EWR 14 (2015), Nr. 2 (MĂ€rz/April)

Julian Hamann
Die Bildung der Geisteswissenschaften
Zur Genese einer sozialer Konstruktion zwischen Diskurs und Feld
Konstanz / MĂŒnchen: UVK Verlagsgesellschaft 2014
(460 S.; ISBN 978-3-8676-4523-2; 59,00 EUR)
Die Bildung der Geisteswissenschaften ‚Bildung‘ ist gegenwĂ€rtig zu einem allumfassenden Marker geworden, der das Zusammenspiel verschiedener Akteure und Institutionen moderiert. Die Studie Julian Hamanns ist in dieser Lage sehr lesenswert, da sie es unternimmt, die jeweiligen Ausformulierungen von ‚Bildung‘ im universitĂ€ren Binnenraum als Zusammenspiel von Gesellschaft, Wissenschaft und Politik in den Blick zu bringen. Innovativ wird hierbei eine methodologisch ausgereifte Perspektive zwischen Feld- und Diskursanalyse entwickelt, welche die Konstitution der Geisteswissenschaften im Lichte ihrer Bezugnahmen auf ‚Bildung‘ verfolgt. Hamann zeigt auf, wie in der Referenz auf ‚Bildung‘ trotz vielfĂ€ltiger Transformationen im Verlauf von ca. 200 Jahren ein einheitlicher Bezugsrahmen der Disziplingruppe ‚Geisteswissenschaften‘ gestiftet wird. Besonders beeindruckend ist, wie die Feldanalyse Wissenschafts-, UniversitĂ€ts- und Diskursgeschichte zu verbinden weiß und auf diese Weise höchst aufschlussreich auch fĂŒr gegenwĂ€rtige Betrachtungen der Konjunkturen rund um ‚Bildung‘ ist. Überzeugend ist insgesamt die konzentrierte Darstellung der sehr detailreich gehaltenen AusfĂŒhrungen, die stets pointiert aufeinander bezogen werden.

Hamann entwickelt in einem ersten Schritt seinen spezifischen Zugang einer Soziologie der Wissenschaftsgeschichte aus der Sichtung aktueller Forschungsdesiderata, zu denen in methodologischer Hinsicht die fehlende Verbindung von Feld- und Diskursanalyse zĂ€hlt wie auch die bisher wissenschaftsgeschichtlich starke VernachlĂ€ssigung geisteswissenschaftlicher FĂ€cher. Besonders instruktiv ist hierbei, dass Hamann weit vor der vermeintlichen ‚GrĂŒndungsstunde‘ der Geisteswissenschaften durch Dilthey einsetzt und seine Untersuchungen bis zu den gegenwĂ€rtigen Reformen des Hochschulwesens im Zuge der Neuausrichtung der UniversitĂ€t im Bologna-Prozess reichen. Die methodologisch reflektierte und souverĂ€n argumentierte Vorgehensweise wird schließlich in diesem ersten Kapitel mit einer BegrĂŒndung fĂŒr die Auswahl des Korpus und die Unterscheidung in vier Kristallisationspunkte abgerundet.

Die Studie beleuchtet sodann in vier – den Hauptteil des Buches ausmachenden – Schritten die ordnungsbildende Funktionsweise des Bildungsgedankens, der sowohl Einheit als auch Differenz zu erzeugen vermag. Auf diese Weise werden markante Reformulierungen von ‚Bildung‘ im Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen, hochschul- und theoriepolitischen Wandlungs- und Gestaltungsprozessen herausgearbeitet. FĂŒr alle Kristallisationspunkte analysiert Hamann gleichermaßen die feldspezifischen Kontexte und die Diskursivierungen von ‚Bildung‘. Zu den deduktiv gewonnenen Feldkontexten zĂ€hlen die Zusammensetzung der Studierenden und Lehrenden („universitĂ€re Population“), die Struktur der UniversitĂ€ten und FĂ€cher („institutionelle Struktur“), die epistemologischen Horizonte („WissenschaftsverstĂ€ndnis“) und die angerufenen Akteure („Akteurspositionen“). Diese werden in jedem Zeitraum dann mit einem mehrdimensional gefassten Bildungsdenken relationiert, welches induktiv aus dem Textkorpus gewonnen wurde. Der jeweilige Bildungsbegriff fĂ€chert sich somit auf: in inhaltliche Bestimmungen („ontologische Dimension“), in Zielbestimmungen („funktionale Dimension“), in Gegenstandsbestimmungen („Objektdimension“), in Modi des Vollzugs („praktische Dimension“) und in Responsibilisierungen von Akteuren („Subjektdimension“).

