EWR 14 (2015), Nr. 4 (Juli/August)

Wolfgang Stratenwerth
Ein Lehrer und tausend Schüler
Josef Hamels Dokumentation über den „gegenseitigen Unterricht“ (Paris 1818)
Bergisch-Gladbach: Hobein 2014
(429 S.; ISBN 978-3-9249-8545-5; 39,80 EUR)
Ein Lehrer und tausend Schüler Mit diesem Werk wird eine zentrale Quelle zur Darstellung und Verbreitung des Bell-Lancaster-Systems der Unterrichtsorganisation ediert und eingeordnet. Ein Originaldruck dieses nahezu 200 Jahre alten Buches ist selbst in Bibliotheken nur noch extrem selten verfügbar und erzielt antiquarisch höchste Preise. Der kaiserlich-russische Hofrat und Forscher Josef Hamel (1788–1862) hatte 1818 in deutscher Sprache sein Werk „Der gegenseitige Unterricht. Geschichte seiner Einführung und Ausbreitung durch Dr. A. Bell und J. Lancaster“ [1] publiziert. Die Veröffentlichung von Hamel, der aus einer deutschen Emigrantenfamilie stammt und in der Herrnhuter Brüdergemeinde Sarepta an der Wolga geboren wurde, erschien gleichzeitig in französischer Sprache und kurz darauf auf Russisch. Sie beruht auf langjährigen, akribischen Recherchen in England, Frankreich und anderen europäischen Staaten und wurde in der Absicht geschrieben, außerhalb Englands für die Einführung dieser Unterrichts- und Schulorganisation zu werben. Hamel nähert sich mit einer an naturwissenschaftlich-technischen Analysen geschulten Arbeitsweise seinem pädagogischen Thema und ist zugleich der kaiserlichen Obrigkeit in Russland und dem christlichen Glauben tief verpflichtet.

Aber Stratenwerths großformatige Publikation ist nicht nur wegen dieser Neuherausgabe für die bildungshistorische Forschung sehr verdienstvoll, sondern auch, weil er das Buch von Hamel ausführlich und reichhaltig in Kontexte stellt. Neben einer zusammenfassenden Darstellung des Bell-Lancaster-Systems finden sich im gleichen Band eine Biographie von Josef Hamel, eine Rekonstruktion der russischen Lancasterschulbewegung und eine Beschreibung der Rezeption des gegenseitigen Unterrichts in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Faktenreich und genau entfaltet hier der Herausgeber und Autor die Entwicklung und Diskussion über diesen Ansatz der Unterrichtsorganisation für die schulische Elementarbildung aus der Zeit der Frühindustrialisierung. Wolfgang Stratenwerth ist emeritierter Professor für Berufs- und Wirtschaftspädagogik der Universitäten Aachen und Köln und hat einen ausgeprägten Blick für den Zusammenhang zwischen der Reform des Volksschulwesens im Sinne eines Massenunterrichts für die „arme“ Bevölkerung, der Entwicklung des gewerblich-technischen Unterrichts und ökonomisch-politischen Strategien der Industrialisierung in vielen Ländern der Welt.
Der Terminus „Bell-Lancaster-System“ verweist auf die beiden bekanntesten Propagandisten und Erfinder der auch „monitorial schools“ genannten Unterrichtsorganisation. Sowohl Andrew Bell (1753–1832) als auch Joseph Lancaster (1778–1838) stammen aus England und waren protestantische Geistliche. Anscheinend unabhängig voneinander haben Bell 1785 in der britischen Kolonie Indien (Madras) und Lancaster in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts in London ihre Konzeptvarianten entworfen und erprobt. Dieses Unterrichtsmuster ist national und weltweit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über zwei nicht-staatliche Nonprofit-Organisationen verbreitet worden: Die überkonfessionelle „British and Foreign School Society“ (BFSS) und die eng mit der anglikanischen Kirche verbundene „National Society for Promoting the Education of the Poor“ [2].

