EWR 13 (2014), Nr. 1 (Januar/Februar)

Ulrike Ackermann / Hans Jörg Schmidt (Hrsg.)
John Stuart Mill
Ausgewählte Werke
Band 2: John Stuart Mill: Bildung und Selbstentfaltung
Hamburg: Murmann 2013
(494 S.; ISBN 978-3-86774-178-1; 54,00 EUR)
John Stuart Mill „Bildung“ gilt auch in der deutschen Fachdiskussion noch häufig als nahezu unübersetzbares „indigenes“ Konzept, das vor allem im anglo-amerikanischen Raum keine Entsprechung habe. Wie verkürzt diese Sichtweise ist, wird einmal mehr durch den vorliegenden Band illustriert, der dankenswerterweise die Schriften John Stuart Mills einem deutschen Publikum nicht nur nahe bringt, sondern auch dessen aktuelle Bezüge aufweist. Viele der intellektuellen Auseinandersetzungen, die uns heute bewegen, wie beispielsweise die Angst vor einem rein „verzweckten“ Bildungsbegriff, finden in den Auseinandersetzungen um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts einen nicht allzu „fernen Spiegel“, um den Titel eines bekannten Buches der Historikerin Barbara Tuchman zu zitieren.

In der Einleitung zu dem vorliegenden Band, die Hans Jörg Schmidt, einer der beiden Herausgebenden verfasst hat, wird bereits zu Beginn ganz explizit die Frage nach der Bedeutung des Bildungsbegriffs im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext gestellt. Im neunzehnten Jahrhundert dienten John Stuart Mill ausgerechnet die ehrwürdigen Universitäten Oxford und Cambridge als Beispiele für die Pervertierung oder zumindest Verirrungen und Beschränkungen des humanistischen Bildungsideals. Einem utilitaristischen Verständnis setzt er, darin mit Humboldt übereinstimmend, Entdeckerfreude und die notwendige Entfaltung der individuellen Potenziale entgegen. Für Mill sind vor allem die kognitiven, ethischen und ästhetischen Dimensionen von Bildung von Interesse; Dimensionen deren Bedeutung für sein eigenes Leben er in seiner Autobiographie reflektiert. Diese ist, darin ist Hans Jörg Schmidt dezidiert zuzustimmen, durchaus in einem bildungstheoretischen Kontext zu lesen, wenn sie auch auf so offensichtliche Fingerzeige verzichtet, wie sie sich etwa in Henry Adams’ „The Education of Henry Adams“ finden. Die in diesem Band als erstes Kapitel abgedruckte Autobiographie folgt der Übersetzung Carl Kolbs aus dem Jahr 1873. Ähnlich wie andere Kinder ehrgeiziger Väter dieser Zeit, beispielsweise auch die brillante amerikanische Intellektuelle Margaret Fuller, führte die frühe kognitive Überforderung zu einem mentalen Zusammenbruch, der erst durch die Hinwendung zur Romantik, die zu einer religiösen Erweckung (15) führte, überwunden werden.

Mill war ein Verfechter des Lebenslangen Lernens avant la lettre. Für ihn bildeten alle mit Bildung und Erziehung befassten Institutionen ein Kontinuum, aber ein Schwerpunkt seiner bildungspolitischen Arbeit lag ohne Zweifel auf Schule und Universität.

Dieses Hauptinteresse spiegelt sich auch in der Textauswahl des vorliegenden Bandes, dessen Thema der Zusammenhang von Biographie, Erziehung, Bildung und Selbstentfaltung ist (16). So wird John Stuart Mill, der dem deutschen Publikum vor allem als zentraler Vordenker des modernen Liberalismus, der Demokratie und der Frauenrechte bekannt ist, hier auch als international bedeutender Bildungstheoretiker und Bildungspolitiker gewĂĽrdigt.

Der Band vereinigt sowohl bereits übersetzte, wie auch erstmalig übersetzte Texte John Stuart Mills, die von Florian Wolfrum übernommen wurden. Die bereits übersetzten Texte wurden nochmals durchgesehen. Die hier versammelten Arbeiten Mills werden nicht in chronologischer Abfolge präsentiert, sondern beleuchten unterschiedliche Aspekte der politischen und theoretischen Auseinandersetzung mit dem Themenbereich „Bildung“ und „Erziehung“.

