EWR 8 (2009), Nr. 3 (Mai/Juni)

Michaela Schmid
Erziehungsratgeber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – eine vergleichende Analyse
Kontinuität und Diskontinuität im Mutterbild sowie der (früh-)kindlichen Pflege und Erziehung in ausgewählten Erziehungsratgebern der Weimarer Republik und der NS-Zeit
Berlin: Weißensee 2008
(195 S.; ISBN 978-3-89998-123-0; 24,00 EUR)
Erziehungsratgeber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – eine vergleichende Analyse Schmid diskutiert in dieser Arbeit Erziehungsratgeber der 20er und 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts von vier Autoren. Die ausgewählten Ratgeber für die Jahre der Weimarer Republik sind „Seelische Hygiene – lebenstüchtige Kinder“ (Erstausgabe 1930) von Hildegard Hetzer (Psychologin), „Erziehung und Pflege des Kindes in den ersten drei Lebensjahren“ (1925) von Johannes Prüfer (Pädagoge), die Zeit des Nationalsozialismus repräsentieren „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ (1934) sowie „Unsere kleinen Kinder“ (1936) von Johanna Haarer (Ärztin) und „Katholische Familienerziehung“ (1934) von Friedrich Schneider (Pädagoge). Kriterium für die Auswahl gerade dieser Ratgeber war die Käuferklientel: alle Ratgeber wenden sich an Eltern oder sogar speziell an Mütter, jedoch nicht an professionelle Erzieher, alle behandeln Themen aus der Säuglingspflege und dem Kleinkindalter und stellen (mit der Ausnahme von Prüfer) nicht nur Erziehungs-, sondern auch Pflegeregeln auf. Weitere wesentliche Kriterien waren die Auflagenhöhe und der Verbreitungsgrad, denn diese lassen Rückschlüsse auf eine längerfristige Beeinflussung der elterlichen Erziehung zu, da einige der analysierten Ratgeber bis in die 60er Jahre erhältlich waren.

Die Untersuchung wird zunächst in einen geschichtlichen Hintergrund eingebettet. Erziehungsratgeber von der Antike bis zu der zu untersuchenden Zeit werden umfassend dargestellt und auf normative Aussagen über Gehorsam in der Kindererziehung sowie auf die Mutter-Kind-Beziehung, die Mutterrolle, historische Bilder des Säuglings und des Kindes und die Pflege besonders des kleinen Kindes hin skizziert.

Nach dieser Rahmung werden die vier ausgewählten Ratgeber zuerst in den geschichtlichen Kontext der jeweiligen Zeit eingebettet, sodann die Autoren durch eine kurze Biographie und deren Bezug zu seinem bzw. ihrem Buch eingeführt. Anschließend fokussiert die Analyse das dem Buch zu Grunde gelegte Mutterbild, die Pflege des Säuglings und des Kleinkindes, die dargestellten Erziehungsvorstellungen und -ziele; schließlich werden die verschiedenen Änderungen der nachfolgenden Auflagen beschrieben. Hier möchte Schmid zeigen, dass Erziehungsratgeber immer ein Spiegel der jeweils aktuellen Vorstellungen über Erziehung sind. Zusätzlich hat sie in einem Exkurs den wissenschaftlichen Diskurs von Sigrid Chamberlain, Gregor Dill und Bernd Ahrbeck über die von Chamberlain anhand einer Betrachtung der Ratgeber von Haarer konstatierte Bindungslosigkeit zwischen Mutter und Kind kurz zusammengefasst und diskutiert. Das Buch schließt mit der Darstellung der Ergebnisse und einem Ausblick ab.

