EWR 13 (2014), Nr. 2 (März/April)

Cornelia Breyer / Günther Fohrer / Walter Goschler / Manuela Heger / Christina Kießling / Christoph Ratz (Hrsg.)
Sonderpädagogik und Inklusion
Oberhausen: Athena-Verlag 2012
(285 S.; ISBN 978-3-89896-483-8; 27,50 EUR)
Sonderpädagogik und Inklusion „Die inklusive Entwicklung des Bildungssystems steht politisch und moralisch außer Frage. Dennoch tauchen bei der Umsetzung Fragen auf“ – so die Herausgeber der hier zu rezensierenden Festschrift in ihrem Vorwort. Anlässlich des 60. Geburtstags von Prof. Dr. Eberhard Fischer versammeln die Mitarbeiter des Lehrstuhls für Pädagogik bei Geistiger Behinderung der Universität Würzburg 19 Beiträge unter dem Titel „Sonderpädagogik und Inklusion“. Die Beiträge sind dazu in drei Bereiche „Allgemeine Fragen“, „Fragen zu Schule und Unterricht“ und „Fragen anderer Disziplinen“ untergliedert.

Im Folgenden soll nicht der Versuch unternommen werden, alle Beiträge alleinstehend zu betrachten, sondern vielmehr die im Rahmen der Festschrift bearbeiteten Themengebiete herauszuarbeiten und deren Bearbeitung mit Hilfe der verschiedenen Beiträge zu rezensieren. Denn leider fällt es beim Lesen der einzelnen Beiträge schwer einen „Roten Faden“ hinsichtlich des gestellten Themas „Sonderpädagogik und Inklusion“ zu erkennen. Erschwert wird dies durch das Fehlen einer Einleitung, die den Aufbau der Festschrift vorstellen könnte. Darin mag auch eine Erklärung liegen, warum die eingangs angesprochene Einigkeit über die Notwendigkeit einer inklusiven Entwicklung des Bildungssystems nach der Lektüre der Beiträge doch sehr fraglich erscheint.

Zur Frage, was denn nun „Inklusion“ bezogen auf pädagogische Kontexte bedeuten mag, beziehen die Beiträge der Festschrift mehr oder weniger, jedenfalls unterschiedlich Stellung. So stellen vor allem die Beiträge des ersten Abschnitts verschiedene Zugänge zum Thema „Inklusion“ vor. So diskutiert beispielsweise Andreas Fröhlich in seinem Beitrag „spekulativen Charakters“ Diversity Management, Biodiversität und Inklusion und kommt zu dem Schluss, dass „»Das Recht anders zu sein« […] zweifellos aggressiver als »Inklusion«“ (81) sei und „individuelle und gesellschaftliche Freiheit“ (81) sichere. Leider bleibt in Fröhlichs sowie fast allen anderen Beiträgen unklar, was unter dem Stichwort Inklusion zu verstehen ist. Im Gegensatz dazu arbeitet Karl-Heinz Ackermann aus der Perspektive der Geistigbehindertenpädagogik ein Verständnis von Inklusion als Menschenrecht heraus, zu dessen Umsetzung ein „veränderter Zuschnitt von Institutionen und Organisationen, durch den Interaktionen im Sinne von Inklusion ermöglicht […] werden sollen“ (96) notwendig sei. Er konstatiert, dass aber Bildung zentraler Bezugspunkt „aller pädagogisch relevanten Bedingungszusammenhänge“ (98) bleiben müsse. In diesem Sinne sei es Aufgabe, auch des sonderpädagogischen Diskurses, das Verhältnis zwischen sich inklusiv entwickelnden Rahmenbedingungen und darin stattfindenden Bildungsprozessen zu bearbeiten. Im Gegensatz zu Ackermann definiert Konrad Bundschuh Inklusion als uneingeschränkte Teilhabe an der Gesellschaft und als gemeinsames Lernen. Ein Paradigmenwechsel sei in der Sonderpädagogik notwendig, wenn diese die „Pädagogik mit Anspruch auf Integration und Inklusion sein“ (113) wolle.

Zum Verhältnis von „Sonderpädagogik und Inklusion finden sich in weiteren Beiträgen Positionierungen. So beschäftigen sich die Beiträge von Christel Rittmeyer und Michael Häußler mit eher professionstheoretischen Überlegungen und der Frage nach dem Sonderpädagogischem in inklusiven Kontexten. Während Rittmeyer sonderpädagogische Kompetenzen und Kenntnisse für einen „inklusiven Unterricht“ auf Basis des Artikels 24 der UN-BRK herausarbeitet, thematisiert der Beitrag von Häußler Widersprüche, die sich dem Autor aus der individuellen Perspektive eines Sonderpädagogen darstellen. Auf dieser Basis hinterfragt Häußler „schulische Inklusion“ dann grundsätzlich. Dabei fällt es schwer sich des Eindrucks zu erwehren, dass Häußlers Argumentation von der „abwehrenden Emotionalität“ eines Sonderpädagogen geprägt ist, die Häußler selbst beschreibt. Beide Beiträge lassen theoretische Überlegungen zu Professionalisierung und Bezüge zu aktuellen Forschungsergebnissen z.B. von Moser et al. [1] vermissen.

