EWR 9 (2010), Nr. 3 (Mai/Juni)

Matthias Schwerendt
„Trau keinem Fuchs auf grüner Heid, und keinem Jud bei seinem Eid“
Antisemitismus in nationalsozialistischen Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien
Berlin: Metropol 2009
(392 S.; ISBN 978-3-940938-24-4; 24,00 EUR)
„Trau keinem Fuchs auf grüner Heid, und keinem Jud bei seinem Eid“ In seiner Dissertation verfolgt Matthias Schwerendt die Frage, in welchem Umfang und in welcher Form die antisemitische Propaganda der Nationalsozialisten Eingang in die Schulbücher gefunden hat (vgl. 7, 334). Den übergreifenden Rahmen seiner Untersuchung bildet dabei die Erforschung der Rezeption antisemitischen Denkens in den Natur- und Geisteswissenschaften, insbesondere der „Konfrontation der Pädagogik mit einem naturwissenschaftlichen Rassenparadigma“ und den damit verbundenen rassenhygienischen bzw. rassenpolitischen Diskursen (9).

In der Einleitung macht Schwerendt deutlich, dass die Bearbeitung der Fragestellung nur unter Berücksichtigung verschiedener Kontextbereiche der zu untersuchenden Schulbücher möglich ist. Er verweist hierbei auf die „Ideengeschichte des rassistischen (völkischen) Antisemitismus in Deutschland und seiner Trägergruppen“ (8) und den Prozess der bildungspolitisch gesteuerten sowie ideologisch beeinflussten pädagogischen Bearbeitung des Wissens in den Schulbüchern (vgl. 8f.). Zurückgreifen kann Schwerendt in diesem Zusammenhang auf die Ergebnisse eines DFG-Forschungsprojekts zur „Rassenhygiene als Erziehungsideologie des ‚Dritten Reiches‘“, an dem er beteiligt war [1]. Von den dort für den Zeitraum von 1933 bis 1945 erfassten 2052 rassenhygienisch-pädagogischen Schriften sind allein 651 dem didaktischen Bereich zuzuordnen, der in der Kategorisierung des Projektes Schulbücher und didaktische Materialien (246, 12,0%) sowie Publikationen zur Methodik und Didaktik (405, 19,7%) umfasst. Mit einem Anteil von 31,7% ist dies der Bereich mit den meisten Veröffentlichungen, wodurch deutlich wird, dass der Vermittlung rassenhygienischen Wissens eine wichtige Rolle beigemessen wurde [2]. Allerdings liegen bisher nur wenige systematische Untersuchungen zu antisemitischen Inhalten in Schulbüchern bzw. didaktisch-methodischen Materialien vor, bei denen zudem der gesellschaftliche Kontext antisemitischer und rassistischer Textteile weitgehend unberücksichtigt bleibt (vgl. 23-41).

Den Ausgangspunkt der Analyse bildet die These, dass die Pädagogik von den Nationalsozialisten „für den Aufbau ihrer rassenpolitischen Praxen“ als „Schlüsseldisziplin“ verstanden worden sei und gewissermaßen auch als ein „Reflektor“ rassenwissenschaftlicher Erkenntnisse gegolten habe (9). Insofern wäre „der in den Schulen der NS-Zeit grassierende Antisemitismus keineswegs nur [als] Ausdruck einer abstrusen Weltanschauung führender NS-Ideologen wie Hitler, Rosenberg oder Goebbels“ anzusehen, sondern vor allem als „ein Kernelement einer nationalsozialistischen Rassenpädagogik [...], die sich selbst als wissenschaftlich definierte“ (13).

Um das in den Schulbüchern zu untersuchende Phänomen in seiner Vielschichtigkeit erfassen und den pädagogisch-didaktischen Transformationsprozess des Wissens nachvollziehen zu können, nähert sich Schwerendt seiner Fragestellung in vier methodischen Teilschritten. Zuerst gibt er einen Überblick zur „kulturellen und politischen Bedeutung“ des antisemitischen Diskurses in der deutschen Gesellschaft im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts und verortet den Antisemitismus im Spannungsfeld von Rassismus und Nationalismus. Auf der Grundlage dieser mentalitätsgeschichtlichen Überlegungen wird in einem zweiten Schritt der antisemitische Referenzdiskurs rekonstruiert, auf den sich die Schulbücher beziehen. Um den antisemitischen Schulbuchdiskurs hinsichtlich seiner Häufigkeit und Intensität differenzieren zu können, erfolgt drittens die Quantifizierung und Typologisierung der antisemitischen Ideologeme in den Schulbüchern. Die Diskursregeln und Argumentationszusammenhänge werden dann viertens in Semantikanalysen anhand ausgewählter Fallbeispiele verdeutlicht.

