EWR 12 (2013), Nr. 4 (Juli/August)

Ewald Mittelstädt / Claudia Wiepcke
Verhaltensökonomische Experimente
Wirtschaftliche Entscheidungssituationen im Unterrichtsexperiment
Stuttgart: Deutscher Sparkassenverlag 2012
Verhaltensökonomische Experimente Die Lehrerhandreichung plus Online-Unterrichtsmaterial – ist im Rahmen eines Forschungsprogramms zur didaktischen Rekonstruktion von Verhaltensanomalien entstanden. Kern der analytischen Forschungsarbeit waren folgende Schritte:

a) Untersuchung von verhaltensökonomischen Experimenten (insbesondere von Kahneman und Tversky), die systematische Unterschiede zwischen kognitiven und affektiven Aspekten in Entscheidungssituationen adressieren, auf Alltagsvorstellungen von Lernenden
b) Transformation dieser fachwissenschaftlichen Experimente zu Klassenzimmer-Experimenten, indem Objekt- und Subjektstrukturen zusammengefĂĽhrt wurden und
c) Untersuchung, ob diese zur Gestaltung von lernförderlichen Lehr-Lern-Situationen genutzt werden können.

Nach dreijähriger Forschungsarbeit liegt im Sparkassenverlag eine erste Sammlung von zehn Experimenten vor, bei denen attestiert wird, dass dies valide gelungen ist. Es handelt sich somit um einen Forschungstransfer im Sinne evidenzbasierter Unterrichtsgestaltung.

Mit ihrem als Medienpaket konzipierten Heft „Verhaltensökonomische Experimente. Wirtschaftliche Entscheidungssituationen im Unterrichtsexperiment“ [1], das in eine online zur Verfügung gestellte Sammlung von Unterrichtsmaterialien einführt, reihen sich Ewald Mittelstädt und Claudia Wiepcke in einen im Bereich der ökonomischen Bildung zu beobachtenden Trend ein, wonach Experimenten im Wirtschaftsunterricht ein zunehmend größerer Stellenwert eingeräumt wird. Mittelstädt und Wiepcke legen mit ihrer Sammlung von insgesamt zehn Unterrichtsexperimenten einen besonderen Schwerpunkt auf ausgewählte Aspekte der modernen Verhaltensökonomik, um gezielt Anomalien im menschlichen Entscheidungsverhalten in den Blick zu nehmen.

Im Rahmen des Vorwortes geben die Autoren zunächst eine kurze Einführung in die Thematik und verweisen u.a. auf die gegenwärtige Bedeutung der experimentellen Wirtschaftsforschung in den Wirtschaftswissenschaften. Dem sowohl aus fachwissenschaftlicher als auch aus fachdidaktischer Perspektive reizvollen Unterfangen, ökonomische Theorien und Modelle im Labor zu prüfen, steht jedoch die von Mittelstädt und Wiepcke ebenfalls kurz problematisierte Anfälligkeit von Experimenten für Manipulationen gegenüber, die eine gelungene (Re-)Konstruktion wissenschaftlicher Erkenntnisse bzw. Erkenntnisprozesse im Klassenzimmer zu gefährden droht. Gescheiterte Experimente seien dabei jedoch nicht mit einem gescheiterten Unterricht gleichzusetzen.

Bei der Auswahl der in der Sammlung zusammengeführten Experimente sind für die Autoren insbesondere Entscheidungssituationen von Interesse, in denen menschliche Entscheidungen nicht kognitiv kontrolliert, sondern affektiv beeinflusst werden und sich auf psychologische Ursachen zurückführen lassen. Das Aufdecken von Anomalien in Entscheidungsprozessen, die systematisch im Widerspruch zum traditionellen Modell des Homo Oeconomicus stehen, rückt somit in den Fokus der vorliegenden Unterrichtseinheit. Die ausgewählten Experimente sollen die Schülerinnen und Schüler im Wirtschaftsunterricht dazu anregen, das eigene Verhalten in ökonomisch relevanten Entscheidungssituationen zu beobachten, auszuwerten und kritisch zu reflektieren. Hierin sehen die Autoren einen wesentlichen Beitrag, eine „Brücke zwischen Wissen und Handeln“ bei den Lernenden zu schaffen.

