EWR 3 (2004), Nr. 1 (Januar/Februar 2004)

Klaus-Peter Horn
Erziehungswissenschaft im 20. Jahrhundert
Zur Entwicklung der sozialen und fachlichen Struktur der Disziplin von der Erstinstitutionalisierung bis zur Expansion
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2003
(415 Seiten; ISBN 3-7815-1271-1; 34,00 EUR)
Erziehungswissenschaft im 20. Jahrhundert Die im Jahr 2002 an der Humboldt-Universität zu Berlin angenommene und für den Druck nur geringfügig überarbeitete Habilitationsschrift Klaus-Peter Horns liefert erstmalig eine vollständige Übersicht über die Disziplinentwicklung an Universitäten, Technischen Hochschulen und Wirtschaftshochschulen zwischen 1919, der "Erstinstitutionalisierung" der Erziehungswissenschaft, und 1965 als dem Beginn der dann folgenden Expansionsphase des Faches.

Anders als bereits vorliegende diskurs- oder theorieorientierte Darstellungen zielt Horn auf die umfassende Analyse kollektivbiografischer Daten, die von der Zuordnung des erziehungswissenschaftlichen Personals zu den einzelnen Hochschulstandorten ausgehen.

Hintergrund und zugleich Kontext dieses Zugangs sind die überaus ertragreichen, kontinuierlichen und systematischen Bemühungen zum Auf- und Ausbau einer nicht allein diskursorientierten, sondern auch empirisch-quantifizierenden Geschichte der Erziehungswissenschaft, zu denen in den letzten Jahrzehnten vor allem die durch größere Drittmittelprojekte geförderten Untersuchungen von Heinz-Elmar Tenorth bzw. die in seinem Umfeld entstandenen Arbeiten ganz erheblich beigetragen haben. Klaus-Peter Horn, der diesem Forschungszusammenhang mit verschiedenen Untersuchungen u.a. zur NS-Pädagogik zuzurechnen ist, verweist hier zu Recht auf die mittlerweile beachtliche Zahl wissenschaftsgeschichtlicher Einzeluntersuchungen, denen gegenüber nach wie vor eine "Gesamtdarstellung der Disziplin Erziehungswissenschaft" fehlt, die die institutionellen und personellen Entwicklungen jenseits der ‚Heroen’ des Faches darstellt und analysiert." (12)

Wenn die nun geleistete "Kärrnerarbeit" (Tenorth 9) in bewusster Vermeidung irritierender Bezüge auf Theorien und "’Strömungen’" des pädagogischen Denkens die ganze Breite der Disziplinentwicklung dokumentiert und auch weniger bekannte, durch hagiografische Tendenzen der pädagogischen Historiografie in Vergessenheit geratene Erziehungswissenschaftler in Erinnerung bringt, sollte die auf diese Weise entstandene Fülle der in unterschiedlichen Richtungen weiter auszuwertenden Daten nicht vorschnell zur Kritik der Untersuchung herangezogen werden. Zu Recht wird im Vorwort auf die notwendige Mehrschrittigkeit bei der Bearbeitung großer Datensätze verwiesen: "Wer viel bekommt, der wünscht sich selbstverständlich sogleich mehr ... . Das kann freilich nicht in einem Schritt und von einem Autor allein erledigt werden." (Tenorth 9)

