EWR 24 (2025), Nr. 2 (April)

Elizaveta Firsova-Eckert / Kai E. Schubert (Hrsg.)
Israelbezogener Antisemitismus, der Nahostkonflikt und Bildung
Analysen und didaktische Impulse
Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich 2024
(174 S.; ISBN 978-3-8474-3099-5; 46,00 EUR)
Israelbezogener Antisemitismus, der Nahostkonflikt und Bildung Die Herausgeber:innen des Bandes fassen den 7. Oktober 2023, den Tag des Überfalls der Hamas, als „historischen Einschnitt“ auf (7), durch den der Nahostkonflikt an Relevanz fĂŒr Bildungsinstitutionen gewonnen hat. Sie weisen auf das „MissverhĂ€ltnis“ (8) zwischen gesellschaftlicher Bedeutung und pĂ€dagogischer Bearbeitung hin. Die Konzeption des Bandes erfolgte allerdings vor diesem Zeitpunkt.

Insbesondere fĂŒr schulische ZusammenhĂ€nge gilt, dass eine genauere Auseinandersetzung mit den Erscheinungsformen von Antisemitismus lange zu kurz gekommen ist. DemgegenĂŒber bietet die außerschulische politische Bildung seit etwa zwanzig Jahren Konzepte fĂŒr die PĂ€dagogik gegen Antisemitismus. Diskutiert wird hier zugleich der „Wandel des bundesdeutschen staatlichen und gesellschaftlichen SelbstverstĂ€ndnisses als Migrationsgesellschaft“ (11).

Der Band ist in zwei Teile gegliedert. Unter „wissenschaftliche Perspektiven“ werden der Antisemitismusbegriff und die damit verbundenen Charakteristika des israelbezogenen Antisemitismus entfaltet. Unter „Praxisperspektiven“ werden Projekte aus der Jugendarbeit und dem Schulunterricht vorgestellt und eingeordnet.

FĂŒr den wissenschaftlichen Teil bietet das Interview mit dem Soziologen und Historiker Thomas Haury grundlegende Einsichten. Aus der zionistischen Besiedlung PalĂ€stinas entwickelte sich ein „nationaler Realkonflikt“ (23), der die Entgegensetzung von „palĂ€stinensischem Volk“ und Juden/JĂŒdinnen/Israel herstellte. Der Antisemitismus richtete sich zunĂ€chst gegen den Zionismus und nach der StaatsgrĂŒndung gegen Israel. Historisch und gegenwĂ€rtig ist Antisemitismus geprĂ€gt von einem positiven nationalen Selbstbild und durch ein „spiegelbildlich dazu entworfenes antijĂŒdisches Feindbild“ (25), demzufolge alles JĂŒdische böse sein muss.

Haury versteht israelbezogenen Antisemitismus nicht als eigenen Typus, sondern im klassischen, sekundĂ€ren, marxistisch-leninistischen wie islamistischen Antisemitismus „mit inbegriffen“ (29). Juden und JĂŒdinnen gelten in allen diesen Formen als antagonistische Feinde jeder IdentitĂ€t. Viele Elemente wie das Gut-Böse-Denken, TĂ€terprojektionen und ein diffuses GefĂŒhl von Überforderung angesichts der modernen komplexen Welt sind Bestandteile eines Alltagsdenkens, die nicht antisemitismusspezifisch sind, doch können sie fĂŒr antisemitische Artikulationen genutzt werden.

Zu Beginn ihrer AusfĂŒhrungen zur Verankerung der beiden Themenaspekte israelbezogener Antisemitismus und Nahostkonflikt in schulischen Curricula halten Kai E. Schubert und Christoph Wulf fest, dass aktuelle Abwertungen des Staates Israel „auf judenfeindlichen Motiven basieren“ (35), was die antisemitische Grundierung unterstreicht, wie sie von Haury erlĂ€utert worden ist. Das Thema ‚Nahostkonflikt‘ wurde als „zeitgeschichtliches Thema“ vorwiegend durch die Geschichtsdidaktik bearbeitet, und der Staat Israel galt in der frĂŒhen Bundesrepublik kaum als politischer Akteur, sondern vielmehr als ReprĂ€sentant des Judentums. Mit den 2000er Jahren Ă€ndert sich die pĂ€dagogische Sichtweise auf Antisemitismus, und es wurden vermehrt ZusammenhĂ€nge zum Nahostkonflikt angesprochen. Es wird deutlich, dass der RĂŒckgriff auf die „Holocaust-Education“ nicht geeignet ist, um aktuellen Formen des Antisemitismus entgegenzutreten.

