EWR 10 (2011), Nr. 2 (März/April)

Ludwig A. Pongratz
Sackgassen der Bildung
Pädagogik anders denken
Paderborn: Schöningh 2010
(218 S.; ISBN 978-3-506-76906-0; 19,90 EUR)
Sackgassen der Bildung Ludwig Pongratz legt mit „Sackgassen der Bildung“ ein Buch vor, dass Studierende der Erziehungswissenschaft und andere am Fach Interessierte in pädagogisches Denken als kritisches Projekt einführt. Nach Pongratz ist pädagogisches Denken grundsätzlich mit den gesellschaftlichen Widerspruchslagen konfrontiert, bezogen auf die es seine Perspektive einstellen und seine Aufgabenbestimmungen vollziehen muss. So wird verständlich, dass der Auftakt des Buches nicht im Modus einer „ersten Annäherung“ erfolgt, sondern vielmehr in Form von „Schneisen ins Dickicht der Pädagogik“ (9). Pongratz ist der Auffassung, dass definitorische Unternehmungen bezüglich der umstrittenen Kategorien der Pädagogik mehr als nur eine Engführung bedeuten würden, da am und im Streit um die Kategorien die gesellschaftlichen Widerspruchslagen selbst deutlich zu werden vermögen. Zugleich wird damit laut Pongratz eine Komplizität der Pädagogik mit gesellschaftlichen Problemlagen und Partikularinteressen sichtbar: „Sie [die Pädagogik, C.T.] reproduziert auf ihre Weise gesellschaftliche Ungleichheit und Abhängigkeit“ (7).

Das Buch enthält neben der Einleitung und einem kurzen Schluss drei Hauptkapitel, die sich mit drei pädagogischen Grundbegriffen, „Unterricht/Schule“ (2.), „Bildung“ (3.) und „Erziehung“ (4.), befassen. Jedes Kapitel ist in Unterkapitel gegliedert, die jeweils relativ selbständig Problemlagen des Pädagogischen rekonstruieren oder theoretische Rahmungen zur Analyse gegenwärtiger gesellschaftlicher Prozesse einsetzen. Einige Überschriften der Unterkapitel seien hier exemplarisch aufgeführt: „Schule als umkämpftes Terrain: Die Reform der Reform der Reform“, „Richtungswechsel: Von der Input-Orientierung zur Output-Orientierung“, „Wilhelm von Humboldt: Totgesagte leben länger!“, „Zivilisationsbruch: Erziehung nach Auschwitz“.

Wie bereits angedeutet, liegt der Sinn pädagogischer Theoriebildung nach Pongratz in der Auseinandersetzung mit Widerspruchslagen der modernen Gesellschaft. Pädagogische Theorien sollen ihre Gegenstände nicht nur bezeichnen; sie sollen pädagogische Sachverhalte kritisch reflektieren und diese auf ihre „unverwirklichten Möglichkeiten“ hin in den Blick bringen (13). Dies impliziert nach Pongratz die Notwendigkeit, sich mit der geschichtlichen Entwicklung pädagogischer Konzepte auseinanderzusetzen (was der Autor beispielhaft in einem Exkurs zum Begabungsbegriff vorführt). Die Auffassung, dass pädagogische Begriffe keine „Spielmarken“ darstellen, sondern dass in ihnen pädagogische Ansprüche und historisch-gesellschaftliche Praxis amalgamiert sind, bildet den Kern der dialektischen Verständigung Pongratz.

Das Kapitel zu „Schule/Unterricht“ setzt mit drei Fallbeispielen des norwegischen Kriminologen Nils Christie (1974) ein. An ihnen exemplifiziert Pongratz, dass schulisches Lernen neben den pädagogisch legitimierten Zielen und Selbstansprüchen oftmals fragwürdige Positionen und Praktiken verfolgt. Vor allem unter Bezugnahme auf das Konzept des „heimlichen Lehrplans“ wird die These vertreten, dass es nach wie vor das zentrale Lernziel sei, die institutionell ausgeformten Erwartungen der Schule zu erfüllen (43). In der Darstellung dominiert dabei die Semantik der Dominanz, Selektion und Disziplin, welche eine Präsentation von Ansätzen radikaler Schulkritik vorbereitet (Freire, Illich).

