EWR 9 (2010), Nr. 1 (Januar/Februar)

Sammelannotation

Andreas Gatzemann
Die Erziehung zum ‚neuen’ Menschen im Jugendwerkhof Torgau
Ein Beitrag zum kulturellen Gedächtnis
(Diktatur und Widerstand 14)
Münster: Lit 2008
(250 S.; ISBN 978-3-8258-1599-8; 19,90 EUR)
Andreas Gatzemann
Der Jugendwerkhof Torgau
Das Ende der Erziehung
(Studien zur DDR-Gesellschaft 11)
Münster: Lit 2009
(196 S.; ISBN 978-3-8258-1996-5; 19,90 EUR)
Die Erziehung zum ‚neuen’ Menschen im Jugendwerkhof Torgau Der Jugendwerkhof Torgau Der geschlossene Jugendwerkhof in Torgau war ohne jeden Zweifel eine brutale und menschenverachtende, die elementarsten Persönlichkeitsrechte unterdrückende Einrichtung zur Behandlung auffälliger und unangepasster Jugendlicher in der DDR. Bei den dort anzutreffenden Methoden des Umgangs mit den Insassen lässt sich kaum noch von Erziehung sprechen, doch gehörte diese Institution offiziell zum Jugendhilfe- und Heimerziehungssystem der DDR. In seiner 2008 publizierten Dissertationsschrift widmet sich Andreas Gatzemann nach einem kurzen Blick auf die „Grundlagen der marxistischen Erziehung zum ‚neuen Menschen’ in der DDR“ (Kap. A), in dem vor allem auf die Konzeption Makarenkos eingegangen wird, in vier weiteren Kapiteln den gesetzlichen Grundlagen des geschlossenen Jugendwerkhofs, seinen Intentionen und dem dort herrschenden Alltag. Dabei stützt er sich auf zeitgenössische und aktuelle Akten sowie Literatur und zieht Berichte von Zeitzeugen und -zeuginnen heran, um die Vorgänge in Torgau mit den Schicksalen der Betroffenen zu verbinden. Zu diesem Zweck führte er Interviews mit vier früheren Insassen durch, die leider nicht per Tonband aufgezeichnet wurden, sondern als „lückenloses Protokoll“ (110) vorliegen und deren Aussagen nach einem Kategorienschema analysiert wurden. Herausgekommen ist einerseits eine Untersuchung, die das brutale Klima in Torgau sehr anschaulich macht und als eindringliches Plädoyer gegen jede Form von Gewalt und Zwang in der Erziehung wirkt. Andererseits fällt die Auseinandersetzung mit der DDR-Pädagogik sehr knapp und dürftig aus, zu der Methodik der Interviewführung sowie der Auswertung des herangezogenen biografischen Materials bleiben zudem einige Fragen offen. Das ist umso bedauerlicher, als das Buch vom Verlag auch in einer englischen Übersetzung vertrieben wird.

Wer von dem 2009 im selben Verlag erschienenen Band zum selben Thema Ergänzungen oder Vertiefungen erwartet, sieht sich auf kuriose Weise getäuscht, denn das Buch ist bis auf ein paar Umformulierungen und Streichungen nahezu textidentisch. Nach einer Erklärung für diese befremdliche Tatsache sucht man vergebens und fragt sich, ob hierfür das Sendungsbewusstsein des Autoren, das sich in inhaltsschwangeren Untertiteln wie „ein Beitrag zum kulturellen Gedächtnis“ oder „das Ende der Erziehung“ andeutet, verantwortlich war, oder ob sich der Verlag vom Mauerfalljubiläum einen verkaufsfördernden Effekt versprach – in jedem Fall bleibt festzustellen, dass Gatzemann keine wesentlich neuen, über die Ergebnisse bereits vorliegender Publikationen [1] hinausführenden Erkenntnisse vermittelt. Weitere Forschungen zum Umgang mit unangepassten Jugendlichen in der DDR sind also wünschenswert.

[1] Zum Beispiel: Zimmermann, Verena (2004): Den neuen Menschen schaffen. Die Umerziehung von schwererziehbaren und straffälligen Jugendlichen in der DDR (1945-1990). Köln/Weimar/Wien: Böhlau. Rezension unter: http://www.klinkhardt.de/ewr/41212303.html
Rüdiger Loeffelmeier (Berlin)
Zur Zitierweise der Annotation:
Rüdiger Loeffelmeier: Annotation zu: Gatzemann, Andreas: Die Erziehung zum ‚neuen’ Menschen im Jugendwerkhof Torgau, Ein Beitrag zum kulturellen Gedächtnis (Diktatur und Widerstand 14). Münster: Lit 2008. In: EWR 9 (2010), Nr. 1 (Veröffentlicht am 05.02.2010), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/annotation/978382581599.html