Durchlässigkeit als bildungspolitisches Argument erfährt seit einigen Jahrzehnten eine bemerkenswerte Konjunktur. Weil Durchlässigkeit ein unscharfer Begriff ist, eignet er sich vorzüglich für eine bildungspolitische Verwendung und vermag Reformen zu legitimieren, die auf unterschiedliche Ziele ausgerichtet sind. Mit Durchlässigkeit beschäftigt sich zunehmend auch die Wissenschaft, so auch die hier besprochene Dissertation von Nadine Bernhard, die 2014 an der FU Berlin im Fach Soziologie eingereicht wurde.
Die Studie untersucht international vergleichend die Diskurse und Reformen an der Schnittstelle von Berufs- und Hochschulbildung in Deutschland und Frankreich. Die Fallauswahl widerspiegelt die in der (Beruf-)Bildungsforschung lange Tradition des Systemvergleichs zwischen Deutschland und Frankreich. Zudem bezieht die Autorin die Prozesse auf europäischer Ebene ein. Konkret fragt die Studie danach, inwiefern sich erstens die Durchlässigkeitsstrukturen in den beiden Ländern seit ca. 1990 veränderten, ob zweitens dadurch eine Annäherung der Verhältnisse in den beiden Ländern festzustellen ist und inwiefern drittens europäische Bildungsprozesse diese Entwicklungen beeinflussten.
In der Anlage der Untersuchung besticht der differenzierte Zugang zum Phänomen der Durchlässigkeit. Die Autorin beschränkt sich nicht auf die Gegenüberstellung von möglichen und tatsächlich genutzten Wegen zwischen einzelnen Teilsegmenten von Bildungssystemen. Durchlässigkeit wird vielmehr im Zusammenspiel unterschiedlicher institutioneller Aspekte verortet: Zugang zu Bildungsinstitutionen, Anrechnung von vorhergehenden Bildungsleistungen, organisationale Verbindung von Bildungsbereichen, Umgang mit Heterogenität sowie Anerkennung der Gleichwertigkeit unterschiedlicher Bildungsabschlüsse.
Dies eröffnet zum einen die Möglichkeit, Durchlässigkeit ambivalent zu beurteilen. Zum anderen ist dieses breite Verständnis von Durchlässigkeit die Voraussetzung dafür, die Verhältnisse in Deutschland und Frankreich mit ihren unterschiedlichen länderspezifischen Traditionen überhaupt vergleichbar zu machen. So erst kann das stark segmentierte Bildungswesen in Deutschland dem universalistischen Bildungswesen in Frankreich gegenübergestellt werden. Die Schwierigkeit, dass in Frankreich Durchlässigkeit kaum explizit thematisiert wird, wendet Bernhard insofern produktiv, als sie beispielsweise institutionelle Maßnahmen diskutiert, die in Frankreich ergriffen wurden, um die hohe Studienabbruchquote von so genannten nicht-traditionellen Studierenden zu mildern. Allerdings gerät mit dem Fokus auf die Verhältnisbestimmung von Berufs- und Hochschulbildung etwas aus dem Blick, wie sich diese beiden Segmente selbst veränderten. Inwiefern die Berufsbildung akademisiert und die Hochschulbildung verberuflicht wurden, bleibt nur am Rande beantwortet.
Die Analyse erfolgt auf der Grundlage von bildungspolitische Dokumenten und Experteninterviews. Bernhard bezieht sich auf den Neo-Institutionalismus, um den institutionellen Wandel von Durchlässigkeitsstrukturen aufzuzeigen. Bernhard nimmt dabei nicht nur die regulative, sondern auch normative und kulturell-kognitive Dimensionen der institutionellen Entwicklungen in den Blick. Produktiv ergänzt wird diese Herangehensweise mit einer diskursanalytischen Perspektive, welche die Konflikthaftigkeit der untersuchten Wandlungsprozesse sichtbar macht und Hinweise dafür gibt, welche Pfade nicht eingeschlagen wurden.
Bevor die Entwicklungen in den beiden Ländern dargestellt werden, beschreibt die Autorin die für die Hochschul- und Berufsbildung angestossenen Bologna- bzw. Kopenhagen-Prozesse auf europäischer Ebene. Hinsichtlich Durchlässigkeit wurde im Bologna-Prozess vor allem eine stärkere berufliche Orientierung angestrebt, während der Kopenhagen-Prozess eher auf die organisationale Verknüpfung von beruflicher und akademischer Bildung abzielte. Zudem ließen die europäischen Vorgaben große Spielräume bei der Umsetzung zu, womit den einzelnen Staaten offenstand, deren Umsetzung entlang der Logik des eigenen Bildungssystems zu gestalten.
