EWR 12 (2013), Nr. 3 (Mai/Juni)

Ingrid Miethe / Hans-RĂŒdiger MĂŒller (Hrsg.)
Qualitative Bildungsforschung und Bildungstheorie
Opladen: Budrich 2012
(312 S.; ISBN 978-3-86649-405-3; 33,00 EUR)
Qualitative Bildungsforschung und Bildungstheorie Der Band versammelt ausgewĂ€hlte BeitrĂ€ge der Tagung der DGfE-Kommission „Qualitative Bildungs- und Biographieforschung“ vom September 2010. Darin finden sich empirische Übersetzungen bildungstheoretischen Arbeitens (I.), Theoretisierungen im Anschluss an empirische Forschungen zu Bildungsprozessen (II.) sowie BeitrĂ€ge zu exemplarischen ZugĂ€ngen der qualitativen Bildungsforschung (III.). FĂŒr den Band leitend ist der Anspruch, „Bildung“ kategorial sachhaltig zu erforschen und gleichzeitig offen fĂŒr Irritationen zu bleiben, die von empirischem Material, aber auch von neueren TheorieansĂ€tzen ausgehen.

Im Eingangsbeitrag des Bandes legt Hans-Christoph Koller das gesellschaftstheoretisch sensibilisierte und empirisch anschlussfĂ€hige Programm einer Theorie „transformatorischer Bildungsprozesse“ dar. Unter RĂŒckgriff auf unterschiedliche Sozialtheorien (u. a. Bourdieu, Oevermann, Butler) erlĂ€utert Koller die systematisch leitenden Aspekte transformatorischer Bildungprozesse und ihre empirischen Anschlussmöglichkeiten, darunter ihre AnlĂ€sse, die von Koller – anders als in der KrĂ€ftemetaphysik des Neuhumanismus – in Krisenerfahrungen gesehen werden.

Ausgehend von einer (auf Praktiken bezogenen) Kategorie der Subjektivation und einem machtsensiblen Anerkennungsbegriff unternehmen Sabine Reh und Norbert Ricken eine empirische Übersetzung pĂ€dagogisch bedeutsamer Subjektivierungs- bzw. Anerkennungsprozesse, indem sie diese als „Adressierungen“ operationalisieren. Ihre Heuristik zur Analyse dieser Adressierungen erproben sie an einer Unterrichtssequenz zur Wochenplanarbeit, in der sie die Instituierungen der SelbststĂ€ndigkeitsnorm in den (Re-)Adressierungen im ‚schulischen Bildungsraum‘ herausarbeiten.

Dominik Krinninger und Hans-RĂŒdiger MĂŒller wenden sich in ihrem analytisch gehaltvollen Beitrag gegen eine vordergrĂŒndige Absetzung von NormativitĂ€t im Bildungsdenken, deren Spuren sie in theoretischen und auch empirischen (sinnrekonstruktiven wie hermeneutischen) AnsĂ€tzen herausprĂ€parieren, z.B. in der transformatorischen Bildungsprozesstheorie, die angesichts ihrer Orientierung am „Neuen“ nur vermeintlich kulturell-normativ neutral sei. Die Autoren fordern eine „reflexive NormativitĂ€t“, welche auch das produktive WechselverhĂ€ltnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung stĂ€rken könnte.

In seinem Beitrag plĂ€diert Ruprecht Mattig fĂŒr eine kulturvergleichende und praxistheoretische Anlage der Bildungsforschung, die er unter RĂŒckgriff auf Überlegungen zum „Übergangsritus“ (van Gennep) entwickelt. Die bildungstheoretische Leitfrage, wie Menschen „in neue ErfahrungsrĂ€ume eintreten“ (84), wird in eine ethnographische Forschungsstrategie ĂŒbersetzt, die ihre Aufmerksamkeit auf die Perspektivierungspraktiken im Sozialen richtet.

Ausgangspunkt des Beitrags von Anja Tervooren ist die These, dass eine qualitative Bildungsforschung, welche die Lebensalter nicht auch in ihrer Unterschiedlichkeit und vergleichend betrachte, theoretische und empirisch-methodische EngfĂŒhrungen mit sich bringe. Der Vergleich der Subjekt- und Bildungskonzeptionen in unterschiedlichen Studien (Jugend/Erwachsenenalter vs. frĂŒhe Kindheit) macht deutlich, dass die qualitative Bildungsforschung die körperlichen HandlungsvollzĂŒge, die fĂŒr Bildung in der Kindheit wichtig seien, und deren performative Vollzugslogik bislang nicht hinreichend berĂŒcksichtigt hat.

