EWR 15 (2016), Nr. 2 (März/April)

Thomas Alkemeyer / Herbert Kalthoff / Markus Rieger-Ladich (Hrsg.)
Bildungspraxis
Körper – Räume – Objekte
Weilerswist: VelbrĂĽck Wissenschaft 2015
(344 S.; ISBN 978-3-95832-067-3; 29,90 EUR)
Bildungspraxis Der von Thomas Alkemeyer, Herbert Kalthoff und Markus Rieger-Ladich herausgegebene Sammelband legt Beiträge zur Bildungspraxis mit einem Fokus auf Schule vor, die auf „eine neu justierende Bildungsforschung“ abzielen und dabei „ganz gezielt die Praxis der Bildung“ (12) ins Zentrum rücken.

Was unter „Praxis der Bildung“ gefasst wird, erläutern die Herausgeber in einem einleitenden, theoretisch gehaltenen Beitrag, der auch die systematische Anordnung der Artikel um die im Titel explizierten Dimensionen von Bildungspraxis, nämlich Körper, Räume und Objekte erläutert. Dabei führen die Herausgeber aus, dass „Bildung über einen langen Zeitraum hinweg als ein weitgehend kontextfreies, rein geistiges Geschehen eines körperlosen und eigentümlich weltlosen Subjekts vorgestellt“ wurde (9), was sicherlich eine zentrale Problematik bei der Vermittlung von humanistisch geprägtem Bildungsdenken und einer z.B. strukturalistischen, etwa an Bourdieu orientierten Bildungsforschung darstellt (12). Auch diese Rahmung der Bildungsforschung erfährt im vorgestellten Unternehmen, wie ebenfalls z.B. die Machtanalytik im Gefolge Foucaults (15), eine substanzielle Erweiterung, wenn kritisiert wird, es seien bei diesen Konzeptionen von Bildungsforschung „nicht Individuen, die Praktiken vollziehen, sondern Praktiken, die als eigenständige Entitäten ihre Vollzieher/innen selektieren und „rekrutieren““. (18). Dem gegenüber sind die Beiträge des Bandes von der Prämisse geleitet, dass Individuen „zwar von Praktiken „gepackt“ werden; aber [...] in der Teilnahme eben auch dazu befähigt [sind], Routinen situationsadäquat zu variieren, sich im Handeln und Denken zu orientieren und zu korrigieren [...]“ (18). Eine derartige Praxeologie lässt entsprechend die in der cartesianischen Bildungstradition entleiblichte Trennung von Körper und Geist wie auch die materialistischen Engführungen vermeintlich „verhängter“ Prozesse im gesellschaftlichen Geschehen hinter sich, was sich an den drei Dimensionierungen des Buches konzeptionell verdeutlicht: Die Dimension Körper rückt die „Befähigung zum „Mitspielen““ in den Blick, wobei es sich „um kein rein geistiges Vermögen handelt, sondern auch um ein verkörpertes Können“(18). Die Dimension Räume bricht die cartesianisch imprägnierte Behältervorstellung von Räumlichkeit auf und spricht von der „Gestimmtheit von Räumen“ (21). Die Dimension Objekte fokussiert (u.a. im Gefolge Heideggers) auf Verweisungszusammenhänge, in denen sich Dinge in actu erschließen (23). Als Artefakte adressieren letztere entsprechend in schulischen Interaktionsprozessen diejenigen auf mannigfaltige Weise, die mit ihnen Umgang haben (24).

Vier Beiträge von Bernd Bröskamp, Jürgen Streeck, Larissa Schindler und Robert Schmidt gruppieren sich um die Dimension Körper. Schmidts Beitrag „Hidden Curriculum Revisited“ zielt dabei auf einen Klassiker zur Analyse verborgener Wirkungen der Schule ab und überwindet die von „Konflikttheorie“ (112) und „der funktionalistischen Soziologie der Schule“ (112) geprägte Lesart desselben dadurch, dass er das hidden curriculum aus „praxeologische[r] Analyseperspektive“ (119) beleuchtet: „Soziale Normen, Werte und Sinngehalte haben in der Schule demzufolge weniger den Status einer verborgenen Agenda“ (121), sondern werden „auch als stumme körperliche Manifestationen öffentlich formuliert“. Schmidt exemplifiziert dies an der schulethnographischen Arbeit Paul Willis’ an der er zeigt, inwiefern Schüler/-innen mehr „als kompetente Teilnehmer“ denn als „Betrogene“ bei der Inszenierung des hidden curriculum gesehen werden können (125).

