EWR 10 (2011), Nr. 4 (Juli/August)

Rolf Göppel / Annedore Hirblinger / Heiner Hirblinger / Achim Würker (Hrsg.)
Schule als Bildungsort und „emotionaler Raum“
Der Beitrag der Psychoanalytischen Pädagogik zu Unterrichtsgestaltung und Schulkultur
Opladen: Barbara Budrich 2010
(248 S.; ISBN 978-3-86649-354-4; 28,00 EUR)
Schule als Bildungsort und „emotionaler Raum“ Der zu besprechende Band beinhaltet 19 Beiträge, die in drei Hauptthemenblöcken dargeboten werden. Es handelt sich ausnahmslos um verschriftlichte Vorträge und „Workshop-Impulse“ (12) der Herbsttagung der Kommission „Psychoanalytische Pädagogik“ in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), die im November 2009 in Heidelberg stattfand. Der Titel der Herausgeberschrift entspricht einerseits demjenigen der Tagung und führt andererseits in die thematischen Schwerpunkte ein: Schule – Bildung – Raum – Unterricht – Schulkultur. Die Themenblöcke beziehen sich systematisch auf folgende Aspekte: Der erste Teil befasst sich mit den „emotionalen Erfahrungen der Betroffenen in und mit Schule“ (13) und nimmt die Perspektive der Subjekte in den Fokus. Der zweite Teil rekurriert auf „unterschiedliche psychoanalytisch-pädagogische Betrachtungsperspektiven“ (ebd.), worunter solche Beiträge subsumiert werden, die das schulische Geschehen aus der Perspektive differenter psychoanalytischer Konzepte in den Blick nehmen. Der anschließende dritte und letzte Teil des Bandes befasst sich mit „Aspekte[n] der Lehrerprofessionalität und der Lehrerbildung“ (ebd.) und fokussiert neben „der Analyse des Umgangs mit Macht- und Ohnmachtsstrukturen im schulischen Kontext“ (ebd.) auch „die Beschreibung eines psychoanalytisch orientierten Lehrerleitbildes“ (ebd.).

Ausgehend von zwei Voraussetzungen werden die einzelnen Inhalte entsprechend der oben dargestellten thematischen Einheiten entfaltet: Schule wird 1. als Bildungsort und 2. als emotionaler Raum in den Blick genommen. In der Einleitung stellen Rolf Göppel und Heiner Hirblinger die eingenommene Perspektive vor und betonen, „dass es nicht um den realen, umbauten Raum, nicht um Fragen der Schularchitektur und Farbgestaltung“ (9), sondern um Schule als „Interaktions- und Erfahrungsraum“ (ebd.) geht. Schule und vor allem Unterrichtssituationen werden zudem insofern aus dem Blickwinkel der Psychoanalytischen Pädagogik heraus beleuchtet, als es sich um „psychische Realitäten ganz eigener Art“ (11) handelt. Die allgemeine Frage nach der Bedeutung der Psychoanalyse für die Pädagogik beantworten Göppel und Hirblinger erstaunlicherweise in nahezu missmutig-pessimistischer Weise, sehen die Psychoanalytische Pädagogik letztlich jedoch dennoch als „kritischen Stachel“ und „zugkräftigen Motor“ (11) für die Bildungsforschung an.

Der erste, sich mit Erfahrungen der Subjekte befassende Teil des Bandes wird durch den Beitrag Rolf Göppels eingeleitet und stellt die Frage nach dem Erleben von Schule durch Kinder und Jugendliche. Potentiellen Missverständnissen in Bezug auf die grundsätzlich subjektive Erlebbarkeit des „emotionalen Raumes“ begegnet Göppel dabei gleich zu Beginn des Beitrages, greift dann jedoch „typische übergreifende Erlebnisformen und Erfahrungsmuster“ (18) auf, um sich der Forschungsfrage in einem darauffolgenden dreischrittigen Verfahren nähern zu können. Auf die Darstellung verschiedener tradierter Auffassungen von Schule (Schule als Ort der Sehnsucht bei Freud, als Ort der Zurichtung bei Bernfeld und als Ort der Kränkung bei Winterhager-Schmid) folgen autobiographische Sichten auf Schulerleben (z.B. von Thomas Bernhard, Ande Werner und Bastian B., den Amokläufer von Emsdetten) sowie ausgewählte Ergebnisse empirischer Studien, die Fragen von Kränkungserfahrungen, Wohlbefinden und Schulstress aufgreifen, jedoch kein einheitliches Bild in Bezug auf die gestellten Fragen abgeben.

Weitere Ausführungen zum subjektiven Erleben von Schule stellen die Beiträge zu den Themen Schwäche und Scham (Achim Würker), Angst in der Schule (Janina Bernshausen), emotionales Lernen (Felix Buchhaupt), Lehrerrolle (Julia Köhler/Ilse Schrittesser) sowie Wahrnehmung des Klassenklimas (Sebastian Boller/Stephan Holz/Martina Möller) dar. Es handelt sich um kurze Darstellungen von Forschungs- und Dissertationsprojekten, die insgesamt Interesse wecken. Ein abschließendes Fazit zum ersten Themenkomplex bleiben die Herausgeber leider schuldig, so dass die Beiträge nicht weiterführend aufeinander bezogen werden können.