Der Band ist wie folgt aufgebaut:
Auf die mit 14 Seiten relativ knappe Einleitung leitet die bereits erwähnte Autobiographie in der Übersetzung von Carl Kolb den zweiten großen Teil des Bandes, der mit „Texte“ überschreiben ist, ein. In der Autobiographie schildert Mill ausführlich die ihn prägenden inneren und äußeren Entwicklungsprozesse; auch der prägende Einfluss von Büchern wird hier ausführlich zur Sprache gebracht. Ersichtlich werden auch die belastenden Aspekte seiner frühen intellektuellen Anstrengungen, die er durch die Entdeckung der Romantik und der romantischen Gefühlswelten in Balance zu bringen versuchte. Es handelt sich um ein beeindruckendes Selbstzeugnis, das nicht nur von historischem Interesse ist, sondern dass, abstrahiert man vom unmittelbaren zeitgenössischen Kontext, auch heute noch Resonanzen erzeugt.

Es folgt ein kurzer Text zum Thema „Selbstdenken statt Pauken“ aus dem Jahre 1835, das die Überzeugung Mills von den selbstbildnerischen kindlichen Kräften sehr gut illustriert. Die folgenden Kapitel setzen sich mit dem Verhältnis zwischen religiöser und säkularer Erziehung auseinander und beleuchten organisatorische und legale Aspekte von Bildung. So bieten die Kapitel vier bis acht einen sehr guten Einblick in die bildungspolitischen Diskussionen in England in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und decken ein breites Themenspektrum ab, das die Schulorganisation ebenso berücksichtigt wie die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die Schulorganisation ebenso wie Grundfragen öffentlicher Bildung. Die letzten Kapitel sind mit hochschul- bzw. universitätspolitischen Fragen, sowie mit sehr allgemeinen Überlegungen zum „Nutzen von Wissen“, zur „Vervollkommnungsfähigkeit“ und zur „Zivilisation“ befasst.

Die Texte behandeln bei aller Breite teils sehr spezielle Aspekte und sind aus heutiger Sicht ohne fundierte Kenntnis des historischen Zusammenhangs nicht ohne weiteres zu erschließen. Es besteht – trotz des umfangreichen Quellen- und Anmerkungsapparats – die Gefahr, die Schriften aus rein antiquarischem Interesse zur Kenntnis zu nehmen, obwohl bereits in der Einleitung explizit auf aktuelle Bezüge verwiesen wurde; die dort angesprochenen Beziehungen stellen sich aber nicht von selbst her, sondern müssen sorgfältig hergeleitet werden. In diesem Zusammenhang ist noch ein weiteres Anliegen anzusprechen: Es ist ausgesprochen verdienstvoll, wenn eine sehr ansprechende Werkausgabe dazu benutzt wird, darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem Bildungsbegriff mitnichten um einen deutschen Sonderweg handelt, dass es vielmehr bereits im 18. und erst recht im 19. Jahrhundert die vielfältigsten internationalen intellektuellen Austauschbewegungen gab, was sicher auch damit zusammenhängt, dass Bildung zum Massenphänomen zu werden begann und dass insgesamt ein großer Enthusiasmus für die Geistesbildung herrschte. Schicksale wie das John Stuart Mills, der früh zum Objekt des elterlichen Ehrgeizes wurde, sind in dieser Zeit keine Seltenheit. Dies alles hat zur Folge, dass die Formulierung des Bildungsbegriffs auch nur in diesem internationalen Kontext angemessen zu erklären ist. Humboldt, Carlyle, Wordsworth und Goethe, um nur einige zu nennen, müssen mithin in einem Gesamtzusammenhang gesehen werden. Die präzise Erhellung eben dieser Zusammenhänge erfordert aber eine rigorose Begriffsarbeit und somit wäre es wünschenswert, wenn zumindest einige der hier versammelten Beiträge zweisprachig vorlägen. Andererseits ist dies nicht notwendigerweise Aufgabe einer Werkausgabe, die sich dezidiert an ein deutschsprachiges Publikum wendet. Unmittelbarer ist hingegen der Einwand, dass die Einleitung sehr knapp ausgefallen ist und zur Auswahl der Schriften nur sehr allgemeine Aussagen trifft. Hier hätte eine ausführlichere Darstellung nicht unwesentlich dazu beitragen können eine breitere Leserschaft zu erreichen und auch dem Fachpublikum die Einordnung in das Gesamtwerk zu erleichtern.

All dies schmälert die Verdienste dieses mit John Stuart Mills bildungstheoretischen und bildungsphilosophischen Themen befassten Bandes nicht. Die historische Bildungsforschung kann hier gut anschließen und auch für Studienzwecke ist es gut nutzbar, wenn die Anschaffungskosten auch relativ hoch sind und daher wahrscheinlich eher von sehr interessierten und spezialisierten Studierenden aufgebracht werden.
Karin Amos (TĂĽbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Karin Amos: Rezension von: Schmidt, Ulrike Ackermann, Hans Jörg (Hg.): John Stuart Mill, Ausgewählte Werke Band 2: John Stuart Mill: Bildung und Selbstentfaltung. Hamburg: Murmann 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 1 (Veröffentlicht am 05.02.2014), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978386774178.html