EWR 2 (2003), Nr. 1 (Januar 2003)

Britta L. Behm
Moses Mendelssohn und die Transformation der jüdischen Erziehung in Berlin
Eine bildungsgeschichtliche Analyse zur jüdischen Aufklärung im 18. Jahrhundert
Münster: Waxmann 2002
(309 Seiten; ISBN 3-8309-1135-1; 29,80 EUR)
Britta L. Behm/Uta Lohmann/Ingrid Lohmann (Hrsg.)
Jüdische Erziehung und aufklärerische Schulreform
Analysen zum späten 18. und frühen 19. Jahrhundert
Münster: Waxmann 2002
(398 Seiten; ISBN 3-8309-1194-7; 34,90 EUR)
Moses Mendelssohn und die Transformation der jüdischen Erziehung in Berlin Jüdische Erziehung und aufklärerische Schulreform Nach dem erfolgreichen Start der seit 2001 vom Waxmann Verlag in Münster verlegten Reihe "Jüdische Bildungsgeschichte in Deutschland" – deren erste Bände neue Quellensammlungen und Studien zur jüdischen Freischule in Berlin (1778-1825) und zur Geschlechterdifferenten Erziehung von Knaben und Mädchen der Hamburger jüdisch-liberalen Oberschicht (1848-1942) präsentierten und zudem auch Mordechai Eliavs 1960 in hebräischer Sprache verfasstes Standardwerk "Jüdische Erziehung in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung und der Emanzipation" erstmals in deutscher Übersetzung zugänglich machten – liegen nun zwei weitere Bände der bemerkenswerten Schriftenreihe vor. Wie schon für die ersten drei Bände der Reihe zeichnen auch diesmal Ingrid Lohmann, Britta L. Behm und Uta Lohmann als Generalherausgeberinnen verantwortlich.

Britta L. Behm, die Verfasserin des vierten Bandes der Reihe, hat sich in ihrer Monographie die Aufgabe gestellt, die bisher noch viel zu wenig beachtete, zentrale Bedeutung Moses Mendelssohns für die Transformation der jüdischen Erziehung in Berlin seit Mitte des 18. Jahrhunderts im Detail herauszuarbeiten. Obschon Leben und Werk Mendelssohns seit dem Erscheinen von Alexander Altmanns umfassender Biographie von 1973 historiographisch außerordentlich eingehend untersucht und dokumentiert worden sind und gerade auch durch die neuesten Arbeiten von David Sorkin und Shmuel Feiner überzeugend interpretiert werden konnten, sind Mendelssohns ausgeprägte pädagogische Interessen von der mit der jüdischen Aufklärung (Haskala) befassten Forschung bisher doch zumeist nur am Rande abgehandelt worden.

Behm analysiert Mendelssohns von der Bildungsgeschichtsschreibung zu unrecht vernachlässigte Gedanken über Erziehung in beeindruckender Ausführlichkeit, wobei sie sowohl dessen deutsch- wie auch hebräischsprachige Schriften auswertet. Zudem untersucht sie Mendelssohns Vorschläge zu einer grundlegenden jüdischen Erziehungsreform auf einer breiten Basis von bisher noch nicht edierten oder gar unbekannten Quellen, die sie stringent in Beziehung zu den zeitgenössischen Entwicklungen im Erziehungswesen der christlichen bzw. protestantischen Umgebungskultur setzt. So entsteht ein erstaunlich genau rekonstruiertes Bild der von Mendelssohn angestoßenen Veränderungen im jüdischen Erziehungswesen Berlins.

Dass Mendelssohn schon in seinem 1754 von Lessing veröffentlichten Brief an Aron Salomon Gumpertz die Möglichkeit einer – vor allem durch geeignete Erziehungsmaßnahmen bewirkten – Verbesserung der Situation der Juden thematisierte und an dieser Vision bis hin zu seinen bildungstheoretischen Stellungnahmen im Aufsatz "Über die Frage: was heißt aufklären?" (1784) festhielt, wird von Behm in bewundernswürdiger Klarheit und Plausibilität vorgeführt. Auch zeigt sie deutlich auf, dass Mendelssohn seine pädagogischen Ideen immer gegenüber einem doppelten Publikum und einer doppelten Leserschaft vorzutragen hatte. Im Diskurs der deutschsprachigen Spätaufklärung musste er gegenüber seinen christlichen Zeitgenossen die Mitglieder der jüdischen Gemeinde als prinzipiell aufklärungskompatibel beschreiben, während er unschlüssige oder unwissende Juden, die noch ganz im Bann des tradtionalistischen religiösen Widerstands gegen Aufklärung standen, von der Vereinbarkeit einer aufklärerischen Pädagogik zu überzeugen hatte.