In ihrem Beitrag verhandelt Nadine Rose die von Judith Butler ausgehenden „diskurstheoretischen Anregungen und Herausforderungen“ der biographisch orientierten Bildungsforschung, wobei sie der Vorwurf der Weltvergessenheit des Bildungsdenkens zu einer diskurstheoretischen Fassung von SubjektivitĂ€t als „Subjektivierung“ bzw. „Subjektivation“ fĂŒhrt. Lebensgeschichten seien dann als Inszenierungen mit subjektivierenden Effekten zu lesen, die auch SpielrĂ€ume der Dekonstruktion „vorfindbarer Kategorien der (Selbst-)Beschreibung“ (120) eröffnen. Diese Dekonstruktion enthĂ€lt auch ein ‚strategisches Potenzial‘ der Bildungstheorie.

Im Eingangsbeitrag des zweiten Teils geht Thorsten Fuchs (zeitlich) hinter die BeitrĂ€ge des ersten Teils zurĂŒck, insofern hier „AnnĂ€herungsarenen“ von Theorie und Empirie – zwischen DiametralitĂ€t und KomplementaritĂ€t in der reichhaltig eingefassten Diskursgeschichte der letzten 40 Jahre – erst aufgesucht werden sollen. Diese fĂŒhren Fuchs zu einer Standortbestimmung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung hinsichtlich ihrer bisherigen Leistungen und ihrer aktuellen Problemfelder, darunter auch die normative Dimensionierung von Bildungsprozessen.

In ihrem Aufsatz fragt Ingrid Miethe nach der KompatibilitĂ€t von Grounded Theory (GT) und Bildungstheorie, wobei sie eine (weitere) forschungsoperative Fassung der GT von ihrer (engeren) Bestimmung als Methode unterscheidet. Im RĂŒckgang auf pragmatistische Überlegungen werden operative Schritte des Forschens vorgestellt und die Bedeutung von Theoriearbeit in diesen aufgezeigt. Im letzten Schritt werden Maximen der Verbindung von Bildungstheorie und GT angegeben (z.B. Vermeidung von Subsumption und von theoretischer Illustration der Empirie).

Juliane Lamprecht arbeitet das bildungstheoretische Potenzial responsiver Evaluationsstudien heraus, indem sie die unterschiedlichen Diskursorganisationen in der wichtigen Kooperation von LehrerInnen und ErzieherInnen (in Tandems) untersucht. Es werden verschiedene Bewertungslogiken in den jeweiligen kooperativen ErzĂ€hlungen der Tandems rekonstruiert und Aspekte hieraus in responsiven EvaluationsgesprĂ€chen mit Blick auf die Dynamisierung von Kooperation („BildungsanlĂ€sse“, 185) eingebracht.

Florian von Rosenberg bringt die dokumentarische Methode mit dem Ziel einer prozessanalytischen Typenbildung fĂŒr Bildungsprozesse ein, um fallĂŒbergreifend „Generierungsschichten von Habitusdispositionen“ (199) zu vergleichen. Im Ergebnis zeige sich eine phasenĂŒbergreifende Typik in vier Phasen, die in sich eine Differenzierung in Habituswandlungen und grundsĂ€tzlicheren, weil radikaleren Habitustransformationen erlaube.

Im ersten Beitrag des dritten Teils widmet sich Claudia Equit der Erforschung von Bildungsprozessen unter besonderer BerĂŒcksichtigung der intersubjektiven Bezogenheit bzw. der Anerkennung nach Hegel, Siep und Fraser. Am Fall der 17-jĂ€hrigen Simone stellt Equit die biographischen VerlĂ€ufe und die Transformation von einer Rebellin zu einer pragmatisch-realistischen Lebensauffassung im Horizont der strukturalen Bildungstheorie nach Marotzki heraus.

Arnd-Michael Nohl diskutiert die Bedeutung der Dinge fĂŒr Bildungsprozesse, ihre Verwicklung in jene. Am Fall einer FilzpuppenkĂŒnstlerin folgt Nohl dieser Verwicklung durch MaterialitĂ€t als Anlass, Instrument und WiderstĂ€ndigkeit menschlicher Wirklichkeitsbearbeitung, welche anhand der trichotomischen Kategorienlehre von Peirce in der zweiten HĂ€lfte des Beitrags (als Austausch von Mensch und Dingen) auf den Begriff gebracht wird. Am Ende des Beitrags steht die Verwobenheit von Individuum und Ding, gefasst ĂŒber das Dewey’sche Konzept der transaction, das indes ĂŒber narrative Interviews bzw. Verbalisierung nur begrenzt erforschbar sei.

Thema des Beitrags von Alexander Geimer ist die Implizitheit und ReflexivitĂ€t der Medienaneignung von Filmen. Unter Verweis auf eigene empirische Studien zum Thema wird die Gebundenheit an alltĂ€gliche ErfahrungsrĂ€ume hervorgehoben, was kaum angemessen kompetenztheoretisch bzw. im Reflexionsparadigma zu fassen sei. Ein Rekurs auf Ă€sthetische Erfahrung kann diese Kritik konkretisieren und alternative AnschlĂŒsse offenlegen.

