EWR 16 (2017), Nr. 5 (September/Oktober)

Anna Laros / Thomas Fuhr / Edward W. Taylor (Hrsg.)
Transformative Learning meets Bildung
An International Exchange
Rotterdam: Sense Publishers 2017
(416 Seiten; ISBN 978-9-463-00795-5; 54,00 USD)
Transformative Learning meets Bildung Seit der Veröffentlichung von Hans-Christoph Kollers „Bildung anders denken: Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse“ (2012) wird diese Position im deutschen bildungstheoretischen Diskurs heftig diskutiert [1]. Dass der gebildete Mensch einige dramatische Veränderungen, Wandlungen, Umkehrungen und Transformationen durchleben muss, ist im bildungstheoretischen Kontext jedoch keine neue Idee. Bereits bei Winfried Marotzkis einflussreichem „Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie“ wird Bildung als „eine Transformation von Welt- und Selbstreferenz“ dargestellt, in welcher neuartige Verarbeitungsmuster von Problemlagen entstehen [2]. Koller selbst beruft sich auf die sprach- und bildungswissenschaftlichen Fragmente Wilhelm von Humboldts, um philosophische Unterstützung für seinen transformatorischen Bildungsbegriff zu gewinnen. Neben dieser ertragreichen Theorierichtung, die in der deutschen Bildungstheorie wachsenden Zuspruch erfährt, findet seit den siebziger Jahren die erstmals von Jack Mezirow formulierte „transformative learning theory“ in der anglo-amerikanischen Erwachsenenbildung großen Anklang.

Trotz der vielversprechenden Gemeinsamkeiten zwischen diesen zwei Forschungsdiskursen kam es bisher selten zu bedeutsamen Kooperationen. Abgesehen von den einschlägigen Arbeiten zu diesem Thema von z. B. Arnd-Michael Nohl bleiben hierzulande explizite Verweise auf Mezirows transformative learning theory innerhalb der Bildungstheorie selten und unsystematisch [3]. Das gleiche gilt für die Erwachsenenbildung (vgl. als Ausnahme Zeuner [4]). Die Herausgebenden des vorliegenden Sammelbandes streben danach, einen Dialog zwischen diesen zwei Forschungstraditionen zu initiieren und somit eine wichtige Leerstelle der internationalen Bildungswissenschaft zu füllen. Ihre Auswahl an sowohl bildungstheoretischen als auch empirisch ausgerichteten andragogischen Beiträgen, die von Forschern der europäischen sowie der anglo-amerikanischen Erziehungswissenschaft verfasst wurden, eröffnet einen perspektivenreichen Dialog, der den Herausgebenden zufolge Ressourcen zur Bereicherung der Forschungspraxis in diesen verschiedenen Bereichen freilegen könne. Der Sammelband soll insbesondere einen Beitrag zur weiteren philosophischen Fundierung der transformative learning theory leisten (a), weitere empirische Anschlüsse der Bildungstheorie ausweisen (b), größere Aufmerksamkeit für die transformative learning theory im deutschen Sprachraum gewinnen (c), und gleichzeitig den jetzigen Stand der deutschen Bildungstheorie einer englischsprachigen Leserschaft vorstellen (d) (xi-xii). Da die Bedeutung des Sammelbandes m. E. vornehmlich in seinem Beitrag zum internationalen Bildungsdiskurs liegt, werde ich in den untenstehenden Ausführungen tiefer auf diesen Beitrag eingehen, anstatt die im Sammelband enthaltenen Aufsätze einzeln zu analysieren.

Die ersten zwei Zielsetzungen des Sammelbandes werden m. E. weitgehend eingehalten. Obwohl es zuerst scheinen mag, als bestünden zwischen Erwachsenenbildung und Bildungstheorie einige unüberbrückbare disziplinäre Differenzen, entsteht in diesem Sammelband ein reger Austausch zu zentralen Fragen um die Struktur, die Auslöser, die Normativität und die Ziele des Transformationsprozesses. Viele der im Sammelband vertretenen Forschenden bedienen sich empirischer Ansätze zur weiteren Ausarbeitung des transformative-learning-Begriffs, wobei die empirisch ausgerichtete Forschung zeigt, dass der konzeptuelle Inhalt dieses Begriffs in den bislang vorliegenden Thematisierungen bei weitem nicht ausgeschöpft worden ist. Dieser Austausch wird durch die Beiträge von Koller, Nohl und Brinkmann aus dem deutschsprachigen bildungstheoretischen Diskurs noch weiter unterstützt, die sich gezielt mit der begrifflichen Kompatibilität von transformative learning und Bildung auseinandersetzen. Problematisch ist hier nur die Länge der Beiträge. Da der Sammelband aus 29 Aufsätzen besteht, aber nur 384 Seiten umfasst, beschränken sich die Einzelbeiträge auf durchschnittlich etwa 7 bis 8 Seiten (ohne Referenzen). Dieser Umfang schließt tiefergehende Argumentationen in den theoretisch fokussierten Beiträgen aus, die infolgedessen einen eher programmatischen als philosophisch-argumentativen Stil aufweisen.