Ein eindrückliches Beispiel für Mendelssohns Absicht jüdische Talmudstudenten auch zum Erwerb nichtjüdischer, profaner Bildung anzuregen, ist die von ihm im Jahre 1758 herausgegebene hebräischsprachige Wochenschrift "Qohelet Musar" (Moralprediger). Da bisher noch keine deutsche Übersetzung dieser Moralischen Wochenschrift vorliegt, erschließt Behms Interpretation der im "Qohelet Musar" enthaltenen Bildungsvorstellungen nun dankenswerterweise auch einer deutschsprachigen Leserschaft den Weg zu einem besseren Verständnis der schon in den 1750er Jahren von Mendelssohn verfolgten Absicht einer deutlichen Hebung des Bildungsstandards der Berliner jüdischen Gemeinde. Auch das von Behm gut dokumentierte Eintreten Mendelssohns für die erste jüdische "Bürgerschule" Europas, die 1778 in Berlin gegründete jüdische Freischule, und die Beschreibung der – für zahlreiche jüdische Familien nachahmenswerten – konkreten Erziehungsabläufe im Hause Mendelssohn zeigen, wie umfassend Mendelssohn als Verfechter einer jüdischen Erziehungsreform agierte.

Wie Mendelssohn dann andererseits gegenüber den christlichen Vertretern der deutschsprachigen Aufklärungspädagogik argumentierte, um Verständnis für sein Projekt einer jüdischen Bildungsreform zu wecken, führt Behm vornehmlich mit Blick auf dessen Beziehungen zu den führenden Vertretern der philanthropischen Erziehungslehre vor. Gerade Mendelssohns freundschaftliches Verhältnis zu Johann Bernhard Basedow, das in der bisherigen Bildungsgeschichtsschreibung noch längst nicht genügend untersucht worden ist, analysiert Behm in bisher noch nicht dagewesener Ausführlichkeit. Dabei zeigt sich, dass Basedow durchaus Mendelssohns Anliegen verstand und unterstützte, wenn dieser zwar einerseits den jüdischen Bildungsstandard durch Aufnahme auch profaner Wissenschaften in das jüdische Curriculum heben wollte, deswegen aber andererseits keinesfalls beabsichtigte, vom Judentum abzurücken. Dass Basedows Verhalten auch für einen aufgeklärten Pädagogen nicht selbstverständlich war, zeigt das Verhalten eines anderen bedeutenden Vertreters des Philanthropismus. Wie Behm herausarbeitet, forderte der märkische Freiherr und Schulreformer Friedrich Eberhard von Rochow Mendelssohn nämlich gerade unter Verweis auf dessen bildungstheoretische Überlegungen rundheraus zur Konversion zum Christentum auf.

Die differenzierte und ausführliche Darstellung von Mendelssohns zwischen 1750 und 1790 entwickelten bildungstheoretischen Überlegungen, die Behm stets unter Bezug auf andere bedeutende Reformbestrebungen im deutschen Erziehungswesen der Spätaufklärung abhandelt, ist eine in jeder Hinsicht lohnende und informative Lektüre, die durch ein ausführliches Personenregister sowie durch ein hebräisches Glossar zusätzlich erleichtert wird. Dem Buch, das für Studierende wie für Fachkollegen in gleicher Weise interessant ist, weil es allgemeinverständlich geschrieben ist und zugleich neue wissenschaftliche Standards setzt, sind viele an der Judaistik, Geschichtswissenschaft und Pädagogik interessierte Leser zu wünschen.

Behms Monographie ist zugleich die grundlegende Vorarbeit für die von ihr gemeinsam mit Uta und Ingrid Lohmann herausgegebene Sammlung von Aufsätzen zur jüdischen Erziehung und aufklärerischen Schulreform im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Diese Aufsatzsammlung, die neben den Arbeiten der Herausgeberinnen auch Texte von Meike Berg, Dominique Bourel, Peter Dietrich, Shmuel Feiner, Louise Hecht, Ernst A. Simon, Jutta Strauss, Rainer Wenzel und Michaela Will enthält, stellt einen gewichtigen Beitrag zur bisher nur wenig erforschten Theorie und Praxis der Haskala-Pädagogik dar, zumal in diesem Band endlich auch viele einschlägige hebräische Quellen Berücksichtigung finden.