Was der Leser bekommt, erschließt sich rasch aufgrund einer sehr transparenten Gliederung. Die Analyse des erziehungswissenschaftlichen Personals und seiner institutionellen Einbettung folgt nach einer einleitenden Darstellung (S. 11-20) in den Kapiteln zwei bis vier einer chronologischen Gliederung. Unterschieden werden dabei – entlang der historischen Zäsuren der deutschen Geschichte – die Zeiträume 1919-1945 (S. 21-90) und 1945-1965, wobei hier wiederum die Entwicklungen in der DDR (S. 91-122) und in der Bundesrepublik Deutschland (S. 123-167) gesondert betrachtet werden. Wichtige wissenschaftspolitische Eingriffe, historisch beispielsweise das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums oder – in der jüngeren Zeit – die Empfehlungen des Wissenschaftsrates zum Ausbau der wissenschaftlichen Einrichtungen und die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) werden berücksichtigt. Der "Gesamtüberblick" endet am "Vorabend der Expansion" des Faches (18). Die hochschulstandortbezogene Analyse des Personals wird jeweils ergänzt durch eine – sehr aufschlussreiche – sich vor allem auf die fachliche Herkunft und die Qualifizierungswege des Personals konzentrierende systematische Darstellung. Kapitel fünf bietet eine Zusammenfassung wichtiger Ergebnisse (S. 168-171). Leider lässt die diskurs- und theoriebezogene Abstinenz des Zugangs hier lediglich eine eher holzschnittartige Darstellung zu. Der umfangreiche Anhang enthält eine "Übersicht über die Professoren der Erziehungswissenschaft in den einzelnen Zeiträumen" (S. 172-176) sowie ausführliche "Biografische Daten der Hochschullehrer der Erziehungswissenschaft an den deutschen Hochschulen 1919 bis 1965" (S. 177-379).

Damit liefert die Analyse in der Tat eine beachtenswerte Erweiterung zu den schon vorliegenden wissenschaftsgeschichtlichen Einzeluntersuchungen. Ihre Besonderheit besteht zweifelsohne in dem Umfang und der Differenziertheit des hier zusammengestellten Datenmaterials. FĂĽr die AuĂźendarstellung eines gelegentlich als "weich" angesehenen Faches dĂĽrfte die Arbeit als ebenso positiv gesehen werden wie auch durch ihren fachspezifischen und fachĂĽbergreifenden Nutzen als Nachschlagewerk.

Zudem dürften die Leser gespannt sein, ob diesem Werk "die nächsten Schritte" folgen. Denn: Bislang präsentieren sich die in dieser Untersuchung enthaltenen, durchgängig interessanten, zum Teil sogar brisanten Ergebnisse noch zu versteckt. So könnte der diskursive Anschluss an bereits vorliegende Forschungsthesen und -ergebnisse (etwa zur Zyklizität von Normalisierung und Sonderweg, zur eigendisziplinären Schließung im internationalen Vergleich etc.) noch deutlicher und offensiver vollzogen werden. Das betrifft den hier herausgearbeiteten Vergleich von fachlicher Binnendifferenzierung der Erziehungswissenschaft in der DDR vs. fachlicher Autonomisierung in der Bundesrepublik Deutschland ebenso wie die hier geleistete Überprüfung (und weitgehende Bestätigung) der Diskontinuitätsthese zum Nationalsozialismus. Insbesondere aber wäre die in der vorliegenden Untersuchung lediglich angedeutete These von der "verspäteten" Dominanz der geisteswissenschaftlichen Pädagogik nach dem Zweiten Weltkrieg (vgl. 163) gegenüber einer – anhand von Promotionsarbeiten festgestellten – "Dominanz der psychologisch orientierten Befassung mit pädagogischen Fragen" im Zeitraum 1919 bis 1945 (85) stärker herauszustellen.

Darüber hinaus richten sich die unbescheidenen Wünschen darauf, die Arbeit in den Dokumentationsteilen netzzugänglich zu machen und – hochschulstandortbezogen – mit weiteren Querverweisen, evtl. sogar Hyperlinks, auf die vorhandenen theorie- und diskursgeschichtlichen bzw. lokalgeschichtlichen Analysen aus der pädagogischen Wissenschaftsgeschichte zu versehen.
Annette M. StroĂź (Vechta)
Zur Zitierweise der Rezension:
Annette M. StroĂź: Rezension von: Horn, Klaus-Peter: Erziehungswissenschaft im 20. Jahrhundert, Zur Entwicklung der sozialen und fachlichen Struktur der Disziplin von der Erstinstitutionalisierung bis zur Expansion, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 1 (Veröffentlicht am 05.02.2004), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/78151271.html