Eine gelungene Übersicht im Vorwort der Lehrerhandreichung systematisiert die Vielzahl von beobachtbaren Anomalien in Entscheidungsprozessen, wobei hier insbesondere die Unterscheidung zwischen Wahrnehmung, Verarbeitung, Bewertung und Kontrolle von Informationen für eine Systematisierung herangezogen wird. Damit liefern Mittelstädt und Wiepcke zugleich eine gewisse Dramaturgie für die gesamte Unterrichtseinheit, die den Lehrenden eine gute Orientierung bietet und darüber hinaus bei der Auswahl von Experimenten für den Unterricht hilfreich sein kann.

Die einzelnen Unterrichtsexperimente bzw. die zugrundeliegenden Anomalien werden anschließend kurz auf je einer Doppelseite im Heft eingeführt, wobei Leitfragen, Schlüsselwörter, didaktisch-methodische Anregungen sowie das eigentliche Experiment bzw. die Anomalie jeweils durch farblich unterlegte Textfelder hervorgehoben werden. Entsprechend aufbereitete Unterrichtsmaterialien (Arbeitsblätter, Auswertungsbögen etc.) und weiterführende Informationen werden zum Download auf einer eigens eingerichteten, passwort-geschützten Website bereitgestellt. Enthalten sind dabei auch Hinweise für die Lehrkräfte zum grundlegenden Ablauf der Unterrichtsexperimente sowie Hilfestellungen für die Interpretation der Ergebnisse.

Die auf den Doppelseiten in der Lehrerhandreichung vorgestellten Inhalte erschließen nicht nur das im Fokus stehende Experiment im engeren Sinne, sondern zeigen unter Bezugnahme auf die jeweils betrachtete Verhaltensanomalie auch immer wieder weitere, an alltäglichen Lebenssituationen orientierte Anknüpfungspunkte auf. Dies wird zum Beispiel beim „Konzertkarten-Experiment“ deutlich, mit dem das Phänomen der mentalen Kontenführung illustriert wird oder aber bei der Darstellung des sog. Besitztumseffektes, wonach u.a. die emotionale Bindung an einen bestimmten Gegenstand tendenziell zu dessen Überbewertung führt und dessen realer Wert somit nicht korrekt eingeschätzt wird.

Auffällig ist der in der Lehrerhandreichung immer wiederkehrende Bezug zu Entscheidungssituationen aus dem Bereich der Geld- und Vermögensanlage oder zum Verhalten der Akteure auf den Finanzmärkten. Warum die Autoren diesen Zugang bei der Beschreibung der Anomalien bzw. der damit verknüpften Experimente immer wieder wählen, wird allerdings nicht näher begründet oder gesondert erläutert. Gleichwohl bietet sich diese Vorgehensweise durchaus an, zumal in diesem Kontext sowohl ein fachwissenschaftlicher als auch ein fachdidaktischer Begründungszusammenhang hergestellt werden kann: So ist das mitunter irrationale Verhalten der Akteure auf Finanzmärkten etwa im Rahmen des wirtschaftswissenschaftlichen Forschungszweigs der „Behavioral Finance“ eingehend untersucht worden. „Finanzielle Allgemeinbildung“ als Teilbereich der ökonomischen Bildung fokussiert wiederum – neben anderen Problemstellungen – insbesondere auch Aspekte der Geld- und Vermögensanlage.

