EWR 20 (2021), Nr. 3 (Mai/Juni)

Matthias Spaniel / Dorothee Wieser (Hrsg.)
Haltung(en)
Perspektiven auf die Selbst-Positionierung der Theatervermittlung
MĂŒnchen: kopaed 2021
(235 S.; ISBN 978-3-96848-027-5; 13,99 EUR)
Haltung(en) Der Begriff „Haltung“ macht aktuell vor keinem geisteswissenschaftlichen Forschungsgebiet mehr Halt. Insbesondere die Bildungswissenschaft hat die Relevanz einer intensiveren, tiefergehenden BeschĂ€ftigung mit „Haltungsfragen“ erkannt, Diskurse um das pĂ€dagogische Ethos sind mehr als nur en vogue. Die Neuerscheinung „Haltung(en). Perspektiven auf die Selbst-Positionierung der Theatervermittlung“, herausgegeben von Matthias Spaniel und Dorothee Wieser, trifft daher den Puls der Zeit und erweitert zugleich den Blick auf dieses spannende Themenfeld mit ihrer spezifischen Perspektive. Dabei zeigt sich der Winkel dieses theaterpĂ€dagogischen Objektivs mit einer erstaunlich-erfreulichen Brennweite: Nach einer anfĂ€nglichen Auslotung und Ausdifferenzierung des Begriffes im Kontext theaterpĂ€dagogischer Überlegungen wird Haltung als Mittel zur (Selbst-)Positionierung der Theatervermittlung im Spannungsfeld zwischen kultureller, gesellschaftlicher und Ă€sthetischer Verantwortung in den Blick genommen, um abschließend auf die nicht unpolitische Frage nach dem Einflussvermögen institutioneller Rahmungen in der Theatervermittlung auf all ihre Akteur*innen einzugehen.

Der 236 Seiten umfassende Sammelband, zusammengesetzt aus vierzehn BeitrĂ€gen, die sich auf drei Kapitel plus EinfĂŒhrung verteilen, ist das Resultat einer dreitĂ€gigen, im Programm abwechslungsreichen Tagung im September 2019 an der TU Dresden im Zuge der StĂ€ndigen Konferenz Spiel & Theater, an derer sich die Teilnehmenden nicht nur an VortrĂ€gen und PrĂ€sentationen renommierter Wissenschaftler*innen, sondern auch an zahlreichen Workshops, einer Podiumsdiskussion sowie einer innovativ inszenierten Neuinterpretation Kafkas „Verwandlung“ erfreuen durften.

ZurĂŒck zum Werk und gleich vorweg: Die QualitĂ€t des Drucks wird durch das ansprechende Design mit einem Titelbild, welches einen Mann und dessen Skelett einmal in aufrechter und einmal in gebĂŒckter (Körper-)Haltung zeigt, kompensiert. Der Verweis auf dieses PortrĂ€t ist insofern interessant, als bereits ein flĂŒchtiger Blick ins Inhaltsverzeichnis verrĂ€t, dass die AufsĂ€tze des Sammelbandes weit ĂŒber dieses dichotome Bild einer „richtigen“ und „falschen“ oder auch einer „inneren“ und „Àußeren“ Haltung hinausgehen und der Intention des Buches, sĂ€mtliche Dimensionen und sĂ€mtliche Bedeutungs- und Einflussebenen von Haltung in der theaterpĂ€dagogischen Welt kritisch zu durchleuchten, gerecht werden.