An die Analysen schließt Hamann jeweils eine relationierende Diskussion der Dimensionen und Faktoren an, die den Gewinn einer feldanalytisch informierten Diskursanalyse veranschaulicht. Die Bestimmungen des Bildungsbegriffs werden damit immer wieder mit dem Feld der möglichen Positionen in Beziehung gesetzt, so dass die Konvergenzen von gesellschaftspolitischen, universitĂ€tsstrukturellen und theoriepolitischen Entwicklungen beschrieben werden können. Veranschaulicht werden kann dies an einem Beispiel aus dem zweiten Kristallisationspunkt, der zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik von einem – gegenĂŒber der Zeit der preußischen UniversitĂ€tsreformen – beginnenden Aufwuchs gekennzeichnet ist. Die damit einhergehende fĂ€cherspezifische Ausdifferenzierung fĂŒhrt auch dazu, dass Karrierewege außerhalb der UniversitĂ€t entstehen. Damit zusammenhĂ€ngend und durch eine allmĂ€hliche soziale Öffnung hinsichtlich der UniversitĂ€tszugehörigkeit wird bspw. die Beamtenlaufbahn fĂŒr das Berufsbild der Lehrerin bzw. des Lehrers attraktiv, was wiederum neben ganzheitlicher Charakterbildung auch spezialisierteres Fachwissen sowie das Gewicht von Methodisierung und Systematisierung legitimiert. Darauf und auf die gleichzeitige Erstarkung der Naturwissenschaften antwortet die prominent durch Dilthey formulierte genuin geisteswissenschaftliche Epistemologie, woraus wiederum VerĂ€nderungen in der Profilierung professoraler und studierender Akteure resultieren (189ff).

In der Studie werden folglich nicht nur Vereinheitlichungstendenzen im Rekurs auf ‚Bildung‘ behandelt; vielmehr haben auch die KĂ€mpfe um legitime und illegitime Positionierungen in der Analyse einen wichtigen Stellenwert. Gegen eine vereinheitlichende GlĂ€ttung gelingt somit ein Einblick in das Zusammenspiel von sozialstrukturellen, institutionellen und theoriepolitischen Aspekten der Zeit.

Im ersten Kristallisationspunkt stellt die Studie heraus, wie im Zuge der preußischen Staatenbildung die Etablierung der modernen UniversitĂ€t als autonome GelehrtenuniversitĂ€t entsteht. Die Erneuerung der UniversitĂ€tslandschaft wird insbesondere durch den staatlichen ‚Bildungsauftrag‘ durch die preußischen UniversitĂ€tsreformen getragen. Die allgemeine und freie Bildung und der Zusammenhang von Forschung und Lehre finden hier ihren Platz vor dem Hintergrund einer staatlichen Sanktionierung der Freistellung zu ‚Bildung‘. Die bis heute fĂŒr die Geisteswissenschaften bestimmende Vorrangstellung der Philosophie und der philosophischen FakultĂ€ten im Nachgang der kantischen Profilierung von Wahrheitssuche gegenĂŒber einer NĂŒtzlichkeitsorientierung resultiert aus der hegemonialen Akteurschaft von Vertretern des Deutschen Idealismus zu dieser Zeit. Die sozialdistinktive Aufladung universitĂ€rer Bildung kann vor diesem Hintergrund und durch Passung zu einer sozial selektiven Zusammensetzung der UniversitĂ€tsangehörigen umfassend Geltung beanspruchen.

