeit. Gleichwohl konstatieren sie seit den 90er Jahren eine qualitative Entwicklung der Handlungsforschung hin zu einer im lokalen Kontext stark engagierten, methodisch besser basierten– und nun neu bezeichneten – Praxisforschung, die in der etablierten Erziehungswissenschaft zunehmend auf Akzeptanz stößt.

In den folgenden vier Beiträgen wird eine international-vergleichende Perspektive eingenommen. Dieser Teil des Bandes informiert über die Handlungsforschung in anderen Ländern und demonstriert zugleich die Breite der Resonanz, die der Ansatz erfährt. Herbert Altrichter zeigt in seiner Gegenüberstellung der Handlungsforschung der deutschsprachigen mit der der angloamerikanischen Länder, dass der Rückgang der Forschungstätigkeit in Deutschland und Österreich Anfang der 1990er Jahre keine Entsprechung in den angloamerikanischen Ländern hatte, wo sich die Handlungsforschung im selben Zeitraum zunehmend verbreitete.

Durch seine ausführliche Darstellung der Qualitätsmerkmale, die im Rahmen der dortigen und eingeschränkt auch der hiesigen Forschungsaktivitäten entwickelt wurden, und der Ausweitung des Forschungsansatzes auf andere Gebiete kann Altrichter nachvollziehbar aufzeigen, welches Potenzial das Forschungsparadigma birgt. Ebenfalls überzeugt seine Argumentation, dass Handlungs- bzw. Praxisforschung einen effektiven Ansatz bei der Implementierung der aus den Large-Scale-Studien resultierenden Schlussfolgerungen für die Schul- und Unterrichtsentwicklung darstellen kann.

Im Anschluss an die Analyse der Ursachen dafür, dass Handlungsforschung für diesen Anwendungskontext dennoch so wenig präsent ist, plädiert Altrichter für eine stärkere Etablierung der Handlungsforschung in den üblichen Formen wissenschaftlicher Kommunikations- und Publikationspraxis, wie Kongressen, Zeitschriften sowie der Nutzung von Forschungsförderung.

Dass der Handlungsforschung in anderen Ländern diese Einbindung in wissenschaftliche Zusammenhänge besser gelingt, zeigen die Beiträge aus Österreich und Großbritannien von Elgrid Messner und Peter Posch bzw. Collin McLaughlin. Als ausschlaggebend dafür stellen die Autoren u. a. die öffentliche Förderung von Projekten, in deren Rahmen Handlungsforschung namentlich für die Lehrerprofessionalisierung und Unterrichtsentwicklung stattfindet, dar, die auf ein Interesse der dortigen Bildungspolitik an schulbasierter Forschung als Gegenpol zur bestehenden zentralen Steuerung zurückgeht.

Einen überraschenden Aspekt wirft der Beitrag über Handlungsforschung in Flandern und den Niederlanden von André Mottart und An De Bisschop auf. Die dortige breite Akzeptanz und Anwendung von Handlungsforschung weit über den pädagogischen Kontext hinaus gehe laut der Autoren mit einer stark eingeschränkten Wahrnehmung durch die etablierte akademische Forschung einher, denn Handlungsforschung werde nicht als eigentliche Forschung rezipiert und oftmals in eine Reihe mit anderen Professionalisierungsmaßnahmen gestellt. In der Tat führe die Popularität des Ansatzes in der Praxis gewissermaßen zu einer Verwässerung der Forschungsziele und -methoden.

Im zweiten Teil der Publikation, der die deutsche Situation in den Blick nimmt, steckt Klaus-Jürgen Tillmann zunächst das Terrain der Praxisforschung neu ab, indem er Thesen zu Zielen, zu Anwendungsfeldern und dem Verhältnis zu anderen Forschungsansätzen entwirft und inhaltlich-methodische Qualitätsstandards von Praxisforschung formuliert. Dieser theoretisch-konzeptionelle Entwurf ermöglicht es, die nachfolgend vorgestellten aktuellen Praxisforschungsmodelle einzuordnen und zu den formulierten Zielen und Ansprüchen ins Verhältnis zu setzen.