Behandelt werden neben den Konzepten und Lehrplänen verschiedener moderner jüdischer Schulen – namentlich der Berliner Freischule (1778-1825), der Königlichen Wilhelmschule in Breslau (1791-1848), der Prager deutsch-jüdischen Schulanstalt (1782-1848) und der Jacobson-Schule in Seesen (1801-1871) – vor allem auch die Reformansätze und Erziehungsprogramme der jüdischen Aufklärer (Maskilim) Lazarus Bendavid, David Friedländer, Aaron Halle-Wolfssohn, Herz Homberg und Joseph Wolf. Daneben erörtern mehrere Beiträge auch die Frage, inwieweit die jeweils verantwortlichen staatlichen Behörden die Transformation des jüdischen Erziehungswesens unterstützten oder behinderten.

Eröffnet wird der Band im übrigen mit der deutschen Übersetzung eines von Ernst A. Simon im hebräischen Original bereits 1953 veröffentlichten Aufsatzes, in dem die Beziehungen zwischen philanthropischer Pädagogik und jüdischer Erziehung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erörtert werden. Wenn Simons Beitrag heute auch um vielfältige neue Forschungsergebnisse ergänzt ist, birgt er doch gerade mit Blick auf die wechselseitige Befruchtung von Maskilim und philanthropischen Pädagogen wichtige Erkenntnisse, deren Rezeption im deutschen Sprachraum noch immer aussteht. So ist es beispielsweise außerordentlich wichtig zur Kenntnis zu nehmen, dass, wie Simon unterstreicht, der bekannte Humanist und Pädagoge Johann Matthias Gesner, von dem die Philanthropen Martin Ehlers und Johann Bernhard Basedow entscheidende Impulse zur Reform des Sprachenunterrichts empfingen, die in der jüdischen Elementarschule (Cheder) gebräuchliche Unterrichtsmethode der hebräischen Sprache als Beispiel dafür darstellte, wie Latein gelehrt werden sollte.

Die von Simon vorgegebene Perspektive, welche die Wechselwirkungen zwischen jüdischer Erziehungsreform und philanthropischer Pädagogik genauer in den Blick zu nehmen sucht, wird dann auch von den meisten anderen Beiträgern des Sammelbandes übernommen. So verweist Britta L. Behm auf die Adaption philanthropischer Erziehungsansätze bei Mendelssohn, während Meike Berg Parallelen zwischen den Industrieschulkonzepten von Israel Jacobson und Joachim Heinrich Campe entdeckt. Campes Mädchenerziehung wiederum wird von Michaela Will mit den Mädchenbildungskonzepten der Zeitschrift "Sulamith" verglichen. Solche Vergleiche sind in der bisherigen Philanthropismusforschung kaum einmal so gründlich und ernsthaft wie hier geschehen geleistet worden.

Insgesamt ist mit dem Sammelband ein wichtiger und interessanter Beitrag zur Erforschung des Haskala-Schulwesens vorgelegt worden, der bei den einschlägig ausgewiesenen Fachkollegen auf ein großes Interesse stoßen dürfte. Für jeden Leser hilfreich sind die exzellenten Literaturverzeichnisse und das hebräische Glossar. An die Adresse des Verlagslektors gerichtet bleibt jedoch kritisch anzumerken, dass auf zuvielen Seiten des Bandes Wortverdrehungen oder gar regelrechter Buchstabensalat (z.B. auf den Seiten 225, 275, 280, 281, 284, 295, 311) die Lektüre – und teilweise sogar auch das Textverständnis – erschweren.
Jürgen Overhoff (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jürgen Overhoff: Rezension von: Behm, Britta L.: Moses Mendelssohn und die Transformation der jüdischen Erziehung in Berlin, Eine bildungsgeschichtliche Analyse zur jüdischen Aufklärung im 18. Jahrhundert, Münster: Waxmann 2002. Behm, Britta L. / Lohmann, Uta / Lohmann, Ingrid (Hg.): Jüdische Erziehung und aufklärerische Schulreform, Analysen zum späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, Münster: Waxmann 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.01.2003), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/83091135.html