Am Beispiel einer Fallanalyse geht Sebastian Salzmann auf den Schulunterricht ein, dem im Zuge der antisemitischen Artikulationen und VorfĂ€lle nach dem 7. Oktober 2023 immer wieder ein ‚Versagen‘ unterstellt worden ist. Er schildert einleitend, wie oft antisemitische Äußerungen im Alltag folgenlos bleiben und wie sich das auf das Sicherheitsempfinden von Juden und JĂŒdinnen in Deutschland auswirkt. Analysiert wird eine Unterrichtseinheit an einem Berufskolleg vom FrĂŒhjahr 2023 mit der Leitfrage, wie das Sprechen ĂŒber Antisemitismus zur Reproduktion desselben beitrĂ€gt. Die Einheit war Teil einer Unterrichtsreihe zum Thema ‚Rassismus‘, was sich als fatal erweist, da es immer wieder zu rassistischen Aussagen ĂŒber Juden und JĂŒdinnen kommt, die unwidersprochen bleiben. Weder ĂŒber Rassismus noch ĂŒber Antisemitismus wird hier aufgeklĂ€rt. Es kommt zu einem „Spiel mit Unklarheit, GerĂŒcht und Meinung“ (55), dem die Lehrkraft nichts entgegensetzt. Der Autor macht an den Sequenzen deutlich, wie kontraproduktiv Unterricht sein kann. Es folgen weitere Fallbeispiele und eine Darstellung zur Arbeit mit dem Film „Lemon Tree“ (2008) im Unterricht.

Den Wirkungen des deutsch-israelischen Jugendaustauschs widmet sich Elizaveta Firsova-Eckert und betont die unterschiedlichen Narrative und die MĂŒhen des Perspektivenwechsels. Anhand einer empirischen Studie von 2021 zeigt sie den „positiven Einfluss auf die Differenziertheit der Wahrnehmung des Nahostkonflikts“ (93) durch den Jugendaustausch, allerdings mit einem „stĂ€rkeren Einfluss auf das VerstĂ€ndnis der israelischen Seite“ (ebd.). Letzteres erfordert die StĂ€rkung trilateraler Konzepte, die palĂ€stinensische Perspektiven deutlicher berĂŒcksichtigen.

Praxisperspektiven, die im zweiten Teil des Bandes vorgestellt werden, sind teilweise schon im ersten Teil enthalten und werden nun anhand verschiedener Bildungsmaterialien und institutioneller Kontexte ausgefĂŒhrt. Die Trennung zwischen Wissenschaft und Praxis ĂŒberzeugt hier nur bedingt, zumal gleich im ersten Beitrag zu den „Israel-PalĂ€stina-Bildungsvideos“ der zugrunde liegende Antisemitismusbegriff ebenso deutlich wird wie die migrationspĂ€dagogischen Ausganspunkte. Beides ist wissenschaftlich fundiert. Die beim Jugendaustausch eingeforderten trilateralen Konzepte werden in dem Dreier-GesprĂ€ch zwischen Helen Sophia MĂŒller, Amina Nolte und Johanna Voß mit den Konfliktbeziehungen durch palĂ€stinensische, jĂŒdische und israelische Biografien eingebracht, ebenso der Anspruch an KontroversitĂ€t und Perspektivenwechsel, wobei Letzteres auf Grenzen stĂ¶ĂŸt, wenn Gewalt legitimiert wird. Die GesprĂ€chspartner:innen zeigen ein hohes Reflexionsniveau, insbesondere bei der BerĂŒcksichtigung möglicher Antisemitismus- und Rassismuserfahrungen ihrer Teilnehmer:innen.