Das Kapitel liefert auch „Notizen zur Schulgeschichte“ vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, die ebenfalls an der Semantik der Selektion orientiert sind. Wie bereits in anderen Publikationen des Autors [1] werden die geschichtlichen Entwicklungsprozesse der Schule zwischen Aufklärung und gesellschaftlicher Brauchbarkeit bzw. funktionaler Reglementierung diskutiert. Die Darstellung führt zu einer vergleichenden Betrachtung der Schulreformen der 1960/70er Jahre mit gegenwärtigen Reformen des Bildungswesens, die den Abschluss des Kapitels bildet. Hier werden Gutachten aus der Bildungspolitik (Gutachten zu den Schulformen, Rahmenrichtlinien, KMK-Beschlüsse), aber auch wissenschaftliche Verständigungen (Aufgabenformate der PISA-Studie) kritisch auf ihre pädagogischen Sinnbestimmungen und Ziele diskutiert. Zentral ist hierbei die These einer neoliberalen Umsteuerung des Bildungssystems durch Bildungsstandards und Kompetenzmessung, welche zu „einem Kontrollregime [führt], das alles „selbstorganisiert“ am Laufen hält“ (85).

Das Kapitel „Bildung“ ist um den Gedanken eines widersprüchlichen Verhältnisses von Selbstverfügung und Selbstüberschreitung zentriert. Ausgehend von Humboldts bildungstheoretischem Idealismus wird die nachfolgende Bezugnahme auf Bildung als Instrumentalisierung beschrieben, die im Zusammenhang ökonomischer Verwertbarkeit und der Durchsetzung von Partikularinteressen (des Bürgertums) steht. Die Bildungskategorie zugunsten „Lernen“, „Qualifikation“, „Selbstorganisation“ etc. aufzugeben sei jedoch, wie Pongratz in kritischer Absetzung zu Autoren wie Giesecke, Lenzen, Tenorth etc. zeigen möchte, keine Alternative, da damit gesellschaftlich-geschichtliche Dynamiken verschleiert würden.

Einer umfänglichen Kritik werden dann der Kompetenzbegriff und Kompetenzmodelle unterzogen: Die Kritik zielt zum einen auf die Implementation des Verwertungsbezugs in das Konzept der Kompetenz und zum anderen auf die abstrakt-unbestimmte Qualität der Kategorie. Vermittlungsprobleme zwischen formaler und materialer Bildung werden des Weiteren herangezogen, um die Schwierigkeiten der kategorialen Fassung eines Kompetenzmodells begreiflich zu machen, in dem Gegenstandsbereiche im Zusammenhang subjektiver Auseinandersetzungsprozesse begrifflich vermessen werden sollen. Für Pongratz resultiert daraus der Anspruch eines aktuellen und kritischen Bildungsverständnisses, das sich mit seinen ambivalenten gesellschaftlichen Positionierungen auseinandersetzt.

In der das Kapitel abschließenden bildungstheoriegeschichtlichen Durchquerung der Moderne in Bildern (auf 13 Seiten) liefert der Autor einige Notizen zu einer bildungstheoretischen Verständigung, welche die Konsequenzen der gesellschaftlichen Transformationsprozesse für das sich bildende Subjekt beleuchtet.