Im vorletzten Beitrag von Nicolas Engel werden grenzĂŒberschreitende Organisationen ethnographisch dahingehend untersucht, wie sie ĂŒber PrĂ€sentationen und ReprĂ€sentationen ihren Fortbestand ermöglichen. Der Beitrag wirft zum Ende die Frage nach der „Bildung“ von Organisationen auf.

Der Beitrag von Jochen Kade und Sigrid Nolda erarbeitet die systematischen Dimensionen von Biographie und Karriere als Formen des Lebenslaufs, ĂŒber die im zugrunde liegenden Interviewmaterial zeittypische und lebensalteraffine Aspekte analysiert werden können. Dabei verfolgen Kade/Nolda die Perspektive, „unter der die Befragten ihre BildungsaktivitĂ€ten sehen“ (293) und auf diese Weise zu einem Lebenslauf gelangen.

Dieser Tagungsband gehört ohne Zweifel zu den produktivsten und gehaltvollsten Publikationen zum VerhĂ€ltnis von Bildungsforschung und Bildungstheorie der letzten Jahre. Es ist erkennbar, dass die Phase ‚offener Relationierung‘ von Theorie und Empirie in eine disziplinformierende VerstĂ€ndigung gemĂŒndet ist. Zu ihr gehört ein ProblembĂŒndel, das unter anderem Fragestellungen der „NormativitĂ€t“ und der „Weltvergessenheit“ von Bildung enthĂ€lt. Diese Fragestellungen werden ĂŒber zahlreiche BeitrĂ€ge hinweg aufgegriffen und bearbeitet. Zur Frage der NormativitĂ€t darf der Beitrag von Krinninger und MĂŒller als besonders wegweisend gelten, weil er eine Problematisierung (der vordergrĂŒndigen Abgrenzung von „Bildung“ gegenĂŒber „NormativitĂ€t“) enthĂ€lt, welche sich mit der Sichtung und Analyse des aktuellen Diskursgeschehens von Bildungstheorie und Bildungsforschung verbindet. Im Anschluss daran lĂ€sst sich feststellen, dass die (in der großen Mehrzahl) ĂŒberzeugenden BeitrĂ€ge doch Unterschiede aufweisen hinsichtlich der ReflexivitĂ€t, wie sie mit der Bestimmtheit und Identifizierbarkeit von „Bildungsprozessen“ umgehen. Diese ReflexivitĂ€t wird besonders in den (systematisch verpflichteten) BeitrĂ€gen des ersten Teils realisiert. Systematisch weitgehend und ĂŒberzeugend sind die Überlegungen von Nadine Rose, welche fĂŒr die Erforschung von Bildungsprozessen auch einen dekonstruktiven Einsatz geltend macht bezĂŒglich der „diskursive[n] Machtwirkungen auf die im Text inszenierten Subjekte“ (120, Hervorhebung i. O.). Eher kritisch sieht die Rezensentin dagegen, mit welcher Entschiedenheit in manchen BeitrĂ€gen kategoriale Bestimmungen wie „Bildung als Transformation von Selbst- und WeltverhĂ€ltnissen“ oder die Abgrenzung von „Bildung“ und „Lernen“ gesetzt werden, ohne sich zu den darin enthaltenden Voraussetzungen zu verhalten. Aber das gehört möglicherweise zur Formierung eines ‚Denkkollektivs‘.

Ein weiterer Gesichtspunkt erscheint nennenswert: dass ein Großteil der BeitrĂ€ge mit Qualifikationsarbeiten verknĂŒpft ist, die in den letzten Jahren zum VerhĂ€ltnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung entstanden sind. Dies unterstreicht, dass die Arbeit an diesem Thema eine disziplinĂ€re Bedeutung gewonnen hat. Impliziert ist damit auch, dass fĂŒr die Weiterentwicklung des Themas und die Bearbeitung des o.g. ProblembĂŒndels eine stĂ€rkere BerĂŒcksichtigung und Aufnahme dieser Arbeiten der letzten Jahre angezeigt ist. Von einer „Kluft“ zwischen einer „Theorie und Empirie der Bildung“ kann nach LektĂŒre des Bandes kaum mehr die Rede sein.
Christiane Thompson (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christiane Thompson: Rezension von: Miethe, Ingrid / MĂŒller, Hans-RĂŒdiger (Hg.): Qualitative Bildungsforschung und Bildungstheorie. Opladen: Budrich 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 3 (Veröffentlicht am 28.05.2013), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978386649405.html