Nach Stratenwerth ist für diese quasi-industrielle Unterrichtsordnung die Bezeichnung „gleichzeitiger und wechselseitiger Unterricht“ inhaltlich treffend (16f). Er unterscheidet in der neuzeitlichen Entwicklung von Grundmustern der Unterrichtsorganisation 1.) den individuellen Unterricht, bei dem der Lehrer jeweils die einzelnen Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe nacheinander belehrt und abhört, 2.) den gleichzeitigen Unterricht, bei dem alle Schüler einer Lerngruppe zusammen am Unterricht teilnehmen und mit einem Lehrer interagieren, und 3.) den gleichzeitigen und wechselseitigen Unterricht, wo die Schüler einer Lerngruppe abteilungsweise von Schüler-Monitoren unter der Oberaufsicht eines Lehrers unterrichtet werden. Gerade in dieser Kombination läge der ausschlaggebende Vorteil der Unterrichtsordnung: Zugleich könnten sehr viele Schüler (bis zu tausend) zugleich unterrichtet und alle parallel in Lernaktivitäten eingebunden werden. Die jüngste Forschung zum Bell-Lancaster-System von Marcello Caruso hatte in historisch und international vergleichenden Untersuchungen von Techniken der Unterrichtsordnung die Veränderungen vom kollektiven Einzelunterricht (16-18. Jhd.) über den systematischen Abteilungsunterricht (ab dem 18. Jhd.) zum Unterricht in Jahrgangsklassen (im 19. Jhd.) herausgearbeitet [3]. Im kollektiven Einzelunterricht und im Abteilungsunterricht war immer das Problem ungelöst geblieben, wie das aktive Lernen der im Moment nicht mit dem Lehrer direkt interagierenden Schülerinnen und Schüler gestaltet werden könnte. Caruso erinnert hier zudem an schon längerfristig nachweisbare Praktiken des wechselseitigen Unterrichts zwischen weniger und weiter fortgeschrittenen Schülerinnen und Schülern, auf die das Bell-Lancaster-System aufbauen konnte. Im Unterschied dazu kannte Hamel nur einige Vorläufer der wechselseitigen Unterrichtsorganisation aus dem Ende des 18. Jahrhundert (67–70).

An Hand von Hamels detaillierter Beschreibung der beiden Konzeptvarianten des wechselseitigen Unterrichts kann man die charakteristischen Merkmale dieser Unterrichtsordnung exakt nachvollziehen: Gute Schüler leiten als Monitore den Lernprozess der einzelnen Klassen [4], die sich alle in einem großen Raum befinden; die Klassen sitzen nicht die ganze Zeit in ihren langen Bankreihen, sondern versammeln sich auch zu Gruppenarbeiten in Halbzirkeln am Rand des Schulraumes; nur ein Lehrer beaufsichtigt alle Monitore und Schüler; ständig ist das Auf- oder Absteigen einzelner Schüler zwischen den einzelnen Klassen nach Leistungskriterien möglich; Sanktionen werden in Form von „Beschämungsmarken“ verteilt; der Lehrer dirigiert das Schülerverhalten durch Handzeichen; Lernmaterial für den Lese- und Schreibunterricht sind ganz überwiegend biblische Geschichten und der Katechismus. Man erkennt leicht, dass hier ein Ordnungsmuster des konkurrenzorientierten Massenunterrichts vorliegt, das bei nur sehr wenigen Lehrern die Beaufsichtigung und das Lernen von sehr vielen Schülerinnen und Schülern zugleich ermöglichen soll: Elementarunterricht für sich industrialisierende Gesellschaften in industrieller Form.

Seit dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts erhöht sich rasch die Zahl der Bell-Lancaster-Schulen sowohl in Großbritannien als auch in anderen europäischen Ländern und außereuropäischen Kolonien. Aber bereits um die Mitte des Jahrhunderts setzt sich eine Reduktion der Monitorenfunktion auf ein Hilfslehrersystem für Übungen und Aufsicht durch und der lehrergesteuerte Frontalunterricht wird zur vorherrschenden Unterrichtsform.