Der zweite Kristallisationspunkt umfasst die Zeit nach dem Sieg ĂŒber Napoleon bis zur Weimarer Republik, die neben den bereits genannten Prozessen von einer Konsolidierung der modernen UniversitĂ€t geprĂ€gt ist. In diese Zeit fĂ€llt auch Diltheys Neuformulierung einer geisteswissenschaftlichen Epistemologie, welche die Abkehr vom Erbe des Deutschen Idealismus ermöglichte.

Im dritten Kristallisationspunkt wird die Periode nach dem zweiten Weltkrieg und des Wirtschaftswachstums in den Blick genommen, wobei hierbei insbesondere der Wandel zur GruppenuniversitĂ€t nach einer restaurativen Phase mit Politisierungstendenzen der Studierendenschaft und gesellschaftspolitischen Verantwortungszuschreibungen der UniversitĂ€t einhergeht. Die Freiheitlichkeit der Bildung stellt weiterhin die leitende Linie dar, dient jedoch nun im Zuge der Bildungsexpansion und der daraus folgenden Steigerung administrativer Aufgaben im Lehr- und Forschungswesen als idealisierte Folie der Kritik an den realen Bedingungen. Neben einer Ausdifferenzierung der FĂ€cher und dem kontinuierlichen Erstarken der Naturwissenschaften fĂŒhren sozialwissenschaftliche Disziplinen zu einer qualitativen und quantitativen Öffnung, was sich sozialstrukturell in einer Diversifizierung der UniversitĂ€tsangehörigen widerspiegelt.

Schließlich wird im vierten Kristallisationspunkt ab den 1980er Jahren die massive Umstrukturierung zur managerialen Hochschule begleitet von kulturwissenschaftlichen Reformulierungen geisteswissenschaftlicher Forschungsfragen, so dass FĂ€cher- und Gegenstandsbestimmungen eine vermehrte „Grenzarbeit“ (290) verlangen. Die weiterhin leitende Folie einer freiheitlichen ‚Bildung‘ erlaubt in diesen Prozessen eine Abgrenzung zu Verschulungstendenzen und Kompetenz- bzw. Arbeitsmarktorientierungen.

Im Ergebnis kann Hamann in seiner Studie nachweisen, wie ‚Bildung‘ als Referenzpunkt geisteswissenschaftlicher IdentitĂ€t fungiert. Mit dem Stichwort „ResponsivitĂ€t“ (365) arbeitet er heraus, wie die jeweiligen Ausformulierungen eines BildungsverstĂ€ndnisses strukturelle und soziale VerĂ€nderungen aufnehmen, bspw. wenn neben der Charakter- und Persönlichkeitsbildung auch die Berufsvorbereitung mehr und mehr zu einer legitimen Zielmarke wird. Zugleich verdeutlicht sich die „Beharrungskraft“ (368) konstitutiver Elemente wie Freiheitlichkeit, Wissenschaftlichkeit und akademische Autonomie im historischen Verlauf, so dass hierbei eine „relative Autonomie“ (371) des diskursiven Feldes um ‚Bildung‘ gegenĂŒber kontextualisierenden Faktoren sichtbar wird. So wird verstehbar, wie trotz der auf vielen Ebenen situierten ‚BedrĂ€ngungen‘ geisteswissenschaftlicher FĂ€cher eine gemeinsame IdentitĂ€t als Disziplingruppe aufrechterhalten werden kann. Zugleich arbeitet Hamann heraus, wie die wesentlichen Bezugsmomente der Wissenschaftlichkeit und der Freiheit einerseits der Abgrenzung gegenĂŒber anderen geisteswissenschaftlich informierten Feldern wie etwa Journalismus oder Kunst dienlich sind und andererseits als ‚Illusio‘ des akademischen Feldes fungieren.