Zur Korpusbildung: Für die Analyse wurden 132 Veröffentlichungen herangezogen. Schwerendt verfolgt mit der Auswahl das Ziel, ein repräsentatives Korpus zusammenzustellen, in dem alle in Frage kommenden Unterrichtsfächer enthalten sind (vgl. 104). Im Einzelnen handelt es sich um 50 Publikationen aus dem Fach Biologie (37,9%), 45 aus dem Fach Geschichte (34,1%), 9 entfallen auf das Fach Deutsch (6,8%), 12 auf das Fach Religion (9,1%) und 16 auf fächerübergreifende Veröffentlichungen (12,1%) (108). Damit ergibt sich ein zahlenmäßiges Übergewicht der Fächer Geschichte und Biologie. Innerhalb der Fächergruppen sind in unterschiedlichen Anteilen Schulbücher, Schülerhefte sowie Lehrerhandbücher für verschiedene Schulformen enthalten. Außerdem wurden noch 11 didaktische Aufsätze hinzugezogen, einerseits, weil in den Fächern Deutsch und Religion sehr wenig Schulbücher zu finden waren, „die zu einer nennenswerten Analyse hinsichtlich antisemitischer Typologien herausgefordert haben“ (109), und andererseits sollten einige Aufsätze wegen ihrer „paradigmatischen Bedeutung“ für die nationalsozialistische Schulbuchproduktion berücksichtigt werden (ebd.). Ausgewählt wurden die Schulbücher im Hinblick auf die Verfügbarkeit für die Untersuchung und die „strukturierte Einbindung antisemitischer Passagen in das Gesamtkonzept des Lehrbuchs“ (107).
Eine wichtige Voraussetzung für die Untersuchung der antisemitischen Diskurse in den Schulbüchern stellt die Rekonstruktion der Referenzdiskurse dar. Erst auf dieser Basis wird es möglich nachzuvollziehen, welche antisemitischen Rassenkonzepte vor allem Eingang in die Schulbücher gefunden haben. Die Autoren, auf die in den Schulbüchern Bezug genommen wird, werden in sechs Gruppen unterteilt („Theoretiker“, „Politiker“, „völkische Autoren“, „Philosophen/Schriftsteller“, „Didaktiker“ und „zeitgenössisch radikal antisemitische Autoren“) (112) – allerdings ist diese Klassifizierung nicht unbedingt „trennscharf“. Insgesamt erweist sich jedoch die Ermittlung der Referenzautoren für die Antwort auf die Frage nach den Quellen des Diskurses als sehr aufschlussreich. Angesichts der stark differierenden Anzahl an berücksichtigten Publikationen für die einzelnen Fächergruppen können die Ergebnisse der Quantifizierung aber nur als grobe Trends aufgefasst werden.

Mit der sich anschließenden Systematisierung von vier „Diskurstraditionen“ (a) „Rassenpsychologie“ oder „Rassenseelenkunde“, b) „geistesgeschichtlich fundierte Rassensoziologie“, c) „biologistische Argumentationen“ unter der „Autorität naturwissenschaftlichen Scheins“ und d) „historisch-theologischer Diskurs“ („christlicher Judenhass und ‚arischer‘ Mythos“) schafft Schwerendt die Voraussetzung für die folgende empirische Rekonstruktion antisemitischer Deutungsmuster in den Schulbüchern (193). Dazu bildet er auf der Grundlage von 4007 antisemitischen Aussagen 284 Kategorien, die er wiederum zu neun thematischen Gruppen („Typologien“) mit diversen Untergliederungen zusammenfasst (vgl. 200). Diese thematischen Gruppen reichen u.a. von den „körperlichen Eigenschaften, die Juden zugeschrieben wurden“ über „Verschwörungsideologien (z.B. jüdisches Weltherrschaftsstreben, Unterwerfung oder Vernichtung Deutschlands durch das Judentum)“ bis hin zu „Antisemitismus im Kontext des Ausschlusses anderer Gruppen“ (202). Auf der Grundlage der Typologisierung werden die Aussagen dann quantifiziert und die Ergebnisse in Tabellen dargestellt.

Nach der gesonderten Betrachtung der fachübergreifenden Lehrbücher und deren methodisch-didaktischem Aufbau kommt Schwerendt zum letzten methodischen Schritt seiner Untersuchung. Im Anschluss an die methodische Vorgehensweise, die Klaus Holz in seiner Studie zum „Nationalen Antisemitismus“ (2001) entwickelt hat, führt er exemplarisch an drei ausgewählten Texten Semantikanalysen zum Antisemitismus in nationalsozialistischen Schulbüchern durch. Über die Quantifizierung der antisemitischen Deutungsmuster hinaus sollen so „Sinnstrukturen“, verstanden als „selektive Abfolge regelgeleiteter und sequenziell aneinander anschließender (kommunikativer) Handlungen“, herausgearbeitet werden (263).