Mit der vorliegenden Sammlung geben Mittelstädt und Wiepcke eine Vielzahl an Anregungen für einen abwechslungsreichen Wirtschaftsunterricht, die den Lehrenden im Hinblick auf die Frage der konkreten Umsetzung zugleich hinreichend Flexibilität einräumt. Für die schulische Praxis erscheint vorteilhaft, dass die verschiedenen Unterrichtsexperimente unabhängig voneinander durchgeführt werden können, da diese nicht zwingend aufeinander aufbauen. Vom Schwierigkeitsgrad differieren die einzelnen Experimente in einer Weise, die mit Blick auf die jeweilige Lerngruppe eine zielgerichtete Auswahl ermöglicht und somit auch die von den Autoren angegebene Ausrichtung der Unterrichtsmaterialien auf die Sekundarstufe I und II bestätigt.

Die Auseinandersetzung mit den im Kontext der Unterrichtsexperimente erzielten Ergebnissen wirft die Frage auf, welche Konsequenzen aus den betrachteten Verhaltensanomalien möglicherweise für das Modell des Homo Oeconomicus resultieren. Zu Recht verweisen die Mittelstädt und Wiepcke auf den Umstand, dass sich Entscheidungen im „richtigen“ Leben nicht selten als unzulänglich oder gar als vernunftwidrig erweisen. Zur Frage der Bildungsrelevanz des Homo Oeconomicus wird der Standpunkt der Autoren allerdings nicht hinreichend deutlich, wenn auf der Rückseite des Einbandes der Lehrerhandreichung recht zugespitzt formuliert wird: „Es gibt keinen Homo Oeconomicus – außer in Lehrbüchern.“

Aus der Perspektive der Autoren scheint eine wichtige Intention der Auseinandersetzung mit verhaltensökonomischen Experimenten darin zu liegen, Verhaltensanomalien in ökonomisch geprägten Entscheidungssituationen stärker ins Bewusstsein der Lernenden zu heben, um im Ergebnis deren Entscheidungskompetenz zu verbessern. Das Modell des Homo Oeconomicus hat damit allerdings keineswegs ausgedient, vielmehr hängt eine bildungswirksame Einbindung des Modells in den Wirtschaftsunterricht von der richtigen Fragestellung ab: So ist z.B. die Ausgestaltung institutioneller Rahmenbedingungen immer auch dahingehend zu überprüfen, inwieweit diese eigennützigen und rationalen Handlungen standhält und sich insofern als resistent gegenüber dem Homo Oeconomicus erweist.

Die von Mittelstädt und Wiepcke aufgezeigten didaktischen Potentiale eines Einsatzes verhaltensökonomischer Experimente im Wirtschaftsunterricht – etwa im Hinblick auf die Aktivierung der Lernenden durch eine stärkere Einbindung in die Erarbeitung des Lernstoffes – verdeutlichen den innovativen Charakter der Methode. Gleichwohl sind die didaktischen Potentiale der Methode in der schulischen Praxis insbesondere auch vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Anforderungen an Lehrende und Lernende – etwa im Hinblick auf eine fachlich fundierte Reflexion der Ergebnisse – kritisch zu prüfen und zu bewerten. Für das Gelingen eines mit verhaltensökonomischen Experimenten angereicherten Unterrichts scheint vor allem auch die Anbahnung entsprechender Kompetenzen bei Lehramtsstudierenden eine wichtige Aufgabe zu sein. Dieser Argumentation folgend, ergeben sich somit auch Perspektiven für einen Einsatz der Mittelstädt und Wiepcke entwickelten Materialien im hochschuldidaktischen Bereich, um gezielt Methodenkompetenz und ökonomische Fachkompetenz zu fördern.

[1] Kostenfrei anforderbar ĂĽber www.dsv-gruppe.de
Arne Stemmann (Oldenburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Arne Stemmann: Rezension von: Mittelstädt, Ewald / Wiepcke, Claudia: Verhaltensökonomische Experimente, Wirtschaftliche Entscheidungssituationen im Unterrichtsexperiment. Stuttgart: Deutscher Sparkassenverlag 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 4 (Veröffentlicht am 24.07.2013), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/ueberblick2003-9.html