Das Kapitel zu „Erziehung“ setzt ein mit der konfrontativen Entgegensetzung von „Schwarzer Pädagogik“ und „Antipädagogik“. Pongratz „Generalthese“ ist, dass die Antipädagogik sich als Symptom einer grundlegenden Krise des Erziehungsdenkens und Erziehungshandelns, nicht aber als deren Lösung, verstehen lasse (135). Im Rückgriff auf eine psychoanalytische Perspektive auf das Phänomen der „Autorität“ wird die Widersprüchlichkeit der Abhängigkeit im erzieherischen Verhältnis herausgestellt: „Autorität kann sich zwar – ebenso wie die Fixierung an die Mutter (oder an Mutter-Substitute) – destruktiv auf die Ich-Entwicklung des Kindes auswirken; andererseits kann (und sollte) sie jedoch eine produktive Rolle beim Versuch der Lösung des ödipalen Konfliktes spielen. In der Identifikation mit dem Gegner, in der Verinnerlichung seiner Herrschaft, wächst dem Individuum ein Differenzierungspotential zu, das es nach außen (als Kraft zum Widerstand – auch gegen geltende Autorität) umzusetzen vermag“ (163). Die Spur der Autorität wird im weiteren Verlauf im Zusammenhang kritisch-theoretischer Arbeiten fortgeführt: im Motiv der dialektischen Verwiesenheit von Naturbezwingung und Selbstunterwerfung der „Dialektik der Aufklärung“ und der gesellschaftstheoretischen und empirischen Rekonstruktion des „autoritären Charakters“.

Die letzten Teile des Kapitels legen den Wandel der Strafformen in der pädagogischen Praxis „vom Karzer bis zum Trainingsraum“ dar. Das Aufkommen disziplinarischer Praktiken und Maßnahmen der Selbstkontrolle werden hier ebenso diskutiert wie das Aufkommen der jüngsten Vereinbarungskultur.

Im Schlusskapitel „Hinterm Horizont geht’s weiter: Einsichten und Aussichten“ (5.) votiert Pongratz für eine kritische Revision des bisherigen Erziehungsverständnisses, das als zu individualistisch und mit Blick auf gesellschaftliche Hintergründe und Kontexte als zu kurzsichtig eingeschätzt wird. Am Ende des Buches stehen nicht ein erneuter Definitionsversuch, sondern der Anspruch der Kritik und die Forderung, sich (pädagogischer) Konzepte wiederholt kritisch zu versichern.

Das von Pongratz vorgelegte Buch „Sackgassen der Bildung“ ist ein gutes Einführungsbuch für Studierende der Erziehungswissenschaft, das die Leser und Leserinnen in eine reflexive Position bezogen auf pädagogisches Handeln und aber auch bezogen auf pädagogisches Nachdenken versetzt. Dass ein Einführungsbuch zum Nachdenken anregt, wird mittlerweile generell als „Positivum“ von Einführungsliteratur benannt. Eine solche zynische Qualifizierung ist hier nicht gemeint. Dieses Buch zeigt, dass Begriffe eine Geschichte haben bzw. geschichtlich sind und dass die kategoriale Fassung pädagogischer Begriffe weitreichende Konsequenzen dafür hat, was überhaupt als „pädagogisch“ wahrgenommen werden kann. Durch seine konkrete Bezugnahme auf bildungspolitische Programme und Praxismaterialen kann der Autor eine analytische Haltung bei den Lesern und Leserinnen provozieren: Diese werden ermutigt, Reflexivität als pädagogische Grundhaltung zu entwickeln.

Kritisch ist einzuschätzen, dass die erziehungs- und bildungstheoretische Situierung des Buches in ihren Bezügen nicht breit fundiert ist. Dass in der Bezugnahme auf die modernen Grundantinomien der Erziehung, bei der systematischen Aktualisierung des Verhältnisses von „Bildung“ und „Kritik“, aber auch bei enger gefassten Themen, wie z.B. der pädagogischen Vereinbarungskultur, einschlägige Publikationen nicht einmal auftauchen [2], ist unbefriedigend. Dies macht es Lesern und Leserinnen, die sich das Fach erschließen, kaum möglich, sich in den bestehenden Diskussionskontexten zu orientieren und ihre Erkenntnisse weiterzuentwickeln.