Schwerendt kann in seiner Studie durch die differenzierte Kategorisierung der einzelnen antisemitischen Deutungsmuster und das Aufzeigen ihrer thematischen Verwobenheit in den Lehrmitteln die Strategie der nationalsozialistischen Indoktrination detailliert verdeutlichen. Zugleich wird es möglich, den Transformationsprozess des gesellschaftlichen Wissens in Schulbuchwissen nachzuvollziehen. Am Beispiel des argumentativen Musters einer „Täter-Opfer-Umkehr“ lässt sich u.a. zeigen, wie über eine didaktisch inszenierte Indoktrination versucht wurde, durch verbale Aggressionen das später erwartete Handeln der Heranwachsenden im Sinne der NS-Ideologie vorzubereiten (vgl. 329).

Aufgrund dessen, dass in dem Untersuchungskorpus unterschiedliche Fächergruppen und Textsorten (Schulbuch, Lehrerhandbuch, didaktischer Aufsatz) zusammengefasst wurden, ergibt sich für die vorliegende Studie allerdings ein methodisches Dilemma insofern, als es auf der einen Seite zwar möglich wird, die Rezeption antisemitischen Denkens in verschiedenen Fächergruppen zu vergleichen, aber andererseits die zu berücksichtigenden Kontextbereiche – z. B. die unterschiedlichen fachdidaktischen Zugänge – stark ausgeweitet werden. Bei der Auswertung müssten diese indes stärkere Berücksichtigung finden, was jedoch im Rahmen dieser Untersuchung nur schwer zu leisten ist [3].

Abschließend sollen noch zwei Rückfragen an Vorannahmen der Studie gestellt werden. Die erste bezieht sich auf die Angemessenheit der Spiegelmetapher zur Beschreibung des Verhältnisses von Schulbuch und Alltagsbewusstsein bzw. von Schulbuch und Gesellschaft (vgl. 12, 326). Hier hat die vorliegende Untersuchung gezeigt, dass soziokulturelles Wissen nur stark modifiziert Eingang in das Schulbuch findet und mit dem epistemologischen Transformationsprozess immer auch ein Ausschluss von Wissensformen verbunden ist (vgl. 103f.). Insofern wird im Schulbuch gesellschaftliches Wissen immer pädagogisch-didaktisch verarbeitet aufgenommen, so dass sich dort Diskurse nicht direkt widerspiegeln, sondern fortgeführt werden. Die zweite, sicherlich methodisch nur schwer zu bearbeitende Frage, richtet sich an die „Vermutung“ der „‚erfolgreichen‘ Rezeption antisemitischer und rassenhygienischer Paradigmen einzelner Unterrichtsfächer“ (13), die einer genauen Begründung bedarf. Auch in totalitären Systemen kann nicht von einer direkten Wirkung des Schulbuches auf den Aneignungsprozess ausgegangen werden. Hier sind weitere Studien zu Bedingungen und Voraussetzungen von Aneignungsprozessen im Rahmen indoktrinierender Vermittlungsprozesse notwendig.

Gleichwohl hat Schwerendt mit seiner Studie ein grundlegendes Desiderat der Antisemitismusforschung bearbeitet und zugleich einen Beitrag zur Geschichte der Pädagogik im Nationalsozialismus geleistet. In seinen Analysen wird deutlich, dass die Schulbuchtexte als ein „Baustein derjenigen gesellschaftlichen Diskurse anzusehen [sind], die dazu beitrugen, die mörderische Verfolgungspraxis zu konzeptionalisieren und umzusetzen“ (333).

[1] Vgl. Harten, Hans Christian / Neirich, Uwe / Schwerendt, Matthias (2006): Rassenhygiene als Erziehungsideologie des „Dritten Reiches“. Bio-bibliographisches Handbuch, Berlin.

[2] Ebd., 66.

[3] Vgl. u. a. die Ergebnisse zur Erforschung des Lektürekanons in der Literaturdidaktik: Lauf-Immesberger, Karin (1987): Literatur, Schule und Nationalsozialismus. Zum Lektürekanon der höheren Schule im Dritten Reich. St. Ingbert; Behr, Klaus (1980): Gymnasialer Deutschunterricht in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Eine empirische Untersuchung unter ideologiekritischem Aspekt. Weinheim, Basel. Zur Kritik vgl. Jakob, Hans-Joachim (2009): Vom natürlichen Widerstand des historischen Textes gegen seine empirische Auswertung. Quellenkritische Skizze zur historisch-empirischen Schulkanonforschung an einer Reihe von Beispielen. In: Dawidowski, Christian / Korte, Hermann (Hrsg.): Literaturdidaktik empirisch. Aktuelle und historische Aspekte. Frankfurt a. M. u.a., 169–190.
Carsten Heinze (Augsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Carsten Heinze: Rezension von: Schwerendt, Matthias: „Trau keinem Fuchs auf grüner Heid, und keinem Jud bei seinem Eid“, Antisemitismus in nationalsozialistischen Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien. Berlin: Metropol 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2010), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978394093824.html