Um die Dimension Räume gruppieren sich Beiträge von Bernd Hackl, Georg Breidenstein / Sabine Dorow, Estrid Sørensen und Kathrin Berdelmann / Sabine Reh. In diesen Studien wird auf vielfältige Weise auf die räumliche Dimension sozialer Praktiken im Kontext Schule fokussiert, beispielsweise durch den von Kathrin Berdelmann und Sabine Reh vorgelegten fotoethnographischen Beitrag, der unterschiedliche Formen der Raumaneignung von Schüler/-innen in den Blick nimmt. Auch Georg Breidensteins und Sabine Dorows wiederum ethnographisch ausgerichtete Studie „Arbeitsplätze – Beobachtungen und Analysen aus dem individualisierten Unterricht“ erscheint aufschlussreich, weil sie nahelegt, dass „Praktiken der Vergabe, der Gestattung oder der Verweigerung bestimmter Arbeitsplätze [...] neben der Zuweisung von zu bearbeitenden Aufgaben sogar die entscheidende Ressource der Steuerung des dezentrierten Unterrichts“ sind (179).

Objekte stellen die zentrierende Kategorie für die Beiträge von Tobias Röhl, Jutta Wiesemann / Jochen Lange, Christian Greiffenhagen und Marei Fetzer dar, von denen die beiden letztgenannten Beiträge den Mathematikunterricht beleuchten, die ersten beiden Beiträge hingegen nehmen allgemein Objekte des Unterrichts in bildungspraktischer Absicht in den Blick. Tobias Röhl legt dabei mit seinem Beitrag „Auffordern. Postphänomenologische Überlegungen zur Materialität schulischen Unterrichts“ eine konzise theoretische Rahmung und Darstellung ethnomethodologischer Unterrichtsforschung vor, in der bei „Mensch-Technik-Beziehungen“ (240) mit Don Ihde zwischen Vermittlungsbeziehungen, Alteritätsbeziehungen und Hintergrundbeziehungen unterschieden wird (241). Mit diesen Differenzkategorien der Unterschiedlichkeit von Objektbeziehungen gelingt es Röhl, die Tafel als „Zeichenträger und operative Fläche“ (244) vom „materielle[n] Arrangement von Demonstrationsobjekten“ (254) im Unterrichtsgeschehen abzuheben.

Insgesamt fällt bei den Beiträgen des Bandes ins Auge, dass es sich um eine solche Art von Forschung schulischer Bildungsprozesse handelt, bei der sich „der zu untersuchende Objektbereich [...] selbst als theoriehaltig erweist“ (16). In diesem Theorie-Praxis-Verständnis zeigt sich zugleich die Stärke wie die Schwäche der vorgestellten Neujustierung von Bildungsforschung: Sie überwindet auf der einen Seite die vermeintliche Unüberbrückbarkeit von humanistischer Bildungstheorie und empirischer Forschung, das ist ihre Stärke. Sie führt auf der anderen Seite jedoch dazu, dass die Abständigkeit von tranzendentaler Imprägniertheit des Bildungsbegriffs und empirischer Beobachtung unterlaufen wird und damit z.B. dass die Materialität relativierende Moment des Denkens dort zu entgleiten droht, wo die eigene Dignität von Bildungstheorie gegenüber der Praxis aufgehoben erscheint. Gleichzeitig erfährt die praxeologische, den mathematisierenden Zugriff auf die res extensa im cartesianischen Denken unterlaufende Neuausrichtung der Bildungsforschung weniger Irritation als vielmehr Bestätigung durch die Materialität der Empirie: In dem Maße, in dem sich Letztere selbst als theoriegeladen präsentiert, lässt sich Theoretisches auch nicht mehr falsifizieren. In diesen Problemstellungen dürfte der blinde Fleck der vorgenommenen Neujustierung liegen. Diese Einwände relativieren sich jedoch insofern, als der Band die Neuausrichtung von Bildungsforschung als Ergänzung versteht (12), die in der Tat mögliche Unzulänglichkeiten theoretischer Abstraktionen wie auch empirischer Determinationen im Rahmen der dargebotenen praxeologischen Vermittlungen in die Sicht zu rücken vermag und darüber hinaus erweiternde Blickwinkel auf schulische Bildungsprozesse eröffnet.
Martin Harant (TĂĽbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Martin Harant: Rezension von: Alkemeyer, Thomas / Kalthoff, Herbert / Rieger-Ladich, Markus (Hg.): Bildungspraxis, Körper – Räume – Objekte. Weilerswist: VelbrĂĽck Wissenschaft 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 2 (Veröffentlicht am 24.03.2016), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978395832067.html