„Haltung kommt aufs Tapet, wo Haltung fehlt.“ (9) Bereits mit diesem ersten Satz des ersten Zitats ihrer EinfĂŒhrung untermauern die beiden Herausgeber*innen die Virulenz der Thematik und gehen dabei kurz auf die Berliner ErklĂ€rung der Vielen von 2018 ein, die sich offen und in klarer Haltung gegen „Versuche der Rechtsnationalen [
], Kulturveranstaltungen fĂŒr ihre Zwecke zu instrumentalisieren“ [1], positioniert. Schnell wird jedoch klar, dass sich dieser Grundtonus nicht als roter Faden durch den Sammelband zieht, vielmehr treten die Herausgeber*innen mit „Skepsis gegenĂŒber einem damit verbundenen Haltungsbegriff, der auf Fixierung und ‚feste[] Habe‘ drĂ€ngt“ (9), auf und verweisen dabei sogleich auf AusfĂŒhrungen von Ute Pinkert, der Autorin des dritten Beitrages, deren entschiedene Antwort auf die Vorstellung einheitlicher Werte, die notgedrungen mit einer zumindest Ă€hnlichen Haltung (im Sinne von Einstellung) einhergeht, wie folgt lautet: „Ich halte eine programmatische Festlegung auf bestimmte Werte [
] nicht fĂŒr den erfolgreichsten Weg in eine politisch progressive (neue) paradigmatische Ausrichtung kulturpĂ€dagogischer Praxis“ (44). So viel also zur unpolitischen politischen Grundhaltung der Publikation, was jedoch nicht heißen mag, dass sich die Autor*innen in allen Belangen klarer Ansagen entziehen, im Gegenteil: Ingo Schellers nachtrĂ€glich und erstmals gedruckte Reflexion zu einer theaterpĂ€dagogischen Tagung 2010 in Lingen beispielsweise besticht mit pointierten Kommentaren zu ebendieser, informativen AusfĂŒhrungen zu BourdieuÂŽschem Habitus und Hans Martin Ritters Gestus sowie umfangreich beschriebenen pragmatisch-bodenstĂ€ndigen, erfahrungsbasierten Haltungsdimensionen, die sich mit ihrer Fundierung auf Brechts LehrstĂŒcktheorie gegen Vorurteile der BanalitĂ€t zu wappnen verstehen. Zu betonen gilt, dass Schellers Beitrag sowohl auf „Entstehungs- und WirkungszusammenhĂ€nge“ (15) als auch auf praxistheoretische Facetten des Haltungsbegriffes eingeht.

WĂ€hrend die Autor*innen der EinfĂŒhrung sowie des ersten Kapitels also unter anderem die unterschiedlichen ZugĂ€nge und Begriffsbestimmungen von Haltung(en) aus der Sicht ihrer wissenschaftlichen Disziplin in den Fokus ihrer Ausarbeitungen stellen, bemĂŒhen sich die Schreiber*innen der fĂŒnf nachfolgenden AufsĂ€tze um die komplexe Aufgabe der Beschreibung einer „Haltung als (Selbst)Positionierung in kĂŒnstlerischen Prozessen“, so die vielversprechende Überschrift des zweiten Kapitels. Hier sei sogleich bemerkt, dass dieser Teil des Sammelbandes nicht nur fĂŒr Interessierte des Theaterbetriebes, sondern auch fĂŒr allgemeine, „Nicht-Schauspiel-PĂ€dagog*innen“ von großem Wert sein kann. In Tobias Rauschs Beitrag „Der Pförtner – ein Werkstattbericht“ erfĂ€hrt der*die Leser*in zum Beispiel von der Möglichkeit „des biographischen ErzĂ€hlens [
] als Weg der Erkenntnis ĂŒber sich selbst, die eine Haltung möglich macht“ (84). So sei es lohnenswert, sich auf einen Lernprozess einzulassen, der daraus besteht, seine Standpunkte auf Basis laufend gemachter Erfahrungen immer wieder neu zu justieren und daran zu reifen. Dass dafĂŒr ein ausreichendes Maß an sensibler WahrnehmungsfĂ€higkeit vonnöten ist, ergibt sich zwar von selbst, jedoch lĂ€dt bereits der darauffolgende Aufsatz von Denise und Tessa Temme unter anderem dazu ein, sich mit verschiedenen Facetten des PhĂ€nomens Wahrnehmung – hier als Begleiterin oder Konstituente von (improvisierter) Bewegung – auseinanderzusetzen. Lehrer*innen, die in ihrem Berufsalltag hĂ€ufig mit sich „un I art I ich“ – so der Titel des Aufsatzes – zeigenden Kindern und Jugendlichen zu kĂ€mpfen haben, finden vermutlich insbesondere in Tom Klimants Beitrag einen Vorschlag zu einer interessanten, alternativ gedachten Sichtweise auf diese kritischen jungen Geister. Mit der Figur der Lucile aus Georg BĂŒchners Dantons Tod portrĂ€tiert der Autor eine junge Frau, die eben aufgrund ihrer widerspenstigen Ansichten und Taten Symbolfigur einer kritischen Haltung wird, die den Dingen ihren Blick zuwendet und sich dabei selbst nicht ausspart (vgl. 121). Bestrebungen hingegen zur Vorstellung einer gemeinsam produktiven, aktiven Grundhaltung, wie sie auch in einem Klassenverband wĂŒnschenswert ist, finden die Leser*innen in Alina Gregors Aufsatz „Dissonante Haltungen als kĂŒnstlerisch-bewegtes Moment“, in dem sie fĂŒr ein „einfach mal tun“ plĂ€diert, um die Möglichkeit einer gemeinsamen Grundhaltung trotz „DiversitĂ€t und Vielfalt in der Zusammenstellung und Konstellation des jungen Ensembles“ (137) mithilfe von Körper und Bewegung vorzustellen. Interessant sind auch ihre weiteren AusfĂŒhrungen, die die Erkenntnis bringen, dass ein kĂŒnstlerisches Arbeiten mit Jugendlichen den NĂ€hrboden fĂŒr ein spielerisches Einander-Begegnen auf Augenhöhe schaffen kann. Ebenso wertvolle Gedanken fĂŒr die schulische Praxis finden PĂ€dagog*innen in Christoph Scheurles Aufsatz „Gegen:Haltung!“, der die Entwicklung der Lehrenden selbst in den Blick nimmt und sie mit seinen AusfĂŒhrungen zu Theaterprojekten Studierender des Lehrgangs „Soziale Arbeit“ zu einem „Perspektivenwechsel zwischen Anleitungsposition und Angeleitet-Werden“ (149) motiviert.