Wie Altrichter sieht Tillmann in der schulischen und unterrichtlichen Implementierung der Reformvorgaben, die auf die großen Schulleistungsstudien folgten, ein zentrales Forschungsfeld für die Praxisforschung, die sich durch das Zusammenfallen von Forschungs- und Lehrtätigkeit hierfür in besonderer Weise eigne. Entschieden wendet er sich gegen den Disput zwischen Praxisforschung und empirisch-analytischer Forschung. Vielmehr plädiert er für eine Sichtweise, die von Kooperation und gegenseitiger Ergänzung der Forschungsarbeit geprägt sei. Dies erscheint vor dem Hintergrund plausibel, dass beide Forschungsrichtungen unterschiedliche Zielstellungen verfolgen: Praxisforschung verfolgt einen kontextsensitiven, auf bestmögliche Passung vor Ort gerichteten Ansatz, wogegen die traditionelle akademische Forschung auf Theoriebildung und die Generalisierung über den Einzelfall hinaus ausgelegt ist.

Als eine notwendige Voraussetzung für eine solche Ergänzung der beiden Forschungsparadigmen fordert Tillmann die gegenseitige Wahrnehmung und Würdigung im akademischen Diskurs ein, wo, wie er selbst konstatiert, für die Praxisforschung ein Aufholbedarf bestehe. Nicht hinreichend beantwortet erscheint jedoch die Frage, wie die Forschungsergebnisse der Praxisforschung einerseits und der traditionellen empirischen Forschung andererseits angesichts ihrer unterschiedlichen Zielstellungen in einen gemeinsamen Ergebnisdiskurs münden können.

Drei Praxisforschungsprojekte unterschiedlicher Dimension und Schwerpunktsetzung werden in den folgenden Kapiteln detailliert vorgestellt. Einendes Prinzip der Projekte und zugleich das, was sie als Praxisforschung qualifiziert, ist, dass ihr Ausgangspunkt in einer Frage- oder Problemstellung liegt, die unmittelbar aus der Praxis hervorgeht.

Wolfgang Fichten und Hilbert Meyer referieren das Oldenburger Modell, das langjährig erprobt ist und auf das Praktizieren von forschendem Lernen als Impuls für Kompetenzentwicklung und Professionalisierung von Lehramtsstudierenden und Lehrkräften zielt. Neben der Qualifizierungsfunktion in Forschungs- und professioneller Reflexionskompetenz legen sie den Fokus darauf, Erkenntnisse aus dem lokalen schulischen Praxiskontext zu gewinnen und diese an die dortigen Akteure zurückzuspiegeln.

Andreas Feindt beschreibt in seinem Beitrag ein Projekt zur Unterrichtsentwicklung durch Lehrerteams als Beispiel für die Implementierung von kompetenzorientierten Standards im Fach Evangelische Religion. Er muss bilanzieren, dass aufgrund der hohen Anforderungen und nicht hinreichenden zeitlichen Ressourcen die systematische Erforschung der erfolgreich entwickelten Unterrichtsreihen im Projekt nicht realisiert werden kann.

Mit dem Innovationsverbund Schule und Hochschule Brandenburg, einem Kooperationsprojekt der Universität Potsdam und dem Landesministerium, stellen dessen Leiter/innen Marianne Horstkemper und Wolfgang Lauterbach ein größer dimensioniertes Projekt vor. Der Innovationsverbund zielt auf die forschungsbasierte Innovation der Schulpraxis, in die Wissenschaftler/innen, Lehrkräfte und Studierende einbezogen werden.

Horstkemper und Lauterbach greifen in dem Projekt die zentralen Prinzipien der Praxisforschung auf. So gehen Projektvorschläge ausschließlich von Lehrkräften aus und werden von ihnen umgesetzt. Sie nehmen jedoch in ihrer Konzeption vielfältige innovative Aspekte auf, die als Weiterentwicklung der bisher nicht hinlänglich abgesicherten Aspekte der Praxisforschung gelten können: 1) Die Fragestellungen werden im Dialog mit den Lehrerkräften auf ihre Relevanz für die aktuelle erziehungswissenschaftliche Diskussion geprüft. 2) Bei der Entwicklung und Erprobung der Maßnahmen werden die Lehrkräfte von wissenschaftlich geschulten Personen begleitet. 3) Bildung wird als ein Prozess aufgefasst, bei dem mehrere Ebenen miteinander in Wechselwirkung stehen und gemeinsam betrachtet werden müssen. 4) Ein wissenschaftlicher Beirat ist beratend tätig und begutachtet Konzept und Forschungsergebnisse. Mit diesem elaborierten Modell markieren Horstkemper und Lauterbach einen wesentlichen Schritt in der Fortentwicklung des Forschungsansatzes.

Der dritte Teil der Publikation gibt einen umfassenden Einblick in die Diskussion um Ziele und Modelle der Praxisforschung in Bielefeld, in dem überwiegend aus Sicht der Beteiligten der Wandel der dortigen Praxis- bzw. Lehrerforschung seit Gründung der Laborschule, des Oberstufenkollegs und ihrer wissenschaftlichen Einrichtungen beleuchtet wird (Nicole Hollenbach / Klaus-Jürgen Tillmann für die Laborschule, Josef Keuffer / Gabriele Klewin für das Oberstufenkolleg).