In Deutschland kommt es in dieser Zeit zu einer intensiven Diskussion und Rezeption des Bell-Lancaster-Systems. An dem schulpädagogischen Diskurs beteiligen sich zum Beispiel Diesterweg, Dinter, Niemeyer, Pestalozzi, Schwarz und Zerrenner. Unter anderem in Weimar, Sachsen und Schleswig-Holstein werden modifizierte Modelle des wechselseitigen Unterrichts praktisch umgesetzt. Die Rezeption des Bell-Lancaster-Systems im Volksschulwesen steht hier von Anfang an in einem Spannungsverhältnis zur Elementarmethode von Pestalozzi. Ein wesentlicher Einwand richtet sich gegen die Rolle der Schüler-Monitoren, „welche unmöglich die Geisteskräfte und die Selbsttätigkeit der Schüler wecken können, sondern deren ganzes Verdienst sich darauf beschränkt, daß sie ihre eigenen dürftigen Kenntnisse anderen mechanisch einübten“; so lautet eine zeitgenössische Kritik, die Stratenwerth mitteilt (392).

Weder Caruso noch Stratenwerth haben allerdings bisher hinreichend gewürdigt, dass mit dem Konzept der Unterrichtsorganisation nach Bell und Lancaster auch eine didaktische Theorie verbunden ist. So hat der Sekretär der BFSS Henry Dunn zuerst in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts ein Handbuch des Lehrens herausgegeben, das danach in vielen Auflagen verbreitet worden ist [5]. In ihm entwickelt er systematische Begründungen und praktische Handlungsanleitungen für „The Art of Teaching“, die in expliziter Auseinandersetzung mit der deutschen Didaktik entworfen ist. Gegenseitiger Unterricht lässt sich durchaus in Richtung auf „Peer-Learning“ und „Lernen durch Lehren“ gedanklich fortschreiben.

Die Publikation von Stratenwerth führt die bildungshistorische Forschung auf diesem Feld weiter und gibt ihr sicherlich zusätzliche Impulse. Das Buch ist großzügig mit zeitgenössischem Bildmaterial versehen und erschließt reichhaltig neue Quellen und Literatur. Das lässt über einige unwesentliche Fehler im Satz hinwegsehen. Der Herausgeber und Autor internationalisiert den Blick auf die Unterrichtsgestaltung unter den Bedingungen entstehender Industriegesellschaften, der bislang zu sehr von der Betrachtung deutscher Verhältnisse bestimmt war.

[1] Das Buch wurde in Paris im Verlag Firmin Didot veröffentlicht.
[2] Vgl.: Ressler, P.: Nonprofit-Marketing im Schulbereich. Britische Schulgesellschaften und der Erfolg des Bell-Lancaster-Systems der Unterrichtsorganisation im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2010, 15–63.
[3] Caruso, M.: Geist und Mechanik. Unterrichtsordnungen als kulturelle Konstruktionen in Preußen, Dänemark (Schleswig-Holstein) und Spanien 1800–1870. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2010, 51–108.
[4] Hamel schreibt „Classen”. Damit sind nicht wie im heutigen Sprachgebrauch abgeschlossene Lerngruppen gemeint, sondern Unterabteilungen der großen Lerngruppe, die in einem Raum zusammen sitzt.
[5] Dunn, H.: Principles of Teaching or the Normal School Manual. 3. Edition. London: Sunday-School Union, 1839.
Hans-Joachim von Olberg (Münster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Hans-Joachim von Olberg: Rezension von: Stratenwerth, Wolfgang: Ein Lehrer und tausend Schüler, Josef Hamels Dokumentation über den „gegenseitigen Unterricht“ (Paris 1818). Bergisch-Gladbach: Hobein 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 4 (Veröffentlicht am 07.08.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978392498545.html