Trotz dieses eher stilistischen Problems bietet der Sammelband eine Vielfalt von theoretischen Perspektiven zum Transformationsthema an und kann deshalb als fundierte Orientierung für Forscher/-innen dienen, die sich über den aktuellen Status der deutschen Debatte um transformatorische Bildung kundig machen möchten. Die zahlreichen Beträge im Sammelband, die bildungstheoretische Ansätze mit einem empirisch-qualitativen Forschungsansatz kombinieren, legen außerdem dar, dass eine Integration des Begriffs „Bildung“ in den Theoriebereich der transformative learning theory äußerst produktive Forschungsergebnisse herbeiführen kann. Diese Beiträge erweitern hierbei die Transformationsdebatte in die Themenbereiche der Identität (Illeris), Zeit (Schmidt-Lauff), Anerkennung (West), Solidarität (Lange und Solarz) und ästhetischen Erfahrung (Kokkos) und beziehen diverse praktische Kontexte wie Migration (Vinciguerra), Kommunikation (Eschenbacher), Biographieforschung (Koller, Nohl), Jugend (Benjamin und Crymble), Unternehmertum (Laros) und sogar den Camino de Santiago (Tisdell) mit ein. Der Sammelband organisiert diese Beiträge in sieben hilfreichen Abschnitten – Overview on Bildung and Transformative Learning, Transformative Learning and Transformative Bildung, Crisis and Continuity, Theoretical Approaches to Bildung and Learning, The Role of the Other in Bildung and Transformative Learning, Transformative Learning and Bildung in Times of Lifelong Learning, and Fostering Transformative Learning and Bildung –, die als Leitfäden für künftige theoretische und empirische Forschungen fungieren können. Etwa die Rolle der Krise im Transformationsprozess sowie die transformatorische Wirkung des „Anderen“ deuten auf fruchtbare Forschungsfragen, deren Antworten im aktuellen bildungstheoretischen Diskurs noch tiefere philosophische Präzisierungen benötigen. Gleichzeitig scheint das hier thematisierte Verhältnis zwischen dem (transformatorischen) Bildungsbegriff und dem Forschungskonstrukt des lifelong learning einen vielversprechenden Weg für die empirische Erwachsenenbildung zu ebnen, indem der schon längst in der Erwachsenenbildung etablierte lifelong-learning-Diskurs neuen begrifflichen Instrumentarien begegnet. Somit legt der Sammelband mehrere zielstrebige und kohärente Vorgehensweisen, denen weitere Forschungen zum Thema Transformation folgen könnten, nahe.