Der Umgang mit dem Stand der Diskussion erweist sich vor allem dort als Problem, wo es einer viel weiter gehenden Auseinandersetzung bedurft hätte, um die eigene Kritik zu lancieren. Dies zeigt sich beispielhaft an der Haltung gegenüber dem Kompetenzdiskurs; es werden weder einschlägige Studien zur Kompetenzdebatte aus der systematischen Pädagogik [3] noch aus dem Kontext der Kompetenzforschung [4] einbezogen. Wenn dann noch der Konstruktionscharakter von Kompetenz als Disposition kritisiert wird, diese kategoriale Struktur etwas später beim Konzept des „autoritären Charakters“ nicht einmal als Frage aufgenommen wird (dieses ist ebenfalls über „Disposition“ konstruiert), dann wird deutlich, dass die Thematisierung der epistemologischen und methodologischen Hintergründe nicht ausreichend ist. Konkret: Eine überzeugende Kritik von Kompetenz-Modellen bedarf einer vertieften Auseinandersetzung mit der erkenntnislogischen Operation der Modellbildung, der Verbindung von empirischen und systematisierenden Bestimmungspraxen und der fachbezogenen Ausdifferenzierung von Gegenstandsbereichen und Anforderungsprofilen. Vielleicht lässt sich dies in einem einführenden Lesebuch nicht leisten – aber zumindest darauf müsste man hinweisen.

So bleibt insgesamt ein ambivalenter Eindruck nach der Lektüre des Buches. Die sehr diskursive und systematisch weitsichtige Perspektivierung auf „Schule/Unterricht“, „Bildung“ und „Erziehung“ fördert eine kritische Haltung und selbständige Reflexion pädagogischer Praxen und Konzepte. Sie macht Kritik konkret. Zugleich fehlen den Ausführungen Breite und Tiefe in einer auch selbstkritischen Vergewisserung (Randbemerkung: Hätte man nicht auch – anstatt fast durchgängig Fallbeispiele aus den 1970ern aufzunehmen – Transkripte und Filmdokumente aus der jüngeren Zeit bringen können?). Die kritischen Verständigungen nehmen mitunter positionale, eingespielte Züge an. Wenn die Schwierigkeit wirklich darin besteht, dass sich angesichts gesellschaftlicher Widerspruchslagen die relevanten pädagogischen Gesichtspunkte und Argumente „nicht im Stil einer Finanzbuchhaltung säuberlich trennen lassen“ (94), so ist den Lesern und Leserinnen dieses anregenden Buches noch der Hinweis mitzugeben, dass es in der Fortführung der Lektüre und der Diskussion darauf ankommt, die eigenen Positionierungen in einem umstrittenen Terrain kritisch zu reflektieren.

[1] Ludwig Pongratz (1989): Pädagogik im Prozess der Moderne. Studien zur Sozial- und Theoriegeschichte der Moderne. Weinheim.

[2] Beispielhaft nenne ich hier: Michael Wimmer (2006): Dekonstruktion und Erziehung. Studien zum Paradoxieproblem in der Pädagogik. Bielefeld; Jenny Lüders (2007): Ambivalente Selbstpraktiken. Eine Foucault’sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs. Bielefeld; Agnieszka Dzierzbicka (2006): Vereinbaren statt anordnen. Neoliberale Gouvernementalität macht Schule. Wien.

[3] Auch hier müssen exemplarische Referenzen genügen: Johannes Bellmann (2007): Der Pragmatismus als Philosophie von PISA? Anmerkungen zur Plausibilität eines Deutungsmusters. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 11, Heft 3, 421-437; Malte Brinkmann (2009): Fit für PISA? – Bildungsstandards und performative Effekte im Testregime. Vorschläge zur theoretischen und pädagogischen Differenzierung von Bildungsforschung und Aufgabenkultur. In: J. Bilstein / J. Ecarius (Hrsg.): Standardisierung – Kanonisierung. Wiesbaden, 97-116; Krassimir Stojanov (2005): Bildung und Education. Implizite bildungsphilosophische Annahmen bei der PISA-Studie in vergleichender Perspektive. In: Tertium comparationis 11, 229-242.

[4] Vgl. z.B. Katharina Maag Merki (2004):Lernkompetenzen als Bildungsstandards – eine Diskussion der Umsetzungsmöglichkeiten. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 7, Nr. 4 , 537-550
Christiane Thompson (Halle/Saale)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christiane Thompson: Rezension von: Pongratz, Ludwig A.: Sackgassen der Bildung, Pädagogik anders denken. Paderborn: Schöningh 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.04.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978350676906.html