Bei der Auswahl der Erziehungsratgeber hat Schmid eine gute Entscheidung getroffen: Da sie für jeden Zeitabschnitt jeweils einen Autor und eine Autorin mit einem unterschiedlichen beruflichen Hintergrund wählt, stellt sie sicher, dass Erziehung sowohl aus der weiblichen als auch aus der männlichen Perspektive dargestellt wird. Bei den Autoren aus der NS-Zeit ist es ihr gelungen, eine völkisch orientierte Autorin einem christlich geleiteten Autor gegenüberzustellen. Diese Ausgewogenheit der Geschlechter und der Weltanschauungen ermöglichen erst den mehrschichtigen Vergleich der Ratgeber. Sehr wichtig ist auch die Betrachtung der modifizierten Auflagen der behandelten Erziehungsratgeber. Gerade die Untersuchung von grundlegenden Veränderungen in den Erziehungsvorstellungen durch politische und gesellschaftliche Umbrüche während der Weimarer Republik, der NS-Zeit und nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs lässt eine Analyse dieser Neuerungen in weiteren Auflagen der Bücher zu einem spannenden Thema werden.

Schmid arbeitet in ihrer Darstellung sehr eng am Material, das zwar insgesamt in die historischen Kontexte eingebettet wird, allerdings ohne dass die pädagogischen Aussagen im Kontext der je zeitgenössischen Pädagogik diskutiert werden, die doch zumindest von einigen der Autoren durchaus thematisiert wird. Dabei legt sie zudem einen Schwerpunkt auf die Säuglingspflege und vor allem auf das Stillen des kleinen Kindes; ein Thema, das sie ausführlich im theoretischen Teil darstellt, das sich aber nur in Haarers Buch vertieft wieder findet, in Hetzers und Schneiders Ratgebern nur in Ansätzen und bei Prüfer gar nicht. Somit stellt sich die Frage, warum das Thema ‚Stillen’ in dieser Breite behandelt wird, obwohl es wenig für den Vergleich hergibt, und warum andere Themen, wie z.B. Entwicklungs- und Lernvorgänge oder Wissens- und Handlungsbereiche des kleinen Kindes, die für den Vergleich fruchtbarer gewesen wären, eher unterbelichtet bleiben.

Die angestrebte „vergleichende Analyse“ bleibt schließlich eher implizit, denn die Autorin arbeitet die vergleichenden Betrachtungen gleich in die Darstellungen der einzelnen Ratgeber ein, so dass Darstellung und Analyse einander durchdringen, statt zunächst Einzeldarstellungen und -analysen vorzulegen, die in einem gesonderten Abschnitt dann vergleichend diskutiert werden. Sucht man nach einem abschließenden Gesamtergebnis, so findet man nur ein knappes Fazit. Eine detaillierte Gegenüberstellung der durch beruflichen Hintergrund sowie politische Ideologie beeinflussten und sehr unterschiedlichen Einstellungen und Meinungen der verschiedenen Autorinnen und Autoren gibt es nicht. Schmids Buch erfüllt freilich die Erwartung hinsichtlich der Einbettung in die historischen Kontexte und bietet genügend Material, um Vergleiche anzustellen, insofern kann das Buch als Beitrag zur historischen Aufarbeitung der Ratgeberperspektive auf Säuglingspflege und Kleinkindererziehung dieser Zeit gelten. Zentrales Ergebnis ist die Feststellung, dass alle in die Untersuchung einbezogenen Werke eine gemeinsame Basis in traditionellen Vorstellungen von Kindererziehung hatten, die bei Haarer drastischer ausformuliert, aber doch bei allen ähnlich zu finden sind. Insgesamt ist also eher Kontinuität und Übereinstimmung in den Erziehungsvorstellungen zu finden.
Sabine Jahn (Tübingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sabine Jahn: Rezension von: Schmid, Michaela: Erziehungsratgeber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – eine vergleichende Analyse, Kontinuität und Diskontinuität im Mutterbild sowie der (früh-)kindlichen Pflege und Erziehung in ausgewählten Erziehungsratgebern der Weimarer Republik und der NS-Zeit. Berlin: Weißensee 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 3 (Veröffentlicht am 05.06.2009), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978389998123.html