Zwei Monita lassen sich hier kurz anfĂŒgen, die jedoch die methodologischen und wissenschaftstheoretischen Leistungen dieser Studie keineswegs schmĂ€lern. Es ist erstens irritierend, dass die im letzten Kristallisationspunkt wichtige Kontextbedingung der deutschen Wiedervereinigung fĂŒr das Wissenschafts- und UniversitĂ€tssystem nicht eigens reflektiert wird. Denn die Aufnahme eines Wissenschaftssystems in das andere verlief vermutlich in der von Hamann behandelten FĂ€chergruppe – bspw. der Geschichte oder der Philosophie – auch ĂŒber pĂ€dagogisierende Momente der ‚AufklĂ€rung‘ ĂŒber legitime WissenschaftsverstĂ€ndnisse und Forschungslogiken. Zweitens ist aus erziehungswissenschaftlicher LektĂŒreperspektive verwunderlich, dass die disziplinĂ€re Sicht dieses Fachs weitgehend außen vor bleibt. Hamann zĂ€hlt – vermutlich – diese Disziplin zu den Sozialwissenschaften und erwĂ€hnt lediglich immer wieder, wie die seit dem Kaiserreich zunehmende Bedeutung der Lehramtsbildung auch Effekte auf die jeweilige Gestalt der geisteswissenschaftlichen FĂ€cher besitzt. Die Irritation besteht nicht nur deshalb, weil fĂŒr das Bildungsdenken relevante Positionen wie die Kants, Schleiermachers und Humboldts zentrale Referenzen der Studie sind. Auch werden mit Litt und Spranger Figuren aufgerufen, die maßgeblich an der Etablierung der erziehungswissenschaftlichen Disziplin im Zusammenhang der Referenz auf einen geisteswissenschaftlichen Bildungs- und Wissenschaftsbegriff beteiligt waren. Die ‚Auslagerung‘ bzw. kanonisierte Verankerung der ZustĂ€ndigkeit fĂŒr Theorie und Praxis von Bildung in einer eigenen Disziplin ist daher wesentlich mit der Bildung der Geisteswissenschaften und einem geisteswissenschaftlichen Bildungsbegriff verbunden. Vermutlich ist die jeweilige Konturierung des Bezugspunktes ‚Bildung‘ in GĂ€nze nur dann zu erfassen, wenn die gleichzeitig stattfindende Disziplinbildung dieses Fachs entsprechend in den Blick gebracht wĂŒrde.

Dessen ungeachtet liest sich die Studie als eine Kultur- und Sozialgeschichte der modernen UniversitĂ€t, deren Ausgangspunkt in der philosophisch-geisteswissenschaftlichen Vorrangstellung und dem Auftrag der Bildung des Menschen im Allgemeinen liegt. Die Studie ist zudem auch als Beitrag zu einer Theorie- und Wissenschaftsgeschichte zu verstehen, welche die Konturierungen und Verschiebungen des gesellschafts- und theoriepolitischen Bezugspunktes ‚Bildung‘ rekonstruiert. Insgesamt wird deutlich, wie die UniversitĂ€t ihrem SelbstverstĂ€ndnis nach aus geisteswissenschaftlicher Perspektive ein Ort der Bildung ist. Was aus den vorgelegten Analysen fĂŒr die gegenwĂ€rtigen Mobilisierungen durch Referenzen auf ‚Bildung‘ auch außerhalb der UniversitĂ€t folgt und wie die Zukunft der UniversitĂ€t als Bildungseinrichtung zu denken ist, wird im Anschluss an diese sehr lesenswerte Studie mit neuer Dringlichkeit zu thematisieren sein.
Kerstin Jergus (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Kerstin Jergus: Rezension von: Hamann, Julian: Die Bildung der Geisteswissenschaften, Zur Genese einer sozialer Konstruktion zwischen Diskurs und Feld. Konstanz / MĂŒnchen: UVK Verlagsgesellschaft 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 2 (Veröffentlicht am 08.04.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978386764523.html