Konkrete Fragen der inklusiven Entwicklung von Schulen werden ebenfalls im Rahmen der Festschrift bearbeitet. So plädiert Michael Wagner für die Stärkung des Elternwahlrechtes als Schlüssel zur Gestaltung eines inklusiven Schulsystems. Sich inklusiv entwickelnde Schulen müssten nur attraktiv genug gestaltet sein, um über ein gestärktes Elternwahlrecht Förderschulen teilweise ablösen zu können. Leider lässt Wagner bei seinen Überlegungen Kritik an der Parallelität von sich inklusiv entwickelnden Schulen und dem Förderschulsystem sowie Forschungen zum Beispiel zum Zusammenhang von Schulwahlentscheidung und Chancenstrukturen im Bildungssystem außer Acht. Reinhard Markowetz widerspricht Häußler insofern, als dass er von der Unteilbarkeit von Integration ausgeht. Aus dieser Grundannahme heraus plädiert Markowetz für eine inklusive Didaktik die verschiedene didaktische Modelle integriert und ausbalanciert und sowohl inklusive als auch exklusive Lernsituationen im Gemeinsamen Unterricht einfordert.

Eine weitere Perspektive auf das Thema „Sonderpädagogik und Inklusion“ versprechen Beiträge, die sich auf spezifischen Förderbedarf beziehen. So geht Roland Stein nicht davon aus, dass auf „spezifische Schulangebote im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung verzichtet werden kann“ (192). Stein betont, dass die Bemühungen um mehr Kompetenz im Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten in den Regelschulen verstärkt werden müssen und dazu Förderzentren sowie Schulen für Kranke als ambulante Unterstützungssysteme gestaltet sein sollten. Ingeborg Thümmel fasst in ihrem Beitrag zur Kommunikationsförderung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung Ergebnisse einer Befragung von SonderpädagogInnen, die an Förderschulen mit diesem Förderschwerpunkt arbeiten, zur Förderung von Lautsprache von Kindern mit geistiger Behinderung zusammen. Thümmel sieht in Ihren Ergebnissen „weitreichende Exklusionsrisiken“ innerhalb des Förderschulsystems bestätigt. Heinz Mühl beschreibt in seinem Beitrag auf der Grundlage zweier studentischer Arbeiten individuelle „Fördermaßnahmen bei Verhaltensstörungen bei Schülern mit geistiger Behinderung“ (209) und kommt zu dem Schluss, dass individuelle Aspekte der Förderung „unerlässlich sind, um eine wirksame Reduzierung zu erreichen“ (209). Die im Titel seines Beitrags angesprochene Gegenüberstellung von Einzelfall- und systemischer Hilfe findet sich in den dargestellten Beispielen nicht wieder. Ebenso wird die im Titel angesprochene Fragestellung „Sonderpädagogik auf dem Prüfstand?“ nicht thematisiert. Weder der Beitrag Thümmels noch der Mühls stellen einen Bezug zum Themenfeld Inklusion her.

Sehr interessant ist der Einbezug von Beiträgen, die aus der Perspektive der Kinder- und Jugendpsychiatrie (Andreas Warnke und Regina Taurines) und der Schulpsychologie (Günther Fohrer) auf das Thema Sonderpädagogik und Inklusion schauen. Dabei widersprechen sich die beiden Beiträge in ihrer Einschätzung, ob es einer spezifischer Kategorisierung, etwa im Sinne von „Behindert plus Psychisch gestört“ (263) bedarf. Während Warnke und Taurines die Notwendigkeit einer differenzierten psychiatrischen Diagnostik am Beispiel von Legasthenie betonen, fordert Fohrer die Potentiale der, im Vergleich zur allgemeinen Schulspsychologie wesentlich besser finanziell aufgestellten „Psychologie der geistigen Behinderung“ zu Gunsten einer Psychologie einer inklusiven Schule, die individuell auf die Bedürfnisse aller SchülerInnen eingeht, aufzuwenden. Anschließend erläutert Fohrer Aufgabenfelder einer solchen Schulpsychologie.

Die Festschrift versammelt zusammenfassend betrachtet sowohl inhaltlich als auch qualitativ sehr unterschiedliche Beiträge. Deutlich wird der Einfluss des Entstehungskontextes der Festschrift am Lehrstuhl für Pädagogik bei Geistiger Behinderung, da einige der Beiträge aus dieser Perspektive argumentieren, ohne dies zu reflektieren. Insgesamt liefert die Festschrift eine Reihe von interessanten Zugängen zum Thema „Sonderpädagogik und Inklusion“, enthält allerdings auch einige Beiträge, die große Fragen aufwerfen.

[1] Moser, Vera / Schäfer, Lea / Red, Hubertus (2011): Kompetenzen und Beliefs von Förderschullehrkräften in inklusiven Settings. In: Birgit Lütje-Klose / Marie-Therese Langer / Björn Serke / Melanie Urban (Hrsg.): Inklusion in Bildungsinstitutionen. Eine Herausforderung für die Heil- und Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 143-149.
Julia Gasterstädt (Frankfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Julia Gasterstädt: Rezension von: Breyer, Cornelia / Fohrer, Günther / Goschler, Walter / Heger, Manuela / Kießling, Christina / Ratz, Christoph (Hg.): Sonderpädagogik und Inklusion. Oberhausen: Athena-Verlag 2012. In: EWR 13 (2014), Nr. 2 (Veröffentlicht am 26.03.2014), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978389896483.html