Der zweite Themenkomplex verlässt die Ebene der Subjekte bzw. der emotionalen Erfahrungen von Schule und Unterricht und wendet sich verschiedenen psychoanalytisch-pädagogischen Betrachtungsweisen zu. Der Einstiegsbeitrag von Günther Bittner stellt hierzu die Frage „Die Schule – Setting oder Lebensspiel?“ (83) und befasst sich mit der Übertragbarkeit diverser aus der Klinischen Psychoanalyse stammenden Begrifflichkeiten wie beispielsweise „Setting“ und „Rahmen“ auf die Schule. Seine kritischen Ausführungen nehmen unterschiedliche Perspektiven in den Blick und sind auch für die Bereiche Allgemeiner Pädagogik oder Schulpädagogik durchaus lohnend, da neben schulischen Rahmenbedingungen auch Entwicklungsprozesse und -potentiale der SchülerInnen reflektiert werden.

Der anschließende Beitrag von Bernhard Rauh begibt sich auf ein vollkommen anderes Feld, nämlich das der „Triadische[n] Konstellationen mit und in Schule“ (95). Hier wird die ursprüngliche „Vater-Mutter-Kind-Triade“ (96) bzw. das Konzept der Triangulierung – also dem „Verinnerlichungsprozess, bei dem ‚aus dem äußeren Beziehungsdreieck ein inneres wird‘“ (97) – auf schulische Konstellationen übertragen bzw. fortgeschrieben und diskutiert.

Die weiteren Beiträge fokussieren auf die Themenschwerpunkte „Lehrer als Beziehungs- und Kulturarbeiter“ (Eva Rass), „Schemata des Beisammenseins im Unterricht“ (Margit Datler), „Schule anders erfahren“ (Herbert Hagstedt) sowie die Ermöglichung von Bildungsprozessen durch Achtsamkeit (Birgit Süßdorf) und beziehen somit differente Perspektiven (Klinischer) Psychoanalyse auf Schule und Unterrichtsgeschehen.

Der dritte und letzte Teil des Bandes mit dem Themenfokus „Aspekte der Lehrerprofessionalität und der Lehrerbildung“ wird durch den Beitrag Heiner Hirblingers zu Fallbesprechung und Mentalisierung in der Lehrerbildung eingeleitet. Den aus der Praxis stammenden Fällen und Schilderungen gibt Hirblinger eine theoretische Basis, für die er neben dem Konzept Sigmund Freuds ebenfalls auf das des Philosophen Michel Foucault zurückgreift; eine aufschlussreiche Kombination, deren Vertiefung für die weitere Verbindung von Psychoanalyse und (Schul-) Pädagogik nicht nur in praxisorientierter Sicht interessant sein kann.

Die Hypothese des von Widersprüchen gekennzeichnete Lehrerberufes (167) sowie der damit zusammenhängenden Selbsttäuschung der Lehrenden in Form von „Lebenslügen“ und potentiellen Abwehrstrategien (164) wird von Karl-Heinz Dammer aufgegriffen und dargestellt. Komplettiert wird der Themenkomplex durch Beiträge zu Fragen selbstreflexiver Lehrerbildung (Helmwart Hierdeis), dem Spezifikum intrapsychischer emotionaler Räume bei Fallbesprechungen mit Lehrenden (Annedore Hirblinger), der Supersivion (Heinz Krebs) sowie der Arbeit in Supervisionsgruppen als Teil der Lehrerausbildung (Jean-Marie Weber) und der „Lernprozessbegleitung“ (Angela Schmidt-Bernhardt/Beatrice Kustor-Hüttl/Silvia Brambring).

Insgesamt bietet der Band sowohl für Lehrende als auch WissenschaftlerInnen interessante Anregungen für die Verbindung von Psychoanalyse und (Schul-) Pädagogik, lässt jedoch eine inhaltliche Verbindung der einzelnen und oft sehr kurz gehaltenen Beiträge (z.B. durch kapitelabschließende Fazite, Zusammenfassungen und/oder Ausblicke) vermissen. Dadurch stehen die Einzelbeiträge trotz der Zuordnung zu einem Hauptthema recht isoliert dar, was jedoch als eine Schwäche vieler Tagungsbände ausgewiesen werden kann. Zudem wird die Frage nach potentiellen Einflüssen der Materialität des Raumes auf das Erfahren von Schule direkt in der Einleitung beiseitegeschoben; hier besteht sicherlich die Notwendigkeit einer weiterführenden Klärung, inwieweit nicht auch die Psychoanalytische Pädagogik derartige Faktoren (stärker) mit in den Fokus rücken muss, um ihrem Selbstverständnis als „kritische[r] Stachel“ (11) auch weiterhin gerecht werden zu können.
Ina Herrmann (Essen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ina Herrmann: Rezension von: Göppel, Rolf / Hirblinger, Annedore / Hirblinger, Heiner / Würker, Achim (Hg.): Schule als Bildungsort und „emotionaler Raum“, Der Beitrag der Psychoanaltischen Pädagogik zu Unterrichtsgestaltung und Schulkultur. Opladen: Barbara Budrich 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978386649354.html