Auf die in Wissenschaft und Bildungspraxis vernachlĂ€ssigte Beziehung von Antisemitismus- und Rassismuskritik geht Rosa Fava ein und reflektiert Situationen aus der Offenen Jugendarbeit im Kontext des Gaza-Konfliktes. Die Zielgruppen in den Jugendtreffs sind hĂ€ufig von Rassismus und schulischen Frustrationen betroffen und erleben sich kaum als zugehörig zur deutschen Gesellschaft. Deshalb besteht eine „oft antirassistisch begrĂŒndete große Identifikation mit PalĂ€stinenser*innnen in Nahost und palĂ€stinensisch-deutschen MitschĂŒler*innen“ (113). FachkrĂ€fte benötigen in dieser Situation sowohl Kenntnisse, um falschen Narrative ĂŒber den Nahostkonflikt entgegenzutreten als auch ein Bewusstsein fĂŒr die Deklassierung unterschiedlicher Gruppen palĂ€stinensischer Zugehörigkeit.

Als Bezugspunkt fĂŒr kollektive IdentitĂ€ten betrachtet Michael Sauer den Nahostkonflikt. Damit geht hĂ€ufig eine „Antiposition zur Erinnerungskultur der deutschen Mehrheitsgesellschaft“ (129) einher, weil die etablierten Formen des Erinnerns und Gedenkens an den Holocaust als Angelegenheit einer weißen deutschen Dominanzgesellschaft eingeordnet werden. Mit der Theorie des ‚Conceptual Change‘ plĂ€diert er fĂŒr sozial anschlussfĂ€hige Argumentationen gegen israelbezogenen Antisemitismus, die auch in der eigenen Community von Minderheiten mit Migrationsgeschichte vertreten werden können, ohne einen Ausschluss zu riskieren.
Weitere BeitrÀge beschÀftigen sich mit den Möglichkeiten der Thematisierung von israelbezogenem Antisemitismus an Haupt- und Werkrealschulen und mit der Bedeutung von social media.

Der Band bietet Grundlagen fĂŒr die Auseinandersetzung mit aktuellem Antisemitismus in Bildungskontexten und methodische Anregungen fĂŒr Unterricht und Bildungsarbeit. Die BeitrĂ€ge beziehen sich auf wesentliche Konfliktfelder in dem Themenfeld und bieten ZugĂ€nge fĂŒr eine gelingende Praxis ohne Simplifizierungen. Der Kontext der Migrationsgesellschaft bildet den anerkannten Rahmen und wird mehrfach explizit zum Thema, wenn es um Diskriminierungserfahrungen und Zugehörigkeiten geht. Angesichts dieser sehr zu begrĂŒĂŸenden Kontextualisierung hĂ€tte das VerhĂ€ltnis von Rassismus und Antisemitismus expliziter und in mehreren der BeitrĂ€ge vertieft werden können. Schließlich betrifft dieses sowohl den Nahostkonflikt selbst wie dessen Vermittlung.

Empfehlenswert sind die BeitrĂ€ge sowohl fĂŒr LehrkrĂ€fte an Schulen als auch fĂŒr Vermittler:innen in außerschulischer Bildungsarbeit. Die didaktischen Impulse bieten ĂŒber die Anregungen fĂŒr die Bildungspraxis hinaus Einblicke in gesellschaftlich etablierte Denkmuster und in die Grenzen der PĂ€dagogik. Sie fĂŒhren zudem die erziehungs- und sozialwissenschaftliche Debatte um aktuelle Formen des Antisemitismus und um dessen BekĂ€mpfung weiter.
Astrid Messerschmidt (Wuppertal)
Zur Zitierweise der Rezension:
Astrid Messerschmidt: Rezension von: Firsova-Eckert, Elizaveta / Schubert, Kai E. (Hg.): Israelbezogener Antisemitismus, der Nahostkonflikt und Bildung, Analysen und didaktische Impulse. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich 2024. In: EWR 24 (2025), Nr. 2 (Veröffentlicht am 29.04.2025), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978384743099.html