Obwohl der Sammelband also zahlreiche Perspektiven zum Transformationsthema präsentiert, ist an dieser Stelle noch seine relativ eingeschränkte Auseinandersetzung mit einschlägigen Beiträgen zum Transformationsthema aus dem englischsprachigem Forschungskontext zu kritisieren. Transformative learning ist seit dem Beginn der achtziger Jahre ein Forschungsphänomen hauptsächlich innerhalb der anglo-amerikanischen Erwachsenenbildung geblieben. Demgegenüber ist im letzten Jahrzehnt der Begriff „transformation“ zu einer Leitkategorie der englischsprachigen Erziehungswissenschaft geworden, die in Form von „transformative pedagogy“, „transformative teaching“, „transformative experience“, usw. zutage tritt. Jack Mezirow selbst, der Begründer der transformative learning theory, beruft sich auf eine lange Tradition in der anglo-amerikanischen philosophy of education, die eine transformatorische Veränderung im Subjekt als Merkmal von „education“ charakterisiert. Mezirow greift z. B. explizit auf Paulo Freires Konzeption einer „problem posing education“ zurück, die eine Transformation und „Neugeburt“ des Lernenden durch das Bewusstwerden von unterdrückenden Sozialgefügen voraussetzt [5, 6]. Solche Hervorhebungen des transformatorischen Moments im Bildungsprozess sind bei mehreren prominenten anglo-amerikanischen philosophers of education des späten 20. und 21. Jahrhunderts zu finden (z. B. English, Backhurst, Higgins), die ihre Transformationsbegriffe auf der philosophischen Grundlage von John Dewey, John McDowell, Hans-Georg Gadamer und Alasdair MacIntyre bilden [7, 8, 9]. Da der Sammelband diese erziehungswissenschaftlichen bzw. erziehungsphilosophischen Perspektiven jedoch nicht in Betracht zieht, entgehen ihm Verbindungsmöglichkeiten zu aktuellen Forschungsanstrengungen im englischen Sprachraum und bleiben die Auseinandersetzungen mit der Transformationsidee in wichtigen Feldern hinter ihrem Potential zurück. Die Auswirkung dieser Einschränkung zeigt sich vor allem darin, dass eine explizite Analyse der ethisch-normativen Komplikationen, die ein transformatorisches Bildungsziel mit sich bringt, im Sammelband fehlt. Wenn transformatorische Bildung „fostered“ (279), also gefördert werden sollte, wie es in einem der Abschnittstitel heißt, dann müssten auch die normativen Implikationen dieser transformierenden Pädagogik in Frage gestellt werden.

Trotz dieser Kritikpunkte leistet der Sammelband einen wichtigen und bemerkenswerten Beitrag zur weiteren Kooperation zwischen der anglo-amerikanischen und deutschsprachigen Erwachsenenbildung und Bildungstheorie. Die letztgenannten Ziele des Sammelbandes, die eine Rezeption der transformative learning theory im deutschen Sprachraum und der Bildungstheorie im Englischen bezwecken, werden von den Herausgebern des Sammelbandes also in Gänze eingehalten. Die Veröffentlichung der von deutschsprachigen Forschern verfassten Beiträge auf Englisch begünstigt ihre Rezeption im englischen Sprachraum, welcher aufgrund dieser Sprachgrenzen über die wichtigen Ergebnisse und Fortschritte kontinentaleuropäischer Bildungsforschung oft in Unkenntnis bleibt. Wer diesen Sammelband zur Hand nimmt, wird mit seiner Hilfe in die Grundgedanken des Diskurses um transformatorische Bildungstheorie und transformative learning eingeführt, die dann in seinen spezifischen Einzelbeiträgen weiter vertieft werden können.

[1] Koller, H. C): Bildung anders denken: EinfĂĽhrung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer 2012.
[2] Marotzki, W.: Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie: Biographietheoretische Auslegung von Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften. Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1990.
[3] Nohl, A. M.: Bildung und transformative learning. In: D. Verständig, J. Holze / R. Biermann (Eds.) Von der Bildung zur Medienbildung. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2016, 163-177.
[4] Zeuner, C.: „Transformative learning“ als theoretischer Rahmen der Erwachsenenbildung und seine forschungspraktischen Implikationen. In: Faulstich, Peter (Hrsg.), Lerndebatten, Phänomenologische, pragmatische und kritische Lerntheorien in der Diskussion. Bielefeld: transcript 2012, 99-131.
[5] Mezirow, J.: Perspective transformation. Adult Education Quarterly, 28(2), 1978, 100-110.
[6] Freire, P.: Pedagogy of the oppressed. (M. B. Ramos, Trans.). London, UK: Penguin Books 1993.
[7] English, A.: Discontinuity in learning: Dewey, Herbart, and education as trans-formation. New York, NY: Cambridge University Press 2014.
[8] Bakhurst, D.: The Formation of Reason. Oxford: Wiley-Blackwell 2011.
[9] Higgins, C.: The good life of teaching: An ethics of professional practice. Malden, MA: Wiley-Blackwell 2011.
Douglas Yacek (Hannover)
Zur Zitierweise der Rezension:
Douglas Yacek: Rezension von: Laros, Anna / Fuhr, Thomas / Taylor, Edward W. (Hg.): Transformative Learning meets Bildung, An International Exchange. Rotterdam: Sense Publishers 2017. In: EWR 16 (2017), Nr. 5 (Veröffentlicht am 26.09.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978946300795.html