Die Entwicklungen in den beiden Ländern werden für die Analyse in zwei Perioden eingeteilt. Mit der Situation in den 1990er Jahren wird die Ausgangslage dessen geschildert, wie sich die Verhältnisse nach 1999 unter möglichem Einfluss der europäischen Prozesse entwickelten. Für Deutschland stellt Bernhard fest, wie im ersten Zeitraum die Stärkung der beruflichen Bildung im Vordergrund stand, während im zweiten Zeitraum die Diskussion um den Bedarf an akademisch Qualifizierten den Schwerpunkt bildete. Vor dem Hintergrund der institutionellen Segmentierung des Bildungswesens mit seiner starken Trennung von Berufs- und Allgemeinbildung drehte sich die Durchlässigkeitsdebatte in Deutschland einerseits um die Öffnung des Hochschulzugangs für beruflich Qualifizierte und andererseits um mögliche institutionelle Verbindungen zwischen Berufs- und Hochschulbildung, was sich nicht zuletzt im Ausbau der dualen Studiengänge niederschlug.
Im Kontrast dazu ist das wenig segmentierte Bildungssystem Frankreichs interessant, in dem Fragen der Durchlässigkeit weniger anhand der Zulassung oder Anrechnung, als vielmehr über Studienanfänger- und Studienabbruchquoten diskutiert wurden. Absolventinnen und Absolventen eines beruflichen oder technischen baccalauréat erhielten zwar eine Studienberechtigung, scheiterten aber überproportional häufig im Hochschulstudium, weil sie eigentlich auf den Arbeitsmarkteinstieg und nicht auf ein Studium hin vorbereitet wurden. Technische Kurzstudiengänge, die in der Folge des Bologna-Prozesses eingeführt wurden, führten zu einer Ablenkung der beruflich qualifizierten Abiturientinnen und Abiturienten von den traditionellen Hochschulen in diese neu geschaffenen Studiengänge, was zu einer stärkeren Hierarchisierung des Hochschulsystems führte. Diskursiv blieb indes der selektionsfreie Zugang zur Hochschule ein wichtiges Argument.
Im Vergleich der Entwicklungen in Deutschland und Frankreich stellt die Autorin eine Annäherung der Durchlässigkeitsstrukturen fest. Dennoch blieben beide Staaten in ihren jeweiligen Entwicklungspfaden verhaftet. Dies zeigt sich sowohl an den unterschiedlichen Diskurssträngen, die Bernhard in den beiden Ländern herausarbeiten konnte, wie auch in institutioneller Perspektive daran, dass sich die Barrieren der Durchlässigkeit auf nationaler Ebene auch weiterhin unterschieden.
In beiden Staaten wurden die Debatten um Durchlässigkeit nach 1999 und mit dem Auftreten einer europäischen Bildungspolitik intensiviert. Ob dies eine Folge der Europäisierung war, wie die Autorin im Titel andeutet, ist aber fraglich. Bernhard selbst weist wiederholt auf die mögliche Zirkularität von europäischer und nationaler Ebene hin. Sie kann diese nicht systematisch in die Untersuchung mit einbeziehen, weil die Studie in ihrer Anlage unidirektional darauf abzielt, mögliche Einflüsse der Europäisierung auf die nationalen Entwicklungen aufzuzeigen. Wäre die Zirkularität ernst genommen worden, hätten auch Fragen der nationalen Beeinflussung der europäischen Entwicklung berücksichtigt werden müssen.
Schließlich hätte der Text stark verdichtet werden können. Mit weniger Redundanzen von Zielen, Methoden und Analyseergebnissen würde sich die Studie deutlich leserfreundlicher präsentieren. In der Darstellung bleibt die Studie deutlich im Modus einer Qualifikationsarbeit verhaftet, die jeden Schritt durch die Analysematrix im Text abzubilden hat. Inhaltlich ist die Untersuchung dennoch sehr überzeugend, gerade weil sie so breit angelegt ist und unterschiedliche Forschungsperspektiven vereint. Sie stellt wichtige Erkenntnisse vor, an die künftige Studien zur Durchlässigkeit, zum internationalen Vergleich der tertiären Bildung wie auch zum Verhältnis von Berufs- und Hochschulbildung anknüpfen werden.
EWR 17 (2018), Nr. 5 (September/Oktober)
Durch Europäisierung zu mehr Durchlässigkeit?
Veränderungsdynamiken des Verhältnisses von beruflicher Bildung zur Hochschulbildung in Deutschland und Frankreich
Opladen, Berlin, Toronto: Budrich UniPress 2017
(548 S.; ISBN 978-3-86388-706-3; 75,90 EUR)
Philipp Eigenmann (Zürich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Philipp Eigenmann: Rezension von: Bernhard, Nadine: Durch Europäisierung zu mehr Durchlässigkeit?, Veränderungsdynamiken des Verhältnisses von beruflicher Bildung zur Hochschulbildung in Deutschland und Frankreich. Opladen, Berlin, Toronto: Budrich UniPress 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 5 (Veröffentlicht am 31.10.2018), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978386388706.html
Philipp Eigenmann: Rezension von: Bernhard, Nadine: Durch Europäisierung zu mehr Durchlässigkeit?, Veränderungsdynamiken des Verhältnisses von beruflicher Bildung zur Hochschulbildung in Deutschland und Frankreich. Opladen, Berlin, Toronto: Budrich UniPress 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 5 (Veröffentlicht am 31.10.2018), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978386388706.html