Annemarie von der Groeben und Nicole Hollenbach treten in ihren Beiträgen der Bilanz Hartmut von Hentigs entgegen, dass das Lehrerforschungskonzept, ein Gründungspfeiler von Laborschule und Oberstufenkolleg, letztlich durch inhaltliche und organisatorische Modifikationen gescheitert sei, denn sie sehen nach wie vor das Lehrerhandeln als Ausgangspunkt und Basis der Forschung. Gestützt wird ihre Position durch Analysen und eine Interviewstudie, die trotz der Einschnitte in den Ressourcen, vor allem denen des Kollegs, die positiven Chancen der neuen konzeptionellen Merkmale herausstellen. Diese sind die Kooperation von Lehrenden mit Forschenden in Teams mit der einhergehenden institutionellen Trennung von Schule und wissenschaftlicher Einrichtung, die langfristige Festschreibung und die Ausweitung der Forschungsthemen, und das Poolmodell für Ausgleichsstunden für Lehrkräfte.

Indem der Sammelband einen historischen Rückblick, theoretische und methodische Standards und Praxismodelle zusammenführt, leistet er zu der aufgeworfenen Frage nach dem Fortschritt des Diskurses um die Praxisforschung einen wesentlichen Beitrag. Hervorzuheben sind Tillmanns Empfehlungen zur Wahl der Fragestellung, der Forschungsmethode und der Übertragbarkeit der Ergebnisse, die sowohl die zuvor festgestellte Weiterentwicklung der Praxisforschung abbilden als auch einen Referenz- und Anforderungsrahmen für Projekte in der Tradition der Praxisforschung schaffen. Ebenso sind die Verfasser/innen ihrem Anspruch gerecht geworden, die Rezeption der Praxisforschung in ausgewählten europäischen Ländern und Varianten der deutschen Praxisforschung mit ihren Unterschieden und Gemeinsamkeiten vorzustellen. Zugleich belegen sie damit die Potenziale der Praxisforschung zumindest für eine schulspezifische Entwicklung von Unterricht und pädagogischer Praxis.

Aus nahezu allen Beiträgen sprechen jedoch auch die u. a. von Wiltrud Döpp im letzten Beitrag explizit als „Dilemmata“ der Praxisforschung aufgegriffenen Schwierigkeiten, die sich aus den postulierten Zielstellungen ergeben, einerseits höhere methodische Standards zu etablieren und sich in den wissenschaftlichen Diskurs zu integrieren und zugleich die spezifischen Chancen der Praxisforschung zu wahren. Spannungsfelder zeigen sich in dieser Hinsicht z.B. zwischen dem partizipatorischen Moment des Ansatzes und der daraus resultierenden Beanspruchung der Akteure aus der Praxis, oder zwischen der notwendigen praktischen Relevanz der Themenstellung für die Betroffenen und deren Anschlussfähigkeit an den aktuellen wissenschaftlichen Diskurs. Einige Projekte oder etablierte Praktiken haben Entwürfe vorgestellt, wie die praktische Vereinbarkeit von Prinzipien der Praxisforschung mit den Ansprüchen der traditionellen akademischen Forschung und Wissenschaftspraxis geleistet werden kann. Dennoch bleibt mitunter die Frage offen, inwieweit die ursprünglichen Ansprüche der Praxisforschung damit gewahrt bleiben.

Obgleich der Anspruch auf Englisch zu publizieren grundsätzlich sehr positiv zu werten ist, ist dessen Umsetzung leider nur eingeschränkt gelungen. Der Band hätte in der englischen Übersetzung ein aufmerksameres Lektorat verdient, das die sprachlichen Strukturen denen englischer Publikationen besser hätte angleichen sollen.

Respekt fordert die Transparenz und offene Auseinandersetzung mit Chancen und Problemen des Forschungsansatzes, die sich durch alle Teile des Bandes zieht. Als Resümee erscheint, Praxisforschung als Prozess zu sehen und eben darin begründet sich der Aufbruchcharakter des Bandes.
Christiane Buchholtz (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christiane Buchholtz: Rezension von: Hollenbach, Nicole / Tillmann, Klaus-Jürgen (Hg.): Teacher Research and School Development, German Approaches and International Perspectives. Opladen: Barbara Budrich 2011. In: EWR 10 (2011), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978386649352.html