Jene inhaltliche Dichte, die die Leser*innen bereits in den ersten beiden Kapiteln in den Bann zieht, wird auch von den Autor*innen des dritten und letzten Teils geboten: Sei es das PortrĂ€t einer verĂ€nderten Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden, basierend auf mehr SelbstĂ€ndigkeit und Selbstevaluation durch letztere, bei Johannes Kupp, das PlĂ€doyer fĂŒr ein Sich-Erproben zur AusprĂ€gung einer eigenstĂ€ndigen Haltung bei Miriam Baghai-Thordsen oder die spannende NacherzĂ€hlung erlebter Fremdheitserfahrungen einer der drei Autor*innen des letzten Aufsatzes, die sie wĂ€hrend eines Seminars als Lehrveranstaltungsleiterin machten durfte.
Dass im Rahmen dieser Rezension speziell auf die Relevanz des Sammelbandes fĂŒr allgemein- und schulpĂ€dagogische Belange hingewiesen wird, mag nicht heißen, dass die besprochene Publikation ihre eigentliche Intention verfehlt hat, im Gegenteil: Es soll aufgezeigt werden, dass die Autor*innen es geschafft haben, mit ihren ursprĂŒnglich theaterpĂ€dagogischen Diskursen Interessent*innen auch außerhalb ihres Kernklientels anzusprechen, und sich ihre AnsĂ€tze auf mehr als nur ihr eigenes TĂ€tigkeitsfeld der Theatervermittlung projizieren lassen.

[1] DIE VIELEN (2018). Berliner ErklÀrung der Vielen. Kunst schafft einen Raum zur VerÀnderung der Welt. https://www.dievielen.de/erklaerungen/berlin [Zugriff: 27.4.21]
Vincent Schatz (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Vincent Schatz: Rezension von: Spaniel, Matthias / Wieser, Dorothee (Hg.): Haltung(en), Perspektiven auf die Selbst-Positionierung der Theatervermittlung. MĂŒnchen: kopaed 2021. In: EWR 20 (2021), Nr. 3 (Veröffentlicht